Sehr geehrter Herr Semsrott,
mit Antrag vom 17. Juni 2016 auf Auskunft nach dem Informationsfreiheitsgesetz bit-
ten Sie um Informationen zur Aussage des Herrn Bundesinnenministers Dr. de Mai-
ziere zum Abbau von Hindernissen zur Abschiebung nicht anerkannter Asylbewer-
ber. Sie berufen sich dabei auf die Veröffentlichung der FAZ vom 16. Juni 2016
http://www.faz.net/aktuelllpolitik/flue…
hilfspolizisten-gegen-einbrueche-einsetzen-14290 14 7. html
Hierzu kann ich Ihnen folgende Informationen geben:
I. Ausgangspunkt der von Ihnen in Bezug genommenen Debatte war ein Interview
von Herrn Bundesinnenminister Dr. de Maiziere mit der Rheinischen Post vom 16.
Juni 2016. Die betreffende Passage liest sich auszugsweise wie folgt:
RP: Konsens zwischen Bund und Ländern war es, Menschen ohne Bleiberecht
abzuschieben. NRW konnte in einem den vergangenen Monaten nur 20 der
1300 abgelehnten Asylbewerber in ihr Land zurückbringen, weil nur fünf Men-
schen in ein Flugzeug gesetzt wurden. Das ist doch eine Farce ...
De Maiziere: Nach meiner Reise dorthin hat es mit allen drei Staaten Fortschrit-
te gegeben, aber das reicht noch nicht. Marokko und Algerien lehnen etwa voll
besetzte Charter-Flugzeuge ab. Dazu müssen wir mit diesen Ländern noch
einmal reden und tun das auch. Wir müssen aber auch gemeinsam unsere ei-
genen Hausaufgaben erledigen und das vollziehen, worauf wir uns in den Asyl-
paketen I und II geeinigt haben. Es gibt da noch Vollzugsdefizite. Wichtig ist,
Abschiebungen nicht anzukündigen. Der Ausreisegewahrsam kann entschlos-
sener genutzt werden. Es werden immer noch zu viele Atteste von Ärzten aus-
gestellt, wo es keine echten gesundheitlichen Abschiebehindernisse gibt. Es
kann nicht sein, dass 70 Prozent derMännerunter 40 Jahren vor einer Ab-
schiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden. Dagegen spricht
jede Erfahrung. Es muss auch Leistungskürzungen geben, wenn Asylbewerber
nicht bei der Identitätstindung helfen oder im Fall der Ablehnung nicht ausrei-
sen. Die rechtlichen Instrumente dafür haben wir im vergangenen Jahr geschaf-
fen, und jetzt müssen sie noch konsequenter angewendet werden.
II. Das Pressereferat des Bundesinnenministeriums hat hierzu auf zahlreiche Nach-
fragen wie folgt Auskunft erteilt:
Es gibt keine flächendeckenden statistisch erhobenen Bundesdurchschnittszah-
len zur genauen Quote der an Attesten gescheiterten Abschiebungen. Es gibt
aber Erkenntnisse der am Abschiebeprozess beteiligten Behörden, die im Be-
richt der so genannten "Unterarbeitsgruppe Vollzugsdefizite" von Bund und
Ländern aus dem April 2015 festgehalten sind. Es wird dort zum Teil von Quo-
ten einer nur schwer erklärbaren Höhe berichtet, die im Einzelnen variieren ,
insb. auch von Land zu Land.
Herrn Bundesinnenminister Dr. de Maiziere ist in auf seiner Ebene zum Thema
geführten Gesprächen spotlight-artig von bis zu 70% berichtet worden. Deswe-
gen ist es richtig, dass die Bundesregierung mit dem so genannten Asylpaket II
die Hürde für die Geltendmachung gesundheitlicher Abschiebehindernisse
deutlich erhöht hat.
Den entsprechenden Berichtsauszug der Unterarbeitsgruppe finden Sie nach-
stehend abgedruckt:
"4. Abschiebungshindernisse aus medizinischen Gründen
Die Geltendmachung von physischen und psychischen Erkrankungen von voll-
ziehbar ausreisepflichtigen Ausländern stellt die behördliche Vollzugspraxis in
quantitativer und in qualitativer Hinsicht vor große Herausforderungen. Insbe-
sondere schwer diagnostizierbare Erkrankungen psychischer Art (z. B. Post-
traumatische Belastungsstörungen [PTBS]) werden sehr häufig als inländisches
Abschiebungshindernis (Vollzugshindernis) geltend gemacht, was in der Praxis
zwangsläufig zu deutlichen zeitlichen Verzögerungen führt. Häufig wird bspw.
das Vorliegen einer PTBS mit Ereignissen begründet, die im vorausgegange-
nen Asylverfahren keine Anerkennung gefunden hatten.
Zur Klärung der Reisefähigkeit bzw. Flugreisetauglichkeit ist die Vollzugsbehör-
de regelmäßig gehalten, vorgelegte Atteste, Stellungnahmen oder ärztliche
Gutachten durch neutrales sachverständiges medizinisches oder fachpsycholo-
gisches bzw. -psychiatrisches Fachpersonal überprüfen zu lassen, um auf die-
ser Basis unvoreingenommen die ausländerrechtliche Feststellung über das
Vorliegen eines dauerhaften oder vorübergehenden rechtlichen Abschiebungs-
hindernisses zu treffen. Oft hält das als Beleg einer Reiseunfähigkeit im End-
stadium einer Abschiebung von dem Betroffenen selbst oder von Unterstützern
vorgelegte Gutachten der Überprüfung nicht stand. Gutachten wie Gegengut-
achten werden regelmäßig von Misstrauen geprägt und nicht selten mit dem
Prädikat "Gefälligkeitsgutachten" desavouiert. Wird im Ergebnis ärztlicherseits
eine Reisefähigkeit konstatiert, werden die meisten Gutachten regelmäßig in
Rechtsmittelverfahren angegriffen und gerichtlich überprüft.
Die Suche der Vollzugsbehörde nach neutralen Fachärzten gestaltet sich in
diesem Zusammenhang noch immer schwierig, da nach wie vor viele Ärzte aus
weltanschaulicher und/oder berufsethischer Sicht nicht an einer Überprüfung
von geltend gemachten gesundheitlichen Vollzugshindernissen mitwirken wol-
len, die im Ergebnis zu Abschiebungsvollzugsmaßnahmen führen könnten, oder
die sich aus Unterstützerkreisen dem Vorwurf einer nicht neutralen Aufgaben-
wahrnehmung ausgesetzt sehen und daher von einer Mitwirkung am Verfahren
von vornherein absehen.
Beispielhaft sei auf eine durch das Ministerium für Inneres und Kommunales
NRW im Jahre 2011 durchgeführte Evaluierung der Zusammenarbeit von Aus-
länderbehörden und Ärztinnen und Ärzten bei Rückführungsmaßnahmen und
der praktischen Anwendung des Informations- und Kriterienkataloges verwie-
sen, die zu folgenden Ergebnissen kam:
Die Ausländerbehörden NRW legten für den Evaluierungszeitraum insgesamt
184 Erfassungsbögen vor. Bei 75 Personen (41 %) stand bereits ein konkreter
Abschiebungstermin fest, ehe die Betroffenen (z. T. erneut) gesundheitliche Ab-
schiebungshindernisse geltend machten.
Gesundheitliche Abschiebungshindernisse wurden in den erfassten Fällen (teils
erstmals, teils wiederholt) erst dann vorgetragen, wenn die zwangsweise
Durchsetzung der Ausreisepflicht konkret wurde, z. B. nach einer Abschie-
bungsandrohung oder nach Mitteilung eines Abschiebungstermins. Häufig wur-
de auf Krankheiten verwiesen, die bereits in vorausgegangenen Asylverfahren
vorgetragen wurden, aber zu keinem zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutz
führten. Von psychischen Erkrankungen abgesehen, die erst angesichts der
drohenden Rückführung (erneut) zu Tage treten können (etwa Posttraumati-
sche Belastungsstörung [PTBS]), liegt die Vermutung nahe, dass ein solches
Vorbringen häufig allein dem Zweck dienen soll, die Rückführung durch die
notwendig werdende Klärung der Reisefähigkeit bzw. Flugtauglichkeit hinaus-
zuzögern bzw. abzuwenden.
ln 129 Fällen (70 %) machten die Betroffenen psychische Erkrankungen (ein-
schließlich isolierter Gefahr einer Suizidalität) geltend. ln 43 Fällen wurden über
die psychischen Erkrankungen hinaus zusätzlich weitere Erkrankungen ver-
schiedenster Art geltend gemacht. Über diese 43 Fälle hinaus wurden sonstige
Erkrankungen nicht psychischer Art 48-mal isoliert vorgetragen; somit galt es in
insgesamt 91 Fällen (49 %) auch Vorträge sonstiger Erkrankungen zu bewer-
ten.
Die vorzunehmende Bewertung, ob das Vorbringen eines gesundheitlichen Ab-
schiebungshindemisses überhaupt beachtlich ist oder das Vorbringen erkenn-
bar allein dem Zweck dienen soll, den Vollzug zu verhindern und eine ernst zu
nehmende Erkrankung offensichtlich nicht gegeben ist, fällt den Ausländerbehörden naturgemäß nicht leicht. ln nur 6 % der Fälle wurde das Vorbringen im
Hinblick auf die Frage der Reisefähigkeit bzw. Flugreisetauglichkeit als unbe-
achtlich bewertet, nachdem das Vorbringen auch nach Aufforderung durch
nichts belegt worden war.
Auch die eindeutige Klassifizierung, ob ein Vorbringen als zielstaats- oder in-
landsbezogenes Abschiebungshindernis zu werten ist, gestaltet sich im Einzel-
fall schwierig. Die Ausländerbehörden müssen daher im Zweifel auch solche
Erkrankungen, die bereits in vorausgegangenen Asylverfahren erfolglos vorge-
tragen und geprüft wurden fast immer auch im Hinblick auf ein inländisches
Vollzugshindernis prüfen.
ln 96 Fällen (52 %) wurden Gesundheitsämter, z. T. unter Hinzuziehung interner
oder externer Fachärzte gebeten, die Reisefähigkeit und Flugreisetauglichkeit
zu prüfen. ln anderen Fällen wurden direkt (Fach-) Ärzte in Anspruch genom-
men.
An dieser Stelle ist anzumerken, dass Entscheidungen von Gesundheitsämtern
(Amtsärzten) seltener streitbehaftet sind, als die externer Gutachter. Eher zu
Unrecht genießen amtsärztliche Entscheidungen auch bei Gerichten im Ver-
gleich eine höhere Akzeptanz.
Im beobachteten Evaluierungszeitraum waren in 75 Fällen bereits Flüge ge-
bucht. Der Vortrag von gesundheitlichen Abschiebungshindernissen führte in 39
% dieser Fälle zur Stornierung des gebuchten Fluges, und zwar 29-mal um zu-
nächst das Vorbringen zu prüfen. ln 75 % der Fälle wurde im Ergebnis eine
Reisefähigkeit festgestellt.
Viele der dort erhobenen Berichte haben deutlich gemacht, dass der Hinweis
auf das Vorliegen einer PTBS oftmals als der letzte Ausweg gesehen wird, um
eine Reiseunfähigkeit zu begründen und ein Bleiberecht zu erwirken. Aber
selbst dann, wenn eine vorgetragene PTBS fachärztlicherseits bestätigt wird,
führt diese nicht automatisch zu einer Reiseunfähigkeit. Weiter wurde festge-
stellt, dass in einer Vielzahl von Fällen erst im Rahmen des Vollzugs Abschie-
bungshindernisse aus gesundheitlichen Gründen geltend gemacht wurden, die
vorher nicht an die Ausländerbehörden herangetragen wurden. Dies insbeson-
dere bei geltend gemachten psychischen Erkrankungen.
Die genannte Evaluierung hat bestätigt, dass Erkrankungen zumeist erst im Zu-
sammenhang mit der Konkretisierung einer Rückführungsmaßnahme geltend
gemacht werden und die Ausländerbehörden sodann sehr aufwändig und kos-
tenintensiv die vorgetragenen Erkrankungen abzuklären und aufzuklären ha-
ben, ob diese tatsächlich bestehen und inwieweit diese einer Rückführung tat-
sächlich und rechtlich entgegenstehen. Es gibt kaum noch Rückführungen, bei
denen nicht mindestens eine medizinische Begutachtung vorausgegangen ist.
Die größte Herausforderung verursachen dabei weiterhin die überdurchschnitt-
lich oft geltend gemachten psychischen Erkrankungen.
Weitere Erfahrungen aus der Praxis sind z. B.:
Seit dem Jahr 2005 wurden von der ZAB Dortmund insgesamt 224 Fälle zur
medizinischen lnempfangnahme in der Türkei angemeldet. Von diesen Fällen
wurden tatsächlich 156 Fälle rückgeführt. Davon haben lediglich 23 rückgeführ-
te Personen medizinische Hilfe in Anspruch genommen.
Bei von der Bundespolizei organisierten Expertenanhörungen durch Vietname-
sische Delegationen melden sich nach den Erkenntnissen des LABO Berlin 80
% der Anzuhörenden im Vorfeld der Maßnahme mit Attesten krank.
Nach den Erfahrungen des LKA Niedersachsen im Jahre 2014, beruhte fast je-
de fünfte Stornierung in der letzten Phase der Rückführungsmaßnahmen auf
der Geltendmachung eines medizinischen Vollzugshindernisses.
Lösungsvorschläge:
Ein möglicher Lösungsansatz könnte darin bestehen, entsprechendes medizini-
sches Fachpersonal zentral bei den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder ver-
fügbar zu halten. Dort könnte eine von allen Seiten akzeptierte neutrale und
fachlich spezialisierte medizinische Einrichtung zur Beurteilung medizinischer
Fragestellungen vorgehalten werden, die ggf. auch weitere externe Fachmedi-
ziner hinzuziehen oder vermitteln kann.
Erhebliche Synergien könnten sich dadurch ergeben, dass diese medizinischen
Einheiten zugleich die medizinische Versorgung in den Erstaufnahmeeinrich-
tungen sicherstellen könnten (z. B. Überprüfung vulnerabler Personengruppen
im Sinne der Aufnahme-Richtlinie). Auch die den Erstaufnahmeeinrichtungen
angegliederten Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
könnte (z. B. in Dublin-Verfahren) ebenso auf den medizinischen Dienst zu-
rückgreifen wie Ausländerbehörden und Bundespolizei bei kurzfristig zu klären-
den Fragen der Reisefähigkeit. Weitere Synergien kommen hinsichtlich der
Feststellung der Gewahrsamsfähigkeit von vollziehbar ausreisepflichtigen Aus-
ländern in Betracht, die in speziellen Abschiebungshafteinrichtungen unterge-
bracht werden sollen.
Weiterhin sollte bei den Dienststellen der Bundespolizei an internationalen
Flughäfen eine permanente ärztliche Verfügbarkeif gewährleistet sein, um vor
Ort aktuelle Beurteilungen der medizinischen Problemstellungen sowie der
Flugreisetauglichkeit vornehmen zu können."
Entsprechendes hat das BMI auch zeitgleich über Twitter der Öffentlichkeit zu-
gänglich gemacht.
111. Schließlich hat sich Herr Bundesinnenminister Dr. de Maiziere am Samstag, dem
18. Juni 2016, wie folgt ergänzend eingelassen:
"Es gibt auf allen Ebenen Hindernisse bei der Abschiebung. Dazu zählen eben
auch vorgeschobene gesundheitliche Gründe. Das wurde mir und meinem
Haus in vielen Gesprächen mit Praktikern aus den Ländern immer wieder be-
richtet. Es war daher richtig, mit dem Asylpaket II die Hürde für die Geltendma-
chung gesundheitlicher Abschiebehindernisse höher zu legen. ln einem der vie-
len Gespräche, die ich dazu geführt habe, wurde mir auch von einer Quote von
70% der Männer unter 40 Jahren berichtet, die vor einer Abschiebung für krank
und nicht transportfähig erklärt werden.
Dass ich durch meine Antwort in einem Interview den Eindruck erweckt habe,
dass die Zahl von 70% eine allgemeingültige, statistisch belegbare Größe ist
und eben nicht nur ein Erfahrungswert, war nicht meine Absicht. "
IV. Zudem hat Bundesinnenminister Dr. de Maiziere sich am 23. Juni 2017 ausführ-
lich in einer Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag zu diesem Thema geäußert.
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Informationen geholfen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen