L-1-LT-e-gA-Eichendorf-H_geschwrzt.pdf
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „BG Abiturklausuren 2013-2019 SH“
Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch gA 2016 Themenkorridor 1 Die Poetisierung der Gesellschaft in der Lyrik der Romantik Aufgabenart: literarischer Text – erörternd (gA) Joseph von Eichendorff (1788-1856) Zwielicht (1812) Dämmrung will die Flügel spreiten, Schaurig rühren sich die Bäume, Wolken ziehn wie schwere Träume – Was will dieses Grau‘n bedeuten? 5 Hast ein Reh du, lieb vor andern, Laß es nicht alleine grasen, Jäger ziehn im Wald‘ und blasen, Stimmen hin und wieder wandern. 10 15 Hast du einen Freund hienieden, Trau ihm nicht zu dieser Stunde, Freundlich wohl mit Aug‘ und Munde, Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden. Was heut müde gehet unter, Hebt sich morgen neugeboren. Manches bleibt in Nacht verloren – Hüte dich, bleib‘ wach und munter! (94 Wörter) Seite 1 von 8 Text
Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch gA 2016 Textvorlage Joseph von Eichendorff: Zwielicht. Aus: Fröhlich, H., Regener, U. (Hg): Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kriti- sche Ausgabe. Bd. I/1. Gedichte. Erster Teil. Stuttgart 1993, S. 11 f. Novalis: Brief an den Bruder Karl. Aus: Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Zweiter Band: Philosophische Schriften Werk I. Stuttgart 1965, S. 545. Die Rechtschreibung folgt der Textvorlage. Erlaubte Hilfsmittel: Rechtschreiblexikon Auswahl- und Lesezeit: 20 Minuten Arbeitszeit: 4 Zeitstunden Aufgabenstellung 1. Beschreiben Sie die Stimmung, die durch das Gedicht vermittelt wird. 2. Untersuchen Sie das Gedicht unter Einbezug Ihrer Kenntnisse über die Lyrik der Romantik. 3. Der Frühromantiker Novalis hat 1800 folgende Behauptung aufge- stellt: „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ur- sprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualita- tive Potenzierung. (…) Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein hohes Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, romantisiere ich es.“ Erörtern Sie die Gültigkeit dieser Forderung von Novalis für das Ge- dicht Eichendorffs. Seite 2 von 8 Aufgabenstellung
Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch gA 2016 Unterrichtliche Voraussetzungen Die Interpretation von literarischen Texten ist Gegenstand aller drei Schul- jahre des Deutschunterrichts des beruflichen Gymnasiums. Speziell am Beispiel der romantischen Lyrik im Themenkorridor eins erproben die Schülerinnen und Schüler ausführlich an verschiedenen Gedichten dieser Epoche die Vorgehensweise und den Aufbau von Gedichtanalysen. Dar- über hinaus haben sie sich mit charakteristischen Elementen der romanti- schen Poetik sowie mit deren Anwendbarkeit auf konkrete Gedichte ausei- nandergesetzt. Weiterhin haben sie mehrfach einen Standpunkt zu literari- schen und sachlichen Fragestellungen bezogen sowie dessen schriftliche Begründung mit Argumenten entwickelt. Bezug zu den Bildungsstandards – erwartete Schülerleistung – An- forderungsbereiche Aufgabe 1: Beschreiben Sie die Stimmung, die durch das Gedicht vermit- telt wird. Die Schülerinnen und Schüler können Aufbau, inhaltlichen Zusammenhang und sprachlich-stilistische Merkmale eines Textes geordnet und differen- ziert darstellen (Bildungsstandard 2.2.2). Die Schülerinnen und Schüler geben die stimmungstragenden Elemente im Gedicht an, z. B.: - - - - die Überschrift „Zwielicht“ als Zeitangabe und Sinnbild des Über- gangs zwischen zwei Bereichen, die nähere Beschreibung der Natur in der ersten Strophe, welche in der Dämmerung unheimlich lebendig erscheint, die Inszenierung des Waldes als bedrohliches Idyll, mit wechselseiti- gen Bezügen zwischen den Bildern „niedliches Reh“, „bedrohliche Jagdgesellschaft“ und „nicht zuordnenbaren Stimmen“ in der zwei- ten Strophe, die Gefährdung des Betrachters durch die potenzielle Hinterlist und Falschheit (in der dritten Strophe), die in dieser Übergangszeit in seiner vertrauten Umgebung wirksam werden können, Seite 3 von 8 Erwartungshorizont
Berufliches Gymnasium - Zentralabitur Deutsch gA 2016 die Notwendigkeit, gerade im Wechsel zwischen den Bereichen be- sonders aufmerksam zu sein, um sich vor drohendem Verlust zu schützen (in der vierten Strophe). Anforderungsbereiche I und II Aufgabe 2: Untersuchen Sie das Gedicht unter Einbezug Ihrer Kenntnisse über die Lyrik der Romantik. Die Schülerinnen und Schüler können Inhalt, Aufbau und sprachliche Ge- staltung literarischer Texte analysieren, Sinnzusammenhänge zwischen einzelnen Einheiten dieser Texte herstellen und sie als Geflechte innerer Bezüge und Abhängigkeiten erfassen (Bildungsstandard 2.4.1). Die Schülerinnen und Schüler arbeiten das Verschwimmen der Grenzen zwischen Tag und Nacht als Bedrohung heraus, indem sie auf die vielfältig dargestellte Doppeldeutigkeit der behandelten Motive eingehen, die keine Gewissheit zulässt. Weiterführend deuten sie die Zwiespältigkeit der be- handelten Elemente konsistent im Sinne einer aussagekräftigen und plau- siblen Hypothese, beispielsweise dass die Grenze zwischen vitalen Bedürf- nissen und Emotionen einerseits und rationaler handlungsleitender Er- kenntnis andererseits sehr zerbrechlich ist. Ihre Hypothese stützen sie mit ihren Analyseergebnissen ihrer Textarbeit. Sie bestimmen das Gedicht formal hinsichtlich Strophen- und Versanzahl, Reimschema, Metrik und Kadenzen. Eventuell benennen sie die formale Nähe zum Volkslied (vier Strophen mit jeweils vier Versen, unreiner Reim in der ersten Strophe) als typisches Merkmal romantischer Lyrik. Zudem untersuchen sie den Gedankengang im Gedicht, der das Darge- stellte von der Außenwelt in der ersten Strophe immer näher an den Ad- ressaten heranträgt, bis es in der letzten Strophe den Verlust seines Selbst als Möglichkeit in Aussicht stellt. Die grundsätzliche Verschiedenheit von Innen und Außen einerseits und die Durchlässigkeit zwischen diesen Bereichen andererseits wird von den Schülern sowohl inhaltlich als auch auf der Ebene der Sprachgestaltung analysiert und nachvollziehbar gedeu- tet, z. B.: - die Verwendung imperativer Wendungen (V. 6, V. 10, V. 16) als Warnungen, Seite 4 von 8 Erwartungshorizont
Berufliches Gymnasium - - - - - - - Zentralabitur Deutsch gA 2016 die Funktion der Frage am Ende der ersten Strophe, die Funktion der Parenthese in der ersten und vierten Strophe, den gehäuften Gebrauch expressiver Adjektive, die Personifikationen von Natur („Dämmrung“ V. 1, „Bäume“ V. 2) bzw. die Metapher des Rehs (vgl. V. 5) für die unschuldige Geliebte, den Vergleich zwischen Himmelserscheinungen („Wolken“ V. 3) und unruhigem Gemütszustand („schwere Träume“ V. 3), die Doppeldeutigkeit des Wortes „Grau’n“ (V. 4) für wolkenverhan- genem Abendhimmel einerseits und starke Angstregung anderer- seits, den Antagonismen in der zweiten, dritten und vierten Strophe und andere sinnvolle Lösungen. Die Aufgabenstellung beinhaltet, dass die Schülerinnen und Schüler ihr Wissen über andere Gedichte der Romantik mit einbeziehen. Sie können beispielsweise neben der romantischen Mystifizierung des Waldes als gött- licher Offenbarung eine Verknüpfung mit unheimlichen Assoziationen und Bedrohungsszenarien feststellen. Auch die Nacht als Chiffre für die Sehn- sucht nach tiefgehenden Erfahrungen erhält hier eine Kehrseite der verlo- ckenden, aber unheilvollen Triebkräfte. Eine Ergänzung der textimmanen- ten Vorgehensweise um formale und inhaltliche Bezüge zur Epoche der Romantik ist demnach sinnvoll und ergiebig. Anforderungsbereich II Aufgabe 3: Der Frühromantiker Novalis hat 1800 folgende Behauptung aufgestellt: „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ur- sprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Po- tenzierung. (…) Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Ge- wöhnlichen ein hohes Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekann- ten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, romantisiere ich es.“ Erörtern Sie die Gültigkeit dieser Forderung von Novalis für das Gedicht Eichendorffs. Die Schülerinnen und Schüler können eigene Interpretationsansätze zu li- terarischen Texten entwickeln und diese argumentativ-erklärend darstel- Seite 5 von 8 Erwartungshorizont
Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch gA 2016 len, auch unter Berücksichtigung von Ideengehalt, gattungs- und epo- chenspezifischen Merkmalen sowie literaturtheoretischen Ansätzen (Bil- dungsstandard 2.2.2.). Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, legen die Schülerinnen und Schüler im ersten Schritt ihr Verständnis der Weltromantisierung dar, die Novalis fordert, indem sie die Erklärung des Zitats mit ihrem Vorwissen über die Epoche der Romantik verknüpfen, z.B.: - - - - das romantische Kunstverständnis, speziell von der Aufgabe der Po- esie, die romantische Vorstellung über den Wert von Welterfahrung einer- seits und wissenschaftlichem Erkenntnisstreben andererseits, die Verbindung von Gegensätzlichem in der Kunst, die Naturerfahrung als religiös überhöhte Offenbarung und andere sinnvolle Lösungen. Im zweiten Schritt weisen sie nach, in welchem Umfang und auf welche Art und Weise in dem Gedicht die geforderte „Romantisierung der Welt“ betrieben wird. Dabei nehmen die Schülerinnen und Schüler einen klaren Standpunkt ein und entwickeln auf Grundlage ihrer Analyseergebnisse Ar- gumente für ihre Auffassung. Dabei ist zu erwarten, dass die poetische Darstellung der Ambivalenz der Welt zwischen ihrer Tag- und Nachter- scheinung erkannt wird. So bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten, No- valis‘ theoretische Formel der „qualitativen Potenzierung“ der Welt im Ge- dicht Eichendorffs zu konkretisieren. Auch Novalis Verfahrensvorschläge, wie diese Romantisierung umzusetzen sei, können von den Schülerinnen und Schülern in dem Gedicht überprüft und für ihre Argumentation ge- nutzt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schülerinnen und Schüler in dem Gedicht eine Erfüllung des Postulats von Novalis sehen, ist relativ hoch. Daher liegt der Anspruch bei dieser Aufgabe in der Qualität der Argumente, z. B.: - wie plausibel die Analyseergebnisse aus der zweiten Aufgabe in den Begründungen verwendet werden, Seite 6 von 8 Erwartungshorizont
Berufliches Gymnasium - - Zentralabitur Deutsch gA 2016 wie kompatibel die Aussagen über die romantische Welt- und Kunst- auffassung mit dem Novalis-Zitat sind, wie differenziert die Merkmale des Gedichts „Zwielicht“ ins Verhält- nis zu den Forderungen des Novalis-Zitats gesetzt werden. Anforderungsbereiche II und III Bewertungskriterien für die Noten „gut“ und „ausreichend“ Eine mit „gut“ bewertete Leistung der Schülerin bzw. des Schülers weist einen in sich schlüssigen und am Gedicht nachvollziehbaren Gedanken- gang auf, der der Aufgabenstellung in vollem Umfang gerecht wird. Die Texte sind klar strukturiert und in angemessener Standardsprache mit sachdienlichem Fachvokabular und differenzierter Wortwahl verfasst. Merkmale einer guten Aufgabenbewältigung können unter anderem fol- gende sein: - - - - - - - - - eine Fokussierung auf die zentralen Aussagen sowie deren geord- nete informierende Darstellung in Aufgabe eins, ohne dabei in eine inhaltliche Nacherzählung zu verfallen, eine eindeutige und aussagekräftige Hypothese in Aufgabe zwei so- wie ein eindeutig bezogener Standpunkt in Aufgabe drei, eine nachvollziehbare, gliedernde Zusammenfassung des Gedanken- gangs im Gedicht, die kompetente und schