Überfällige ReformFür die Pressefreiheit muss sich das Strafrecht ändern

Die Bundesregierung hat angekündigt, überholte Straftatbestände abzuschaffen. Es ist die Chance, endlich einen überholten Paragrafen aus dem Gesetzbuch zu streichen, der journalistische Arbeit kriminalisiert.

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Wer in Deutschland über laufende Strafverfahren berichtet, setzt sich der Gefahr aus, selbst zum Ziel der Strafverfolgungsbehörden zu werden – zumindest wenn man detailliert, faktenbasiert und nachvollziehbar arbeitet. Denn wer wörtlich aus amtlichen Dokumenten zu laufenden Verfahren zitiert, macht sich in vielen Fällen strafbar. Aktuell ist dies im Paragrafen 353d des Strafgesetzbuchs geregelt. Demnach wird mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer die Anklageschrift oder andere Dokumente eines Verfahrens, wie etwa Durchsuchungsbeschlüsse „ganz oder in wesentlichen Teilen“ im Wortlaut öffentlich macht, bevor die Hauptverhandlung eröffnet oder das Verfahren abgeschlossen wurde. Eine Ausnahmeregelung für Pressevertreter*innen gibt es im Gesetz nicht.

Die Folge für den Journalismus: Auch wenn Medien die entsprechenden Unterlagen vorliegen, berichten sie nur vage über deren Inhalt, kürzen, fassen zusammen oder paraphrasieren, um sich nicht strafbar zu machen. Doch für eine detaillierte Berichterstattung sind direkte Zitate – bis hin zur Veröffentlichung ganzer Dokumente – von entscheidender Bedeutung. Sie machen die Berichterstattung transparent und nachvollziehbar.

Zitierverbot erschwert Berichterstattung

Welche Folgen das Gesetz für eine umfassende und transparente Berichterstattung hat, zeigte FragDenStaat-Chefredakteur Arne Semsrott im Herbst 2023 auf. Er veröffentlichte mehrere Durchsuchungsbeschlüsse gegen Mitglieder der „Letzten Generation”. Damit machte er nachvollziehbar, wie ein Gericht einen der öffentlichkeitswirksamsten Vorgänge des Jahres begründete.  Deshalb ermittelt nun die Berliner Staatsanwaltschaft gegen ihn

Bereits 2011 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte: Es verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, wenn Journalist*innen für die Veröffentlichung von Dokumenten ohne eine vorherige Abwägung mit der Pressefreiheit verurteilt werden. Auch der Bundesgerichtshof stellte im Mai 2023 fest, dass Teile des Paragrafen 353d in Konflikt mit dem Grundgesetz geraten können. Deshalb möchten wir das Strafverfahren gegen Arne Semsrott nun nutzen, um dieses fragwürdige Gesetz überprüfen zu lassen – und das nötigenfalls auch vor dem Bundesverfassungsgericht.

Medienverbände fordern Gesetzesänderung

Zugleich könnte die Bundesregierung aktuell sowohl die Pressefreiheit stärken, als auch ein  Versprechen einlösen. Bundesjustizminister Marco Buschmann hatte angekündigt, das deutsche Strafrecht „auf die Höhe der Zeit zu bringen”. Nicht mehr zeitgemäße Straftatbestände sollen demnach ersatzlos gestrichen werden. Das Verbot der Veröffentlichung von Gerichtsdokumenten sollte eindeutig dazu gehören.

Gemeinsam mit zahlreichen Medienverbänden fordern wir daher die Bundesregierung auf: Weg mit Paragraf 353d Nr. 3! 

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Strafrechtsreform zur Abschaffung von 8 353d Nr. 3 StGB
nutzen

Gemeinsame Stellungnahme der Organisationen:

e Open Knowledge Foundation Deutschland e.V.

e [Netzwerk Recherche e.V.

e Deutscher Journalisten-Verband

e Deutsche Journalistinnen- und Jourmalisten-Union (dju in ver.di)
. Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V.

e Reporterohne Grenzen e.V.

e Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.

Der Koalitionsvertrag der Regierungsparteien enthält den Auftrag, das
Strafgesetzbuch systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und
Wertungswidersprüche zu überprüfen. Dabei soll ein Fokus auf historisch überholten
Straftatbeständen, der Modernisierung des Strafrechts und der schnellen Entlastung
der Justiz liegen.' Das Bundesministerium der Justiz hat kürzlich Eckpunkte für die
anstehende Reform vorgelegt.? Jedenfalls an einer Stelle enthält der Vorschlag aus
Sicht der Unterzeichnenden eine erhebliche Lücke: Der Gesetzgeber sollte die Reform
zur Abschaffung von $ 353d Nr. 3 StGB nutzen, jedenfalls aber den Straftatbestand
an die zwingenden Vorgaben des Grundgesetzes und der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) anpassen und eine Ausnahme für
Medienschaffende vorsehen. Die Norm richtet sich nach ihrer Entstehungsgeschichte
in erster Linie gegen die Presse, wird schon seit langem kritisiert und aktuell im
Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Gerichtsbeschlüssen zur Letzten
Generation diskutiert.”

Nach $ 353d Nr. 3 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe
bestraft, wer den Wortlaut der Anklageschrift oder anderer amtlicher Dokumente eines
Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens ganz oder
in wesentlichen Teilen öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert
worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist. Die Norm soll Verfahrensbeteiligte
(Laienrichter und Zeugen) davor schützen, durch die vorzeitige Veröffentlichung
amtlicher Schriftstücke in ihrer Unbefangenheit beeinträchtigt zu werden, sowie die
Persönlichkeitsrechte der vom Verfahren Betroffenen wahren.* Eine Feststellung, ob
diese Schutzgüter im Einzelfall überhaupt betroffen sind, oder eine Abwägung, etwa
mit dem für die Medien streitenden öffentlichen Interesse an der Veröffentlichung,
sieht sie nicht vor.

1 Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen SPD, BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und FDP, S. 106.

2 Bundesministerium der Justiz (BMJ), Eckpunkte zur Modernisierung des Strafgesetzbuchs,
November 2023, abrufbar unter

https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/2023_ Modernisierung _Strafgesetzbuc
h.html.

3 Siehe nur Süddeutsche Zeitung, Verklagt vom Staat, 4. Dezember 2023, abrufbar unter
https://www.sueddeutsche.de/medien/fragdenstaat-353d-bundesverfassungsgericht-1.6313936; Legal
Tribune Online, 25. August 2023, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/353d-stab-
reform-noetig-bgh-urteil-zitieren-urteil-presse/.

4 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27.06.2014 - 2 BvR 429/12, Rn. 25-27.
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8 353d Nr. 3 StGB greift damit in die Pressefreiheit ein. Das strikte
Veröffentlichungsverbot unter Androhung einer Freiheitsstrafe entfaltet eine
erhebliche Abschreckungswirkung für die Presseberichterstattung, verstärkt durch
den unklaren Anwendungsbereich der Norm. Was „amtliche Dokumente“ sind,® ist
ebenso umstritten wie die Fragen, wann ein Verfahren abgeschlossen? istoder eine
Veröffentlichung in „wesentlichen Teilen“ erfolgt.” Das Veröffentlichungsverbot kann
demgegenüber seinen Schutzzweck kaum erreichen. Die Norm verbietet allein die
Wiedergabe im Wortlaut, die sinngemäße Wiedergabe ist Medien hingegen gestattet.®
Gerade die wortlautgetreue Veröffentlichung gewährleistet in Fällen von großem
öffentlichen Interesse die sachliche und faktenbasierte Auseinandersetzung mit den
Akteninhalten. Darüber hinaus gehört es gerade zum Kern journalistischer
Sorgfaltspflichten, die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen zu schützen und eine
Abwägung im Einzelfall zu treffen, ob und unter welchen Umständen die
Veröffentlichung gerechtfertigt ist, etwa durch umfangreiche Anonymisierungen.
Diese über zivilrechtliche Ansprüche abgesicherte Pflicht besteht unabhängig von der
Strafbarkeit nach $ 353d Nr. 3 StGB. Eine Schutzlücke droht daher nicht.

Dementsprechend forderten bereits vor mehr als zehn Jahren Medienverbände°
sowie die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen!’ und der FDP!! die Abschaffung
der Norm. Die Einschätzung der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, wonach die Norm korrekte Berichterstattung
kriminalisiere und es zugleich höchst fraglich sei, ob sie das Ziel des Gesetzgebers
erreichen könne,'? trifft weiter zu. Zwischenzeitlich hat zudem der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mehrfach entschieden, dass eine
Verurteilung von Medienangehörigen wegen der Veröffentlichung von Dokumenten
aus Strafverfahren gegen die EMRK verstößt, wenn die Gerichte zuvor keine
Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung oder der Unschuldsvermutung festgestellt
und mit den Rechten der Presse abgewogen haben."? Auch der Bundesgerichtshof
äußerte kürzlich Zweifel, ob die Norm verfassungs- und konventionsmäßig ist.'*

In der Gesamtschau ist jedenfalls die Anpassung von $ 353d Nr. 3 StGB an die
Gewährleistungen der Pressefreiheit nicht nur rechtspolitisch geboten, sondern auch
verfassungsrechtlich zwingend.

5 Dazu zuletzt BGH, Urteil vom 16. Mai 2023, Az. VI ZR 116/22.

$ Vgl. LG Hamburg, Beschluss vom 2. September 2013 - 629 Qs 34/13: „um die Bestimmtheit der
Vorschrift [...] dürfte es schlechter denn je stehen.“

7 Siehe zu Unterschieden in der Rechtsprechung etwa Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil
vom 20. Juli 2016 — (1) 53 Ss 3/16 (18/16) und LG Amberg, Beschluss vom 9. Februar 2015 - 11 Qs
5/15.

8 BVerfG, Urteil vom 3. Dezember 1985 - 1 BvL 15/84, Rn. 25.

9 ARD, BDZV, DJV, Deutscher Presserat, VDZ, Ver.di, VPRT und ZDF, Gemeinsame Stellungnahme
vom 9. Juni 2010, Seite 9, abrufbar unter

https /Awww.djv.deffilleadmin/user_upload/INFOS/Themen/Medienpolitik/Presserecht/Quellenschutz/Pr
StG-E-21-06-10. pdf.

10 Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit in Straf- und
Strafprozessrecht, BT-Drs. 16/576.

11 Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit, BT-Drs. 16/956.

12 Leutheusser-Schnarrenberger, Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2007, 249 (251).

13 EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011, Pinto Coelho v. Portugal — 28439/08.

14 BGH, Urteil vom 16. Mai 2023, Az. VIZR 116/22, Rn. 18.
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Kontakte:

Deutscher Journalisten-Verband
Christoph Brill: brill@djv.de

Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V.
Benjamin Lück: benjamin.lueck@freiheitsrechte.org

Reporter ohne Grenzen e.V.
Nicola Bier: nicola.bier@reporter-ohne-grenzen.de

Open Knowledge Foundation Deutschland e.V.
Hannah Vos: hannah.vos@okfn.de

Netzwerk Recherche e.V.
Dr. Thomas Schnedler: schnedler@netzwerkrecherche.de

Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
Dr. Lukas Theune: kontakt@rav.de

Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju in ver.di)
Matthias von Fintel: matthias.vonfintel@®verdi.de
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