Gutachten zu den Möglichkeiten des Landesgesetzgebers, den Umfang der OffenGutachten

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes zu den Themen Studium und Volksbegehren

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ABGEORDNETENHAUS VON BERLIN - WISSENSCHAFTLICHER PARLAMENTSDIENST -                      Berlin, den 18. Juli 2008 Gutachten zur Zulässigkeit eines Volksbegehrens auf Aufhebung oder Änderung des Straßenausbaubeitragsgesetzes Gliederung A. Auftrag B. Gutachten I.  Zulässigkeit des Volksbegehrens 1. Ausschlusstatbestand des Landeshaushaltsgesetzes 2. Ausschlusstatbestand der Abgaben a) Formeller Begriff der Abgaben b) Materielle Interpretation des Begriffs der Abgaben (1) Finanzwirksame Regelungen (a) Materielle Auslegung des Ausschlusstatbestands des Landeshaushalts (b) Übertragung auf den Ausschlusstatbestand der Abgaben (aa) Auslegung nach Sinn und Zweck (bb) Systematische Auslegung (cc) Zwischenergebnis (2) Finanzneutrale Regelungen 3. Verstoß gegen sonstiges höherrangiges Recht 4. Ergebnis II. Allgemeine Hinweise zu den formellen Anforderungen C. Ergebnis Die Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes sind urheberrechtlich geschützt. Die weitere Verarbeitung, Verbreitung oder Veröffentlichung - auch auszugsweise - ist nur unter Angabe der Quelle zulässig. Jede Form der kommerziellen Nutzung ist untersagt.
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-2- A. Auftrag Auf Grund der Bitte der Fraktion der CDU hat der Präsident des Abgeordneten- hauses den Wissenschaftlichen Parlamentsdienst mit der Erstellung eines Gutachtens zur Zulässigkeit eines Volksbegehrens zur Aufhebung oder zur Änderung des Stra- ßenausbaubeitragsgesetzes vom 16. März 2006 beauftragt. Weiterhin soll dargestellt werden, welche Bedingungen ein dementsprechender Antrag erfüllen müsste und ob bei einem zulässigen Antrag auf Änderung des Gesetzes das allgemeine Ziel der Ge- setzesänderung oder aber der konkrete Gesetzestext Inhalt des Antrags sein müsste. B. Gutachten I.   Zulässigkeit des Volksbegehrens Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin (VvB) wird die gesetzge- 1 bende Gewalt durch Volksabstimmungen, Volksentscheide und durch die Volksver- tretung ausgeübt. Die Verfassungsvorschrift postuliert damit nach der Rechtspre- chung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin die grundsätzliche Gleichbe- rechtigung von direktdemokratischer und parlamentarischer Volksgesetzgebung.          2 Gemäß Art. 59 Abs. 2 VvB können Gesetzesvorlagen außer aus der Mitte des Ab- geordnetenhauses und durch den Senat auch im Wege des Volksbegehrens einge- bracht werden. Gemäß Art. 62 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz VvB können Volksbegehren darauf gerichtet werden, Gesetze zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben. Die direktdemokratische Volksgesetzgebung steht jedoch unter dem Vorbehalt des Art. 62 Abs. 2 VvB und der gleichlautenden Bestimmung des § 12 Abs. 1 des Ge- 1 Vom 23. November 1995 (GVBl. S. 779), zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. Juli 2006 (GVBl. S. 710). 2 Urteil vom 22. November 2005 - Az. 35/04 - zum beabsichtigten Volksbegehren „Schluss mit dem Berliner Bankenskandal, Rz. 92, zitiert nach juris.
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-3- setzes über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksbescheid (Abstimmungsgesetz – AbstG ) :3 Volksbegehren zum Landeshaushaltsgesetz, zu Dienst- und Versorgungsbe- zügen, Abgaben, Tarifen der öffentlichen Unternehmen sowie zu Personalent- scheidungen sind unzulässig. Ein auf die Aufhebung oder Änderung des Straßenausbaubeitragsgesetzes (StrABG) gerichtetes Volksbegehren könnte dem Vorbehalt des Landeshaushaltsge- 4 setzes oder der Abgaben unterfallen und damit unzulässig sein. 1.   Ausschlusstatbestand des Landeshaushaltsgesetzes Durch das Haushaltsgesetz werden die für jedes Rechnungsjahr im Haushalts- plan zu veranschlagenden Einnahmen und Ausgaben festgestellt (Art. 85 Abs. 1 Satz 1 VvB). Ein auf die Aufhebung oder Änderung des Straßenausbaubeitragsgesetzes gerichtetes Volksbegehren zielt nicht unmittelbar auf die Aufhebung oder Änderung dieses Gesetzes ab und erfüllt damit jedenfalls nicht den formellen Begriff des Aus- schlusstatbestands des Landeshaushaltsgesetzes, so dass insoweit eine Unzulässig- keit des Volksbegehrens nicht gegeben ist. 2.   Ausschlusstatbestand der Abgaben a) Formeller Begriff der Abgaben Nach dem traditionellen Verständnis im öffentlichen Finanzwesen sind Abgaben die von einem Hoheitsträger kraft öffentlichen Rechts auferlegten Geldleistungen, die ein Gemeinwesen mit Finanzkraft ausstatten sollen. Zu den Abgaben gehören Gebühren und Beiträge. Beiträge sind Geldleistungen, die zur vollen oder teilweisen 5 Deckung des Aufwands einer öffentlichen Einrichtung von denjenigen erhoben wer- 3 Vom 11. Juni 1997 (GVBl. S. 304), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Anpas- sung abstimmungsrechtlicher Vorschriften und begleitender Regelungen vom 20. Februar 2008 (GVBl. S. 22). 4 Vom 16. März 2006, GVBl. S. 265. 5 Korbmacher in: Driehaus (Hrsg.), Verfassung von Berlin, 2. Auflage (2005), Art. 87 Rz. 3.
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-4- den, denen die Herstellung oder der Bestand der Einrichtung besondere Vorteile ge- währt; es genügt, dass der Pflichtige die Möglichkeit hat, diese Vorteile in Anspruch zu nehmen.    6 § 1 Abs. 1 Satz 1 StrABG formuliert folgenden Erhebungsgrundsatz: Das Land Berlin erhebt zur teilweisen Deckung seines Aufwands für die Verbesserung, Erweiterung und Erneuerung (Ausbaumaßnahmen) an öffentli- chen Straßen, Wegen und Plätzen (Verkehrsanlagen) Beiträge von den Grund- stückseigentümern, den Erbbauberechtigten und den Inhabern eines dinglichen Nutzungsrechts, denen durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme der ausge- bauten Verkehrsanlagen Vorteile geboten werden. Der nach dem Straßenausbaubeitragsgesetz zu erhebende Ausbaubeitrag ist demnach eine Abgabe im Sinne des Art. 62 Abs. 2 VvB und des § 12 Abs. 1 AbstG.            7 Ein auf die Aufhebung oder Änderung des Straßenausbaubeitragsgesetzes gerichte- tes Volksbegehren verstößt damit gegen den Vorbehalt der Abgaben im formellen Sinne. b) Materielle Interpretation des Begriffs der Abgaben Ein Volksbegehren wäre aber dann zulässig, wenn auf Grund des Postulats der grundsätzlichen Gleichberechtigung von direktdemokratischer und parlamenta- rischer Volksgesetzgebung eine über die formelle Begriffsbestimmung hinausgehen- de materielle Interpretation des Begriffs der Abgaben zur Einschränkung der Vorbe- haltswirkung geboten wäre. Es ist davon auszugehen, dass das Volksbegehren auf die Abschaffung der Stra- ßenausbaubeiträge oder zumindest auf die Herabsetzung ihrer gesetzlich festgeleg- ten Höhe und damit auf finanzwirksame Regelungen gerichtet ist. Darüber hinaus 6 Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung , 15. Aufl. (2007), § 80 Rz. 59; Lang in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 19. Aufl. (2008), § 3 Rz. 23; Gersch in: Klein, Abgaben- ordnung (2006), § 3 Rz. 16. 7 Siehe dazu: Driehaus, Erschließung- und Ausbaubeiträge, 8. Auflage (2007), § 1 Rz. 7; Vorlage - zur Beschlussfassung - Straßenausbaubeitragsgesetz (StrABG) vom 2. Novem- ber 2005 (Drucksache 15/4408), D. (S.2).
