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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Abitur-Aufgaben im Fach Latein im Jahr 2017 in Hamburg“
Diese Anfrage wurde als Teil der Kampagne „Frag sie Abi!“ gestellt.
Freie und Hansestadt Hamburg Behörde für Schule und Berufsbildung /________________ Kurs-Nr. / Name Schriftliche Abiturprüfung Schuljahr 2013/2014 Politik/ Gesellschaft/ Wirtschaft auf grundlegendem Anforderungsniveau an allgemeinbildenden und beruflichen gymnasialen Oberstufen 24. April 2014, 9.00 Uhr Unterlagen für die Prüflinge Allgemeine Arbeitshinweise Die Arbeitszeit beträgt 240 Minuten. Eine Lese- und Auswahlzeit von 30 Minuten ist der Arbeitszeit vorgeschaltet. In dieser Zeit darf noch nicht mit der Bearbeitung begonnen werden. Erlaubte Hilfsmittel: Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Rechtschreibwörterbuch, Fremdwörterlexikon Aufgabenauswahl Sie erhalten drei Aufgaben (I, II und III) zu unterschiedlichen Schwerpunkten. Überprüfen Sie anhand der Seitenzahlen, ob Sie alle Unterlagen vollständig erhalten haben. Wählen Sie eine Aufgabe aus und bearbeiten Sie diese. Vermerken Sie auf der Reinschrift, welche Aufgabe (I, II oder III) Sie bearbeitet haben. PGW1-gA-AB Seite 1 von 11
Freie und Hansestadt Hamburg allgemeinbildende und Behörde für Schule und Berufsbildung berufliche gymnasiale Abitur 2014 Oberstufen PGW auf grundlegendem Anforderungsniveau Aufgabe I Aufgabe I Politik und politischer Prozess in der aktuellen Energiepolitik Aufgabe 1: Fassen Sie die Kernaussagen der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zur Energiewende in Deutschland (M 1) zusammen. (30%) Aufgabe 2: Erläutern Sie die bisherige Energiepolitik der Bundesregierung im politischen Gesamtkontext mittels eines Politikzyklus. (40%) Aufgabe 3: Bewerten Sie die Regierungserklärung von Merkel, indem Sie einen Kommentar zu dieser Rede schreiben. (30%) PGW1-gA-AB Seite 2 von 11
Freie und Hansestadt Hamburg allgemeinbildende und Behörde für Schule und Berufsbildung berufliche gymnasiale Abitur 2014 Oberstufen PGW auf grundlegendem Anforderungsniveau Aufgabe I M 1: Angela Merkel Auszüge aus der Regierungserklärung vom 9. Juni 2011 Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor 90 Tagen wurde der Nordosten Japans vom schwersten Erdbeben in der Geschichte des Landes heimgesucht. Anschließend traf eine bis zu zehn Meter hohe Flutwelle seine Ostküste. Danach fiel in einem Reaktor des Kernkraftwerkes Fukushima I die Kühlung aus. […] Heute, 90 Tage nach jenem 5 furchtbaren 11. März, wissen wir: In drei Reaktorblöcken des Kernkraftwerkes sind die Kerne geschmolzen. Noch immer steigt radioaktiver Dampf in die Atmosphäre. Die weiträumige Evakuierungszone wird noch lange bestehen bleiben. […] Erst letzte Woche herrschte in Block eins die bisher höchste Strahlenbelastung. […] Ohne Zweifel, die dramatischen Ereignisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt. Sie waren ein 10 Einschnitt auch für mich ganz persönlich. […] In Fukushima haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können. Wer das erkennt, muss die notwendigen Konsequenzen ziehen. Wer das erkennt, muss eine neue Bewertung vornehmen. Deshalb sage ich für mich: Ich habe eine neue Bewertung vorgenommen; denn 15 das Restrisiko der Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist, dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. […] Das Restrisiko der Kernenergie habe ich vor Fukushima akzeptiert, weil ich überzeugt war, dass es in einem Hochtechnologieland mit hohen Sicherheitsstandards nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Jetzt ist es eingetreten. […] Es geht um die Verlässlichkeit von Risikoannahmen und um die Verlässlichkeit von 20 Wahrscheinlichkeitsanalysen. Denn diese Analysen bilden die Grundlage, auf der die Politik Entscheidungen treffen muss, Entscheidungen für eine zuverlässige, bezahlbare, umweltverträgliche, also sichere Energieversorgung in Deutschland. […] [Genauso] unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert. […] Erstens. Das Atomgesetz wird novelliert. Damit wird bis 2022 die Nutzung der Kernenergie in 25 Deutschland beendet. Die während des dreimonatigen Moratoriums abgeschalteten sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke und das seit längerem stillstehende Kraftwerk Krümmel werden nicht wieder ans Netz gehen. […] Zweitens. Bis Ende dieses Jahres werden wir einen gesetzlichen Vorschlag für die Regelung der Endlagerung vorlegen. Das schließt die ergebnisoffene Weitererkundung Gorlebens ebenso ein wie ein 30 Verfahren zur Ermittlung allgemeiner geologischer Eignungskriterien und möglicher alternativer Entsorgungsoptionen. Drittens. Damit die Versorgungssicherheit, insbesondere die Stabilität der Stromnetze, in der jetzt anstehenden Zeit unmittelbar nach der Stilllegung von acht Kernkraftwerken zu jeder Minute und zu jeder Sekunde gewährleistet ist, müssen wir ausreichend fossile Reservekapazitäten unseres 35 Kraftwerkparks vorhalten. […] Es ist nach derzeitiger Einschätzung der Bundesnetzagentur notwendig, eine Reserve bis zum Frühjahr 2013 vorzuhalten. Viertens. Zentrale Säule der zukünftigen Energieversorgung sollen die erneuerbaren Energien werden. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen. Mit dem Energiekonzept vom Herbst 2010 hat die Bundesregierung dazu die Richtung festgelegt und ehrgeizige Ziele formuliert. Der Anteil 40 der erneuerbaren Energien am Energieverbrauch soll bis 2050 auf 60 Prozent, ihr Anteil am Stromverbrauch auf 80 Prozent anwachsen. 2020 sollen mindestens 35 Prozent unseres Stroms aus Wind, Sonne, Wasser und anderen regenerativen Energiequellen erzeugt werden. Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen um 40 Prozent und bis 2050 um mindestens 80 Prozent gegenüber 1990 PGW1-gA-AB Seite 3 von 11
Freie und Hansestadt Hamburg allgemeinbildende und Behörde für Schule und Berufsbildung berufliche gymnasiale Abitur 2014 Oberstufen PGW auf grundlegendem Anforderungsniveau Aufgabe I reduziert werden. Bis 2050 soll unser Primärenergieverbrauch um 50 Prozent gegenüber 2008 sinken. 45 Das heißt, wir müssen ihn halbieren. […] [Doch] die Leistungsfähigkeit unserer Industrie in Deutschland ist ein hohes Gut. Sie muss bewahrt, sie muss ausgebaut werden; denn ihr verdanken wir unseren Wohlstand. Deshalb steigen wir nicht einfach aus der Kernkraft aus, sondern wir schaffen die Voraussetzungen für die Energieversorgung von morgen. […] Weil wir wissen: „Wer A sagt, muss auch B sagen“, wissen wir auch, dass das eine, 50 nämlich der Ausstieg, ohne das andere, nämlich den Umstieg, nicht zu haben ist. Das ist es, worum es geht. Es führt daher kein Weg daran vorbei, die Stromnetze in ganz Deutschland zu modernisieren und auszubauen. Der erforderliche Leitungsausbau bei den Stromübertragungsnetzen in Deutschland liegt bei weit mehr als 800 Kilometern. Fertiggestellt sind bislang aber nur weniger