Deutsch_BG_2013_L-2-LT-e-gA-Hebbel_geschwrzt.pdf

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „BG Abiturklausuren 2013-2019 SH

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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Themenkorridor 2 Wirklichkeit im Kontext von Sprache, Literatur und Medien – Individuum im Spannungsfeld zwischen Ideal und Wirklichkeit unter besonderer Berücksichtigung von Erzählformen am Beispiel „Frau Jenny Treibel“ von Theodor Fontane Aufgabenart: Literarischer Text erörternd – gA Friedrich Hebbel Barbier Zitterlein (1836) Der erste Textausschnitt ist der Anfang der Novelle. Der verwitwete Friseurmeister (Barbier) Zitterlein und seine Tochter Agathe essen das Abendbrot. Agathe führt den Haushalt. Zitterlein teilt Agathe mit, dass 5 10 dies der letzte Abend sei, an dem sie „recht innig“ zu zweit beisammen seien. Der zweite Ausschnitt findet nach dem Einzug des Gesellen Leonhard, der üblicherweise im Hause des Meisters wohnt, statt. Der Geselle hat um einen freien Abend gebeten, um ins Dorf zu gehen. Diese Gelegenheit nutzt der Meister zu einem Gespräch mit der Tochter, die dem jungen Mann nachschaut. Ausschnitt 1 15 »Der letzte Abend?« fragte Agathe und sah ihren Vater erstaunt an. »Freilich der letzte,« – antwortete dieser – »du weißt, morgen hole ich den Gesellen, und dann ist das vorbei!« »Mein Gott, Vater, ich versteh' Euch nicht. Ich meine, der Gesell soll die 20 Stütze Eures Alters werden; Ihr sollt Ruhe haben, und ein junger Mann, wie der Gesell, kann in die einförmige Stille unsers Hauses recht gut passen: Ihr werdet nicht so oft sitzen und grübeln, und ich –« »Du wirst weniger Langeweile haben, nicht wahr?« – unterbrach Zitterlein sie heftig – »das ist recht, mein Kind, quäle du mich auch!« Seite 1 von 9 Text
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 »Vater, was meint Ihr?« – antwortete Agathe ihm sanft, indem sie sich vor ihn hinstellte – »Ihr wißt, daß ich Euch liebe, und daß ich, wenn Ihr so tiefsinnig zu grübeln sitzt, nicht Langeweile, sondern nur das tiefste 25 30 Mitleid, ja Grausen empfinde.« Zitterlein ergriff ihre Hand und drückte sie an die Brust. Dann sagte er: »Vergib mir, liebe Tochter, ich weiß das ja alles, es kann ja nicht anders sein, denn du bist das einzige Gut, was mir ist, was von Tage zu Tage inniger mit mir verwächst. Aber eben darum – sieh, liebes Kind, ich bin nicht, wie ein Baum, der in der Erde wurzelt und sich von Luft und Sonne ernährt; er braucht sich um seinesgleichen nicht zu bekümmern, aber ich bin ein Mensch, ich muß mit Menschen leben, ich liebe sie sogar, weil sie unglücklich sind. Doch, sie sind mir in der tiefsten Seele verhaßt, wenn sie 35 mir näher treten, ich möchte sie ermorden, wenn sie in mein Haus kommen. Ich will nur dich, nur dich.[…] Und nun muß ich mir selbst den Gesellen holen; ich muß, denn ich bin alt. Der [Geselle] wird nun mit kalter Teufelsfaust in meine heiligsten Gefühle hineingreifen, er wird mir überall störend und zerstörend in den Weg treten, er wird mit uns in 40 45 50 55 einem Hause schlafen, an einem Tische mit uns essen, und ich kann es nun einmal nicht dulden!« »Lieber Vater« – sagte Agathe – »Ihr seid krank! Und doch« – fügte sie leise mit herzzerschneidender Wehmut hinzu – »doch ist er nicht anders, wie immer!« »Nein, Tochter, ich bin nicht krank, ich sehe bloß voraus, wie alles kommen wird. Ach, ich fürchte mich vor meinem Gesellen!«[…] Am andern Morgen war Zitterlein früh aufgestanden und hatte sich nach der nahgelegenen Stadt – er wohnte in dem Kirchdorf Müntzen – aufgemacht, um sich dort aus der Herberge der Bader nach einem Gesellen umzutun. […] Es dauerte auch nicht lange, so kam der junge Gesell von der Polizei, woselbst er seine Papiere hatte in Ordnung bringen lassen, zurück; er war von ansehnlicher Statur, hatte blondes Haar, blaue Augen und viele Freundlichkeit im Benehmen. »Ich gebe aber nur zwanzig Groschen Wochenlohn,« sagte Zitterlein, ohne ihn anzusehen. »Das ist wenig« – antwortete der Gesell – »ich bin vierundzwanzig gewohnt. Aber, ich nehme Euer Anerbieten an. Seht hier meine Kundschaft und meine Arbeitszeugnisse.« Seite 2 von 9 Text
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Berufliches Gymnasium 60 Zentralabitur Deutsch 2013 »Steckt sie nur ein« – entgegnete Zitterlein – »das ist mir einerlei. Nennt mir Euren Namen, laßt Euch einen Schnaps geben und kommt mit mir!« »Mein Name ist Leonhard Ziegler; Schnaps trink' ich nicht.« »Wein ist doch für einen Barbiergesellen, der wöchentlich nur zwanzig Groschen verdient, zu kostbar!« sagte Zitterlein mit einem höhnischen Lächeln, indem er selbst den Schnaps austrank, den er sich hatte einschenken lassen. 65 Zitterlein und Leonhard machten sich bald auf den Weg; sie gingen schweigend nebeneinander her, denn Leonhard mochte sprechen, was er wollte, er erhielt immer eine kurze, oft bittre Antwort und verlor so am Ende die Lust, ein Gespräch fortzuspinnen, was so sichtlich vermieden wurde. […] 70 Ausschnitt 2 »Sieh, liebe Tochter,« – sagte er – »als ich diesen Gesellen annahm, da versprach ich ihm zwanzig Groschen Wochenlohn, Essen und Trinken und 75 80 85 90 eine Kammer zum Schlafen. Alles dieses habe ich ihm gegeben und vollkommen gehalten, was ich ihm versprach. Freundlichkeiten aber habe ich ihm nicht versprochen, und ich sähe es gern, wenn du die deinigen besser zu Rate hieltest. Es schneidet mir durch die Seele, wenn du ihn ansiehst, ich möchte dich schlagen, wenn du mit ihm redest.« »Ihr verlangt das Unmögliche von mir, Vater« – erwiderte Agathe. »Ich kann doch gegen den Gesellen nicht steif und abgemessen sein, als wenn ich von Stein wäre.« »Sollst es auch nicht!« – unterbrach sie Zitterlein. »Bewahre, wenn er dich grüßt, so dankst du ihm, wenn er sagt: es ist schönes Wetter! so sagst du: jawohl. Aber dann eilst du schnell in dein Zimmer zurück und setzest, wenn die Zunge nicht ruhen kann, das Gespräch fort mit dem Kanarienvogel. Teuerste Tochter, wenn du wüßtest, welche entsetzliche Pein du mir dadurch erspartest – du würdest gewiß alles tun, was ich von dir verlange. Wird es dir denn so schwer? Fühlst du dich nicht ebenso fest und unauflöslich an mich gebunden, wie ich mich an dich? Bist du nicht mein Fleisch und Blut? Mir kommst du vor, wie ein Teil meiner selbst; was du denkst und empfindest, ist mein, ich kann mein Eigentum nicht mit einem andern teilen[…].« Seite 3 von 9 Text
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Eine Träne trat dem alten bleichen Mann ins Auge. Agathe warf sich in seine Arme. Plötzlich faßte er ihre beiden Hände, schaute ihr ins Gesicht und sagte: 95 100 »Agathe, willst du mir etwas schwören? Willst du mir schwören, dich nie einem Manne zu ergeben?« Agathe sah ihren Vater lange an, dann legte sie ihre Hände kreuzweis vor die Brust und sprach: »Vater, ich lieb' Euch, so sehr, wie jemals eine Tochter ihren Vater geliebt hat. Das weiß der allmächtige Gott; was soll ich mehr? Ihr quält mich!« (896 Wörter) Seite 4 von 9 Text
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Textvorlage Friedrich Hebbel, Barbier Zitterlein, 1836. http://gutenberg.spiegel.de/buch/2664/1 Die Rechtschreibung folgt der Textvorlage. Erlaubte Hilfsmittel: Rechtschreiblexikon Auswahl- und Lesezeit: 20 Minuten Arbeitszeit: 4 Zeitstunden Aufgabenstellung: 1. Beschreiben Sie die Situation, die in den vorliegenden Textauszügen gegeben ist. 2. Erörtern Sie den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Entfaltungsmöglichkeiten junger Menschen auf der Grundlage der vorliegenden Texte und Ihrer Kenntnisse des Romans „Frau Jenny Treibel“ von Theodor Fontane. 3. Bewerten Sie abschließend den Wert der Auseinandersetzung mit historischer Literatur für den heutigen Leser. Seite 5 von 9 Aufgabenstellung
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Unterrichtliche Voraussetzungen Der Roman „Frau Jenny Treibel“ wird im Rahmen des Unterrichts zu Korridor 2 gelesen. Die Interpretation von Prosatexten ist im Deutschunterricht der Sekundarstufe II immer wieder Unterrichtsgegenstand. Die Schülerinnen und Schüler verfügen über grundlegende Methodenkenntnisse hinsichtlich der Analyse epischer Texte. Texterschließungsmethoden, Formulierung einer Interpretationsthese, begründete Auswahl von Interpretationsaspekten werden geübt. Die Merkmale des poetischen Realismus werden erarbeitet. Lehrplan- und EPA-Bezug – erwartete Schülerleistung – Anforderungsbereiche Aufgabe 1: Beschreiben Sie die Situation, die in den vorliegenden Textauszügen gegeben ist. Die Schülerinnen und Schüler geben mit eigenen Worten Inhalte von Texten aller Art abstrahierend wieder (Lehrplan Deutsch Berufliches Gymnasium, S. 22). Es wird erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler entsprechend den formalen Regeln der Inhaltsangabe den Text zusammenfassend wiedergeben. Die Textauszüge beschreiben die kleinbürgerlichen Verhältnisse in der Handwerkerschaft des 19. Jahrhunderts. Die Tochter führt dem Vater den Haushalt, der sie sehr besitzergreifend liebt und ihr keinen persönlichen Freiraum lässt. Aus Altersgründen ist die Einstellung eines Gesellen notwendig. Der Vater sieht ihn als Eindringling, während die Tochter auf eine Abwechslung im monotonen Alltag hofft. Der Vater ahnt von Anfang an eine Katastrophe, wenn er Einblicke in seine Privatsphäre zulässt. Die Seite 6 von 9 Erwartungshorizont
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Blicke der Tochter deuten ein Interesse an dem jungen Mann an. Für den Vater spitzt sich hier die Gefahrensituation zu, so dass er seine Tochter zu dem Schwur zwingen will, sich niemals einem Mann hinzugeben. Für die Tochter bedeutet dies die höchste Qual. Anforderungsbereich I Aufgabe 2: Erörtern Sie den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Entfaltungsmöglichkeiten junger Menschen auf der Grundlage der vorliegenden Texte und Ihrer Kenntnisse des Romans „Frau Jenny Treibel“ von Theodor Fontane. Die Schülerinnen und Schüler leiten aus der Erarbeitung historischer Kontexte Bedingungen für Lebensgestaltung ab und analysieren Texte im thematischen Kontext (Lehrplan Deutsch Berufliches Gymnasium, S. 27). Die äußeren Bedingungen ähneln sich oberflächlich. In beiden Werken lebt ein verwitweter Vater mit seiner erwachsenen Tochter zusammen. Die Charakterisierung der Väter Zitterlein und Schmidt sollte die sehr verschiedenen Verhaltensmuster und Moralvorstellungen aufzeigen, die dem kleinbürgerlichen beziehungsweise bildungsbürgerlichem Milieu geschuldet sind. Dies wirkt sich auf die Lebensgestaltung der Töchter aus. Agathe lebt geistig und räumlich sehr eingeschlossen, der Vater versteht sie als sein Eigentum und übt moralischen Druck aus, so dass ihr ein unbefangener Umgang mit jungen Männern nicht möglich ist. Corinna Schmidt hat ein größeres Umfeld. Ihre Bildung verschafft ihr den Zutritt zur Gesellschaft des Besitzbürgertums, am Ende bleibt sie aber nur Gast. Auch sie wird innerhalb ihres Standes heiraten. Die Bildung verhilft ihr nicht zu einer umfassenderen Selbstständigkeit. Professor Schmidt lässt seine Tochter gewähren und vertraut ihrer Vernunft. Letzten Endes Seite 7 von 9 Erwartungshorizont
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 weiß er jedoch um die Borniertheit der Klassen und auch, dass sich Corinna wird einordnen müssen. Dieses Wissen ermöglicht ihm eine gelassene Haltung. Die Erörterung und Bewertung berücksichtigt die Verschiedenheit der Charaktere und reflektiert die Konsequenzen der gesellschaftlichen Bedingungen. In der Beurteilung kann auch auf heutige Lebensgestaltung zurückgegriffen werden. Anforderungsbereiche II und III Aufgabe 3: Bewerten Sie abschließend den Wert der Auseinandersetzung mit historischer Literatur für den heutigen Leser. Die Schülerinnen und Schüler ziehen begründete Schlüsse aus den Ergebnissen einer Texterschließung oder -erörterung und urteilen eigenständig (Lehrplan Deutsch Berufliches Gymnasium, S. 29). Beide Texte entsprechen nicht der Erlebniswelt der Gegenwart und vermitteln historische Kenntnisse, die anregen können, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren und nach den Bedingungen von Lebensgestaltung zu fragen. Anforderungsbereich III Seite 8 von 9 Erwartungshorizont
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Bewertungskriterien für die Noten „gut“ und „ausreichend“ Die Note „gut“ verlangt – bei Schwerpunktsetzungen – die differenzierte und kompetente Erfüllung des Erwartungshorizonts, ohne jedoch auf Vollständigkeit im Detail zu drängen. Bewertungen werden begründet und differenzierend dargelegt, ebenso der Bezug zur Literatur der Epoche. In der konkreten Textanalyse wird die methodische Kompetenz überzeugend nachgewiesen. Die sprachlich-stilistische Gestaltung der Arbeit muss flüssig und verständlich und der Aufbau klar gegliedert sein. Für die Note „ausreichend“ genügt es, wenn unter Anwendung grundlegender Interpretationstechniken die Textaussage im Ansatz treffend erarbeitet wird. Der Bezug zur Epoche wird in Grundzügen richtig dargestellt. Die Gedankengänge sollen nachvollziehbar entwickelt und verständlich formuliert sein. Der Aufbau muss erkennbar geordnet und der Stil verständlich sein. Seite 9 von 9 Erwartungshorizont
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