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-5- kommen ausgabenneutrale Regelungen in Betracht, wenn eine Änderung des Rah- menrechts – also etwa die Änderung des Kreises der Beitragspflichtigen, des Veran- lagungsmaßstabs oder die Art und Weise der Erhebung und Durchsetzung der Ab- gabenschuld – ohne finanzwirksame Auswirkungen gewollt ist. (1) Finanzwirksame Regelungen (a) Materielle Auslegung des Ausschlusstatbestands des Landeshaushalts Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat in seiner Rechtsprechung zur 8 Zulässigkeit von Volksbegehren auf Grund der dem geltenden Verfassungsrecht vorhergehenden Bestimmung des Art. 62 Abs. 5 VvB , der anstelle des Ausschluss- 9 tatbestands „Volksbegehren zum Landeshaushaltsgesetz“ in Art. 62 Abs. 2 VvB der gel- tenden Fassung den Vorbehalt „Volksbegehren zum Landeshaushalt“ vorsah, eine mate- rielle Bestimmung des Haushaltsvorbehalts für finanzwirksame Gesetze vorgenom- men und als Abgrenzungskriterium auf die verfassungsrechtliche Erheblichkeits- schwelle abgestellt. Die Leitsätze der Entscheidung lauten auszugsweise: 1. Der Vorbehalt des Art. 62 Abs. 5 VvB, wonach Volksbegehren “zum Landeshaushalt“ unzulässig sind (Haushaltsvorbehalt), erfasst neben Ände- rungsvorschlägen zur formellen Haushaltsgesetzgebung alle Gesetzgebungsvor- schläge, deren Finanzwirksamkeit eine verfassungsrechtliche Erheblichkeits- schwelle überschreitet. ... 2. Unterhalb der Erheblichkeitsschwelle sind Volksbegehren auch dann zu- lässig, wenn sie finanzwirksame Gesetze zum Gegenstand haben, soweit sie nicht direkt auf eine Änderung des formellen Haushaltsgesetzes abzielen. ... Zur Begründung hat der Verfassungsgerichtshof ausgeführt, der Verfassungs- geber habe, indem er nicht, wie beispielsweise Art. 73 Abs. 2 der Sächsischen Verfas- sung das Wort „Haushaltsgesetze“, sondern die Worte „zum Landeshaushalt“ ver- 8 A.a.O. (Fußnote 2), siehe Leitsätze der Entscheidung und zum Folgenden Rz. 73, 78, 82, 84, 86, 92 mit ausführlicher Darstellung vergleichbarer Entscheidungen anderer Verfas- sungsgerichte, Rz. 74-76. 9 Verfassung von Berlin vom 23. November 1995 (GVBl. S. 779) in der Fassung vom 16. März 2006 (GVBl. S. 262).
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-6- wende, zum Ausdruck gebracht, dass der Haushaltsvorbehalt eine über das formelle Haushaltsgesetz hinausgehende Reichweite habe. Der vom Wortlaut her möglichen Ausdehnung des Haushaltsvorbehalts auf alle finanzwirksamen Gesetze stehe die erkennbar hohe Gewichtung der direktdemokratischen Volksgesetzgebung durch den Verfassungsgeber entgegen. Die direktdemokratische Legitimation werde aber wiederum durch die Budgethoheit des Parlaments, die das Recht der parla- mentarischen Mehrheit auf Kontrolle und Gestaltung der Einnahmen und Ausgaben des Landes beinhalte, begrenzt. Sie trage zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Staates und seiner Verwaltung bei und schließe im Ergebnis die aufgrund ihrer Komplexität für die Volksgesetzgebung weniger geeignete Finanzmaterie von Volksbegehren und Volksentscheid aus. Durch diese Vorbehalte werde die verfas- sungsrechtliche Erheblichkeitsschwelle begründet. (b) Übertragung auf den Ausschlusstatbestand der Abgaben Ein auf die Aufhebung oder Änderung des Straßenausbaubeitragsgesetzes ge- richtetes Volksbegehren mit finanzwirksamer Wirkung wäre dann zulässig, wenn die für den Vorbehalt des Landeshaushalts geltende Erheblichkeitsschwelle auf den Ausschlusstatbestand der Abgaben Anwendung finden und die konkrete Ausgestal- tung des beabsichtigte Gesetzesvorhabens diese nicht überschreiten würde. (aa) Auslegung nach Sinn und Zweck Soweit Rechtsprechung zu dem Ausschlusstatbestand der Abgaben vorliegt, wird indes eine materielle Wertung mit der Folge einer notwendigen Erheblich- keitsprüfung nicht vorgenommen. Die Regelung von Abgaben sei dem direkt- demokratischen Volksgesetzgeber vollständig entzogen. Blieben diejenigen haushaltswirksamen Gesetze der Volksgesetzgebung zugänglich, die in ihren fi- nanziellen Auswirkungen einen Haushaltsplan nicht wesentlich beeinflussen o- der beeinträchtigen würden, so könne der direktdemokratischen Volksgesetzge- ber über Abgaben selbst unter diesen Voraussetzungen nicht beschließen.
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-7- In diesem Sinne hat zum Beispiel das Hamburgische Verfassungsgericht            10 zur Auslegung des Ausschlusskatalogs des Art. 50 Abs. 1 Satz 2 der Hamburgischen Verfassung    11 – Haushaltsangelegenheiten, Abgaben, Tarife der öffentlichen Unterneh- men sowie Dienst- und Versorgungsbezüge können nicht Gegenstand einer Volksinitia- tive sein. – entschieden, dass die Forderung nach Gebührenfreiheit für ein Studi- um an Hamburger Hochschulen dem – formell zu bestimmenden – Begriff der Abgaben unterfalle und daher unzulässig sei. In Abgrenzung dazu hat es die Forderung nach einem nachfrageorientierten Ausbau des Studienplatzangebots als Verstoß gegen den Ausschlusstatbestand der Haushaltsangelegenheiten ge- wertet, weil mit der vorgesehenen Regelung eine wesentliche Beeinträchtigung des Haushaltsrechts der Hamburgischen Bürgerschaft verbunden sei. Der Thü- ringer Verfassungsgerichtshof      12 hat zur Auslegung des Ausschlusskatalogs des Art. 82 Abs. 2 der Verfassung des Freistaats Thüringen        13 – „Volksbegehren zum Landeshaushalt, zu Dienst- und Versorgungsbezügen, Abgaben und Personalentschei- dungen sind unzulässig.“ – ausgeführt, die Freistellung von Elternbeiträgen im letzten Jahr vor der Einschulung und die Festschreibung des Finanzierungsan- teils der Eltern an den Betriebskosten der Kindertagesstätten würden gegen den – formell zu bestimmenden – Begriff der Abgaben verstoßen. Ein darauf gerich- tetes Volksbegehren sei unzulässig. Die Fachliteratur      14 geht ebenfalls davon aus, dass Abgabenfragen schlechthin dem Plebiszit entzogen sind, also hier der für den Ausschlusstatbestand des Landeshaushalts entwickelte Erheblichkeits- grundsatz nicht greift. 10 Urteil vom 22. April 2005 – Az. 5/04 – zum beabsichtigten Volksbegehren „VolXUni – Rettet die Bildung“, Rz. 81-83 (Abgaben), Rz. 85-112 (Haushaltsangelegenheiten), zitiert nach juris. 11 Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6. Juni 1952 (BL I 100-a), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Oktober 2006 (GVBl. S. 517). 12 Urteil vom 5. Dezember 2007 – Az. 47/06 – zum beabsichtigen Volksbegehren „Für eine bessere Familienpolitik in Thüringen“, 4. Leitsatz, Rz. 75-86, zitiert nach juris. 13 Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993 (GVBl. S. 625). 14 Isensee, Plebiszit unter Finanzvorbehalt, Festschrift für Mußgnug (2005), S. 101 (124); Kraftczyk, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 980 (2005), S. 55, 56; Michaelis-Merzbach in: Driehaus (Hrsg.), Verfassung von Berlin, a.a.O. (Fußnote 5), Art. 62, Rz. 13; David, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, 2. Aufl. (2004), Art. 50 Rz. 53 ff.; Lieber/Iwers/ Ernst, Verfassung des Landes Brandenburg, Kommentar, Art. 76, 7.3 (Stand: Februar 2003); Litten in: Litten/Wallerat, (Hrsg.), Verfassung des Landes Mecklenburg- Vorpommern, 2007, Art. 60 Rz. 9; Kunzmann/Haas,/Baumann-Haaske, Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 2. Aufl. (1997), Art. 73 Rz. 2; Hübner in: Mutius/Wuttke/Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 41 Rz. 8.
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-8- Der Erheblichkeitsgrundsatz beim Ausschlusstatbestand des Landeshaushalts wird vielfach damit begründet, im anderen Falle bestehe die Gefahr, dass Inte- ressengruppen von ihnen vertretenen Bürgern durch Volksbegehren Sondervor- teile verschaffen könnten.    15 Eine gleichgerichtete Begründung wird hinsichtlich des generellen Ausschlusses des Volksbegehrens zu Abgabefragen angeführt. So hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof        16 zum Verbot von Volksbegehren zu Abgaben darauf verwiesen, Sinn und Zweck des verfassungsrechtlichen Aus- schlusses sei, die Leistungsfähigkeit des Staates zu gewährleisten und einen Missbrauch der Volksgesetzgebung zu verhindern. Wegen der fehlenden „reprä- sentativen Distanz“ bestehe die Gefahr, dass das Volk seine finanziellen Lasten (Abgaben) ohne Rücksicht auf den Haushalt herabsetze. In der Literatur      17 wird zudem darauf verwiesen, populistische Mehrheiten könnten den Versuch unter- nehmen, öffentliche Lasten, womöglich auch zum Nachteil von Minderheiten, deren Inanspruchnahme man für gerechter hielte, von sich abzuschütteln. Nur sehr vereinzelt wird eine materielle Auslegung des Vorbehalts der Abga- ben befürwortet. So ist in dem Sondervotum zum dem o.a. Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshof     18 ausgeführt, von dem Vorbehalt der Abgaben seien nur solche Gebührengesetze erfasst, die die Gebührenstruktur (zum Beispiel die Ein- kommensverhältnisse der Eltern als Maßstab für die Höhe der Kitagebühren) re- geln, nicht jedoch solche, die die auf die Leistungsempfänger überwälzbaren Kosten begrenzen oder die eine vollständige Gebührenfreiheit anordnen wür- den. Hierbei handele es sich um materielle Leistungsgesetze, die allein am Haus- haltsvorbehalt zu messen seien. Nur im ersten Fall bestehe die von der herr- schenden Meinung beschriebene Gefahr, weil diese Regelungen eine Vertei- lungswirkung entfalten würden, die Lastenverteilung aber nicht neutral gestaltet würde. Für den anderen Fall der Begrenzung oder der vollständigen Aufhebung der Kosten bestehe der materielle Gehalt der mit dem Volksbegehren beabsich- tigten Regelung lediglich darin, dass die öffentlichen Leistungen aus allgemeinen Haushaltsmitteln zu erbringen seien. In seiner wirtschaftlichen Bedeutung unter- 15 siehe dazu die ausführliche Darstellung des Meinungsstands in den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin, a.a.O. (Fußnote 2), Rz. 83. 16 A.a.O. (Fußnote 12), Rz. 86. 17 Litten in: Litten/Allerath (Hrsg.), a.a. O. (Fußnote 14), Art. 60 Rz. 9. 18 A.a.O. (Fußnote 12), Sondervotum Dr. Zwanziger, Rz. 113-129.
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-9- scheide sich diese Regelung letztlich nicht von einer solchen, die der öffentlichen Hand Geldleistungspflichten auferlegen wolle. Gesetzesvorschläge dieser Art wolle die Verfassung dem direktdemokratischen Volksgesetzgeber aber nicht von vornherein entziehen. Es gebe aber keinen Grund, ihm den dann bestehen- den Gestaltungsspielraum lediglich deshalb zu versagen, weil der Gesetzgeber sich rechtstechnisch einer Regelung mit Auswirkung auf die Abgaben bediene, deren Verteilungswirkung aber nicht über sonstige haushaltswirksame Gesetze hinausgehe. Eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin zu einem Sachverhalt, der den unter der alten und geltenden Fassung gleichlautenden ver- fassungsrechtlichen Ausschlusstatbestand der Abgaben betrifft, ist – soweit er- sichtlich – bisher nicht ergangen. Der Verfassungsgerichtshof         19 hat allerdings be- züglich der Auslegung des Ausschlusstatbestands des Landeshaushalts in Art. 62 Abs. 5 VvB alter Fassung die Gefahr einer missbräuchlichen Handhabung des Volksbegehrens zur Durchsetzung von Sonderinteressen kleinerer Gruppe unter Hinweis auf die hohen prozeduralen Hürden ausgeschlossen. Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Verfassungsgerichtshof eine andere Auslegung auf Grund der in der neu gefassten Verfassungsvorschrift vorgenommenen Herabsetzung des Quorums von zehn vom Hundert (Art. 62 Abs. 4 VvB alte Fassung) auf sie- ben vom Hundert (Art. 63 Abs. 1 Satz 2 VvB) der zum Abgeordnetenhaus von Berlin Wahlberechtigten vornehmen wird. Die allgemein für die formelle Ausle- gung des Ausschlusstatbestands der Abgaben angeführte Begründung kann demnach für die Auslegung der Berliner Verfassungsvorschrift nicht ohne Wei- teres herangezogen werden. (bb) Systematische Auslegung Den Urteilsgründen zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin vom 22. November 2005          20 ist aber zu entnehmen, dass er eine di- 19 A.a.O. (Fußnote 2), Rz. 83; siehe auch: Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Ur- teil vom 20. September 2001 – VfGBbg 57/00 – www.verfassungsgericht.brandenburg. de, B. II. 1. d) aa) (2)-(4); Verfassungsgerichtshof des Freistaats Sachsen, Urteil vom 11. Juli 2002 – Vf. 91-VI-01 – zur Zulässigkeit des Volksantrags „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen“, NVwZ 2003, S. 472 (475). 20 A.a.O. (Fußnote 2), Rz. 79.
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- 10 - rektdemokratische Volksgesetzgebung außer zum Vorbehalt des Landeshaus- halts hinsichtlich aller weiteren in der Verfassungsvorschrift aufgenommenen Ausschlusstatbestände (Dienst- und Versorgungsbezüge, Abgaben, Tarife der öf- fentlichen Unternehmen und Personalentscheidungen) ebenso wie die herr- schende Meinung generell ausschließen will: In diesen weiteren Vorbehaltsbereichen ist eine Volksgesetzgebung auch dann unzulässig, wenn sie keine finanziellen Auswirkungen auf den Landes- haushalt hat, was z.B. bei Umsetzung von Personal oder bei der Umverteilung von Kostenposten innerhalb einer Tarifstruktur der Fall ist. In seiner Begründung nimmt der Verfassungsgerichtshof          21 auf die systemati- sche Auslegung der Verfassungsvorschrift Bezug. Nach seiner Ansicht ist die Nennung der weiteren vom Vorbehalt des Artikel 62 Abs. 5 VvB (alter Fassung) erfassten Bereiche keineswegs überflüssig. Der Vorbehalt des Landeshaushalts kann damit nicht als Oberbegriff für die weiteren (dann als exemplarische Unter- fälle zu betrachtenden) Ausschlusstatbestände angesehen werden. Es ist auch nicht zu erwarten, dass der Verfassungsgerichtshof unter der ge- änderten Fassung der Vorbehaltsklausel „Landeshaushaltsgesetz" eine andere systematische Bewertung vornehmen wird. Zwar hat er die Auslegung des Vor- behalts des Landeshaushalts in Art. 62 Abs. 5 VvB (alter Fassung) in Abgrenzung zu dem in der Sächsischen Verfassung aufgenommenen Vorbehalt des Landes- haushaltsgesetzes bestimmt. Der Verfassungsgerichtshof des Freistaats Sachsen wiederum hat seine auf eine formelle Bestimmung beschränkte restriktive Aus- legung des Ausschlusstatbestandes des Haushaltsgesetzes in Art. 73 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung (SächsVerf)     22 – „Über Abgaben-, Besoldungs- und Haus- haltsgesetze finden Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid nicht statt.“ – auch damit begründet, dass eine weitere Interpretation des Haushaltsgesetzes schon deshalb nicht in Betracht komme, weil damit die Eigenständigkeit der Abgaben- und Besoldungsgesetze als Begrenzung des Volksgesetzgebungsrechts ohne Be- deutung sei und ihnen jeden eigenständigen Anwendungsraum nehmen würde. 21 Siehe auch: Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Landes Thüringen, a.a.O. (Fußnote 13), Rz. 78. 22 Verfassung des Freistaats Sachsen vom 27. Mai 1992 (GVBL. Bl.-Nr. 20, S. 243).
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