als 100 Kilometer, weil geplante Stromleitungen noch immer auf Widerstände vor Ort stoßen. Planungsverfahren dauern – das 55 ist eigentlich die Regel – häufig länger als zehn Jahre. Das ist nicht akzeptabel. Hier müssen wir eine erhebliche Beschleunigung und gleichzeitig mehr Akzeptanz erreichen. Es kann nicht angehen, auf der einen Seite den Ausstieg aus der Kernenergie gar nicht schnell genug bekommen zu wollen, auf der anderen Seite aber eine Protestaktion nach der anderen gegen den Netzausbau zu starten, ohne den der Umstieg in die erneuerbaren Energien aber schlichtweg nicht 60 funktionieren wird. Genau dieser Kreislauf – hier dagegen und dort dagegen – muss durchbrochen werden. […] Ich sagte es: Wer A sagt, muss auch B sagen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Das gilt für den Ausbau der Netze, und das gilt gleichermaßen für die erforderlichen neuen Stromerzeugungskapazitäten, […]. Leitlinie dabei sind Kosteneffizienz und zunehmende Marktorientierung. […] 65 Unsere Wirtschaft und vor allem die energieintensive Industrie sind in besonderer Weise darauf angewiesen, Strom zuverlässig und zu wettbewerbsfähigen Preisen beziehen zu können. Die rund eine Million Beschäftigten in der energieintensiven Industrie leisten einen zentralen Beitrag für die Wertschöpfung in unserem Land. Unsere Devise heißt: Die Unternehmen genauso wie die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland 70 müssen auch in Zukunft mit bezahlbarem Strom versorgt werden. Deshalb wollen wir die erneuerbaren Energien schneller zur Marktreife führen und effizienter gestalten. […] [Die] vier Punkte […] zeigen schon die Größe der Aufgabe, die vor uns steht. Ich sage ganz deutlich: Es handelt sich um eine Herkulesaufgabe – ohne Wenn und Aber. Alle, die zweifeln, wie wir als großes Industrieland in zehn Jahren ohne Kernenergie auskommen wollen, ohne gleichzeitig die 75 Klimaschutzziele zu riskieren, ohne Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie zu gefährden, ohne das Steigen der Strompreise in das sozial nicht mehr Erträgliche in Kauf zu nehmen, ohne gefährliche Stromausfälle zu provozieren, ohne dass andere Länder um uns herum denselben Weg einschlagen, alle, die solche Fragen stellen, sind keine Ideologen, keine Ewiggestrigen, keine Spinner, denn sie stellen wichtige Fragen. […] 80 Deshalb ist ein fünfter Punkt zwingend und unerlässlich: die Einrichtung eines lückenlosen Monitoringprozesses. Nur so können wir prüfen, ob wir unsere Ziele auf dem Weg zur Energie der Zukunft tatsächlich erreichen oder was wir zusätzlich tun müssen, wenn wir sie zu verfehlen drohen. […] Textgrundlage: Regierungserklärung „Der Weg zur Energie der Zukunft“ der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) vom 9. Juni 2011 im Deutschen Bundestag, Wortlaut unter URL: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Regierungserklaerung/2011/2011-06-09-merkel-energie- zukunft.html?nn=430036 [15.09.12], (Mitschrift), abgerufen am 09.06.2011 PGW1-gA-AB Seite 4 von 11
Freie und Hansestadt Hamburg allgemeinbildende und Behörde für Schule und Berufsbildung berufliche gymnasiale Abitur 2014 Oberstufen PGW auf grundlegendem Anforderungsniveau Aufgabe II Aufgabe II Politik und politischer Prozess in der aktuellen Energiepolitik Aufgabe 1: Fassen Sie die Aussagen der beiden Texte „Keine Tabus bei der Endlagersuche“ (M 1) und „Die Schweiz – ein Demokratie-Vorbild für Europa?“ (M 2) zusammen. (30%) Aufgabe 2: Vergleichen Sie die beiden demokratischen Systeme der Schweiz und Deutschlands. Greifen Sie hierbei auf demokratietheoretisches und historisches Wissen zurück. Erläutern Sie Ihre Aussagen anhand von Beispielen aus der Energiepolitik. (35%) Aufgabe 3: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann fordert für eine größtmögliche Legitimation in der Endlagersuche eine Volksabstimmung (M1). Erörtern Sie die möglichen Auswirkungen einer Volksabstimmung auf die Endlagersuche. (35%) PGW1-gA-AB Seite 5 von 11
Freie und Hansestadt Hamburg allgemeinbildende und Behörde für Schule und Berufsbildung berufliche gymnasiale Abitur 2014 Oberstufen PGW auf grundlegendem Anforderungsniveau Aufgabe II M1: „Keine Tabus bei Endlagersuche“ Bund und Länder wollen bei der Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Atommüll Alternativen zum Salzstock Gorleben prüfen. Das machte Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) nach einem Treffen mit Vertretern der 16 Bundesländer deutlich. […] Röttgen sagte: „Es gibt eine weiße Landkarte - kein Tabu.“ Es gehe darum, den sichersten Standort für 5 ein Endlager zu finden. […] Für den angestrebten nationalen Konsens soll bis zum Sommer 2012 ein Gesetz für die Suche nach einem Atommüll-Endlager vorlegen. Das Gesetz soll Kriterien wie die geeigneten Gesteinsschichten oder die Frage einer Rückholbarkeit des Mülls festlegen. Röttgen sprach von einer großen Chance, die Energiefrage nun einschließlich des Problems der nuklearen Entsorgung im Einklang zu lösen. „Das gehört zu den Fragen, die entweder im Konsens 10 gelöst werden oder ungelöst bleiben.“ Der Atommüll werde nicht ins Ausland gebracht und das Problem nicht auf die nächste Generation verschoben. Er verspreche ein transparentes Verfahren bei der Endlagersuche einschließlich einer Bürgerbeteiligung von Anfang an. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) spricht sich zur größtmöglichen Legitimation für ein Atommüll-Endlager für eine Volksabstimmung aus. „Wenn es 15 ein nationaler Konsens ist, den wir da treffen, dann könnten wir auch nur national darüber abstimmen“, sagte Kretschmann, der aber zugleich einschränkte: „Im Grundgesetz sind solche Abstimmungen bisher überhaupt nicht vorgesehen.“ Das gesamte Verfahren müsse transparent für die Bürger sein. Die Schweiz stimmt etwa 2020 über das Endlager für hochradioaktiven Müll ab. „Salzstöcke grundsätzlich geeignet“ 20 Kretschmann sagte, bei der bundesweiten Prüfung von Alternativstandorten bleibe auch Gorleben im Spiel, „weil wir Salzstöcke grundsätzlich für geeignet halten“. Man dürfe keine Option von vornherein ausschließen. […] Auch Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) unterstützt den „neuen Anlauf“ für die Standortsuche. Bislang hätten Gorleben und Niedersachsen allein die Last der Suche tragen 25 müssen. Dies werde sich nun ändern. „Es wird ein Prozess in Gang gesetzt, um einen bundesweiten, parteiübergreifenden Konsens zu finden“, sagte der CDU-Politiker. […] Aus Baden-Württemberg kommt der Vorschlag, bundesweit bis zu vier weitere Standorte zu prüfen und 2020/2021 zwischen den zwei besten Optionen das Endlager auszuwählen. […] Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin betonte: „Wir haben zum ersten Mal die Chance, seit drei 30 Jahrzehnten zu so etwas zu kommen wie dem Endlagerkonsens.“ Zuversichtlich sei er vor allem, weil Bayern und Baden-Württemberg sich einer ergebnisoffenen Endlagersuche nicht mehr verschlössen, sagte Trittin am Morgen in der ARD. Trittin forderte von der schwarz-gelben Bundesregierung, schnell ein Gesetz mit den wesentlichen Kriterien für eine Endlagersuche auf den Weg zu bringen. […] „Wir brauchen ein Endlager, das den 35 Atommüll für eine Million Jahre sicher einschließt“, sagte Trittin. Schaffe man den angestrebten Konsens noch in dieser Legislaturperiode, dann sei „der letzte große Streitpunkt in der Atompolitik beseitigt“. […] PGW1-gA-AB Seite 6 von 11
Freie und Hansestadt Hamburg allgemeinbildende und Behörde für Schule und Berufsbildung berufliche gymnasiale Abitur 2014 Oberstufen PGW auf grundlegendem Anforderungsniveau Aufgabe II Anmerkung: Norbert Röttgen(CDU) war vom 28. Oktober 2009 bis zum 22. Mai 2012 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Sein Nachfolger wurde Peter Altmaier (CDU). Textgrundlage: Unbekannter Autor in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11.11.2011, nach: http://www.faz.net//politik/inland/atommuell-keine-tabus-bei-endlagersuche-11525115.html, abgerufen am 15.11.2012 M 2: Die Schweiz - ein Demokratie-Vorbild für Europa? Plötzlich sind Begriffe en vogue wie Bürgerbeteiligung, Volksabstimmung oder Referendum. Doch wie soll das bei uns in Deutschland funktionieren? Da hilft ein Blick nach Süden. Die Schweiz ist nämlich eine Art Vorbild für ein politisches System mit starker direkter Demokratie. Alle zwei bis drei Monate stimmt dort das Wahlvolk über Initiativen ab. Seit Jahrzehnten ist das so. 5 Nur leider: einfach mal so eben kopieren kann man das nicht. […] Seit mehr als hundert Jahren praktiziert die Schweiz direkte Demokratie. Kaum ein Gesetz wird verabschiedet, zu dem die Bürger nicht gefragt werden. Das Volk hat fast immer das letzte Wort. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen natürlich immer die großen innen- und außenpolitischen Fragen wie die Abschaffung der Armee etwa. Die lehnte das Volk gleich zweimal ab, 1989 und 2002. 10 1948 genehmigte das Wahlvolk die Einführung einer allgemeinen Rentenversicherung. Oder der Beitritt zur UNO: Dazu sagten die Schweizer erst nach drei Anläufen im Jahr 2002 ja. Rund fünfmal im Jahr wird der Souverän an die Urnen gerufen. Dann wird in der Regel über ein ganzes Bündel bundesweiter, kantonaler und kommunaler Fragen abgestimmt. Die Bandbreite der Themen ist groß. In jüngerer Vergangenheit stimmte das Volk über die Legalisierung von Cannabis 15 ab, über autofreie Sonntage, die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten etc. In den 26 Kantonen geht es zum Beispiel um Steuererhöhungen und in den rund 3.000 Gemeinden etwa um das Ja oder Nein zu einem Straßenbauprojekt oder dem Neubau einer Turnhalle, und zwar jedes Mal inklusive Finanzierung. Etwas überspitzt formuliert, befindet sich die Schweiz im Vergleich zu Deutschland im Zustand einer 20 Dauerabstimmung. Das Wahlvolk ist daher auch nicht immer „amused“, wenn es schon wieder zur Abstimmung gerufen wird. Viele Fragen, die zur Entscheidung stehen, sind den Bürgern zu kompliziert oder sie interessieren sich einfach nicht dafür. Entsprechend liegt auch die Wahlbeteiligung zwischen 25 und 60 Prozent, je nach „gefühlter Relevanz“ aus Sicht der Wählerinnen und Wähler. Besonders spektakulär war 2009 das Ergebnis der Abstimmung zur Volksinitiative gegen 25 den Bau von Minaretten im Land. Nach einem aufgewühlten Wahlkampf, der auch international für Aufsehen sorgte, stimmten zur großen Überraschung 57,5 der Wahlbeteiligten für die Initiative und damit gegen den Bau. Alle Umfragen davor hatten ergeben, dass die Gegner von Minaretten verlieren würden. Seitdem reiben sich die liberal gesinnten Eidgenossen die Augen. Immerhin widerspricht das Verbot 30 der Religionsfreiheit und dem Diskriminierungsverbot der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Früher oder später wird sich wohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit dem Verbot befassen und über seine Zulässigkeit entscheiden. Das Minarettverbot ist jedenfalls kein Ruhmesblatt für die direkte Demokratie. Es zeigt nämlich, dass sie mit Regeln der Rechtsstaatlichkeit kollidieren kann. PGW1-gA-AB Seite 7 von 11
Freie und Hansestadt Hamburg allgemeinbildende und Behörde für Schule und Berufsbildung berufliche gymnasiale Abitur 2014 Oberstufen PGW auf grundlegendem Anforderungsniveau Aufgabe II 35 Von außen betrachtet erscheint die Schweiz aber alles in allem als großes Vorbild für direkte Demokratie, als ihr Kernland gewissermaßen. Kein Wunder, dass der neue, baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann den Kontakt zur Schweizer Bundesregierung und den Kantonen sucht, um von deren Erfahrungen zu profitieren. Er hat mehr Bürgerbeteiligung zu einem Kernthema seiner grün-roten Koalition gemacht. Doch wie schwer das in der Praxis ist, zeigt sich gegenwärtig an den 40 zähen Dialogrunden mit den betroffenen Bürgern bei Großprojekten wie „Stuttgart 21“ oder dem geplanten Pump-Speicher-Kraftwerk in Atdorf im Südschwarzwald. Auch die Schweizer mussten sich an ihr System gewöhnen. Seit 1848 basteln sie daran. Deutschland ist weit von so viel Bürgersinn entfernt. Unser System der repräsentativen Demokratie ist im Vergleich zum schweizerischen geradezu geprägt von einem Misstrauen gegenüber dem Wahlvolk. Es 45 wäre also naiv zu glauben, es ließe sich das System der Schweiz auf unseres übertragen. Doch deren Elemente zu verstehen und davon zu lernen, könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein. […] Textgrundlage: Unbekannter Autor in: ZDF, Heute.de vom 29.06.2012, nach: http://kultur.zdf.de/ZDF/zdfportal/web/heute-Nachrichten/4672/23250994/9b2618/Die-Schweiz---ein- Demokratie-Vorbild-für-Europa.html, abgerufen am 1.10.2012 PGW1-gA-AB Seite 8 von 11
Freie und Hansestadt Hamburg allgemeinbildende und Behörde für Schule und Berufsbildung berufliche gymnasiale Abitur 2014 Oberstufen PGW auf grundlegendem Anforderungsniveau Aufgabe III Aufgabe III Wirtschafts- und Finanzpolitik in Zeiten der Krise Aufgabe 1: Fassen Sie die Position und Argumentation von Laurent Joffrin (M 1) zusammen. (20%) Aufgabe 2: Ordnen Sie Joffrins Argumentation begründet einer wirtschaftspolitischen Grundposition zu. Beschreiben Sie deren Grundannahmen und Denkansätze und stellen Sie weitere Lösungsansätze zur aktuellen Wirtschaftskrise aus der Sicht dieser Position dar. (40%) Aufgabe 3: Verfassen Sie eine ausführliche Erwiderung zu Joffrins Grundannahmen und Forderungen aus Sicht der konträren wirtschaftspolitischen Grundposition. Dies soll in Form einer Rede oder eines Essays oder eines Zeitungsartikels geschehen. (40%) PGW1-gA-AB Seite 9 von 11
Freie und Hansestadt Hamburg allgemeinbildende und Behörde für Schule und Berufsbildung berufliche gymnasiale Abitur 2014 Oberstufen PGW auf grundlegendem Anforderungsniveau Aufgabe III M 1: Laurent Joffrin Euro-Krise Sparen ruiniert uns alle. Die deutsche Politik führt Europa in die Katastrophe Die öffentliche Meinung in Deutschland fordert von allen europäischen Ländern harte Budgetdisziplin. Das ist vollkommen verständlich. Die Bundesrepublik hat zehn Jahre lang schmerzhafte Reformen umgesetzt, die soziale Errungenschaften infrage stellten und für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung Einkommensverluste mit sich brachten. Und tatsächlich, nach 5 dieser spektakulären Anstrengung fasste die deutsche Wirtschaft wieder Tritt. Die Finanzen gesundeten, die Arbeitslosenrate sank. Angesichts dieses Erfolgs, für den sie hart gearbeitet haben, verstehen die Deutschen nicht, wieso sie jetzt Länder subventionieren sollten, die vergleichbare Anstrengungen verweigert hatten und stattdessen den leichteren Weg gingen: den in die Verschuldung. Mit größtem Misstrauen blicken die 10 Deutschen jetzt auf Europas Süden und seine Forderungen, von denen sie fürchten, dass sie die Geldstabilität der Union gefährden könnten. Sie erinnern sich auch gut an die feierlich auf EU-Gipfeln gegebenen Versprechen einiger europäischer Spitzenpolitiker: Kaum waren die Regierungsvertreter wieder in ihre Länder zurückgekehrt, war alles vergessen. Und doch: Diese logische, rationale, gerechtfertigte Haltung führt geradewegs in die Katastrophe. 15 Die in Europa praktizierte Sparpolitik wirkt zerstörerisch. Simultan – und oft brutal – umgesetzt, drosselt sie auf dem gesamten Kontinent die Nachfrage. Die wirtschaftliche Aktivität erliegt, die Zahl der Pleiten nimmt zu, die Gewinne schrumpfen, und währenddessen wächst die Arbeitslosigkeit: Es gibt Länder, in denen sie mehr als 20 Prozent der Bevölkerung erfasst hat. In einigen Südländern ist die Hälfte der Jugendlichen im arbeitsfähigen Alter beschäftigungslos. Die wirtschaftliche Paralyse 20 reduziert wiederum die Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben. Und das in einem Maße, dass die Sparpolitik just die gegenteilige Wirkung erzielt als die angestrebte: Anstatt die Defizite zu verringern, vergrößert sie diese. Das deutlichste Beispiel für den perversen Effekt der Austeritätspolitik1 bietet Portugal. Nachdem das Land mit Eifer die europäischen Empfehlungen umgesetzt und alle geforderten Strukturreformen 25 verwirklicht hatte, auch die schmerzlichsten, musste die Regierung in Lissabon feststellen, dass ihr Budgetdefizit sogar noch gewachsen war und ihre Verschuldung eine atemberaubende Höhe erreicht hatte. Mit anderen Worten: Austeritätspolitik bringt die Gefahr mit sich, dass die europäischen Patienten geheilt sterben. 30 Die Rezession, die sich auf dem Kontinent auszubreiten beginnt, wird überdies politische Auswirkungen haben. Schon jetzt wenden sich die Völker mehr und mehr von einer Politik ab, von der sie meinen, dass sie ihnen von Brüssel oder Berlin aufgezwungen wird. Jeder weiß, dass der derzeit diskutierte Fiskalpakt, der von den Unterzeichnern eine Schuldenbremse verlangt und europäische Kontrollmechanismen für die Budgetdisziplin vorsieht, in etlichen Ländern abgelehnt werden würde, 35 legte man ihn zur Ratifizierung den Bürgern und nicht den Parlamenten vor. Wahrscheinlich geben die Antieuropäer bereits die Mehrheitsstimmung in diesen Zeiten der Krise wieder. Extreme Parteien sehen sich ermutigt. In Frankreich streifte der nationalistische Front National in den jüngsten Präsidentschaftswahlen die 20 Prozent, während die extreme Linke auf mehr als zehn Prozent kam; 1 Austerität: wirtschaftliche Einschränkung, energische Sparpolitik. PGW1-gA-AB Seite 10 von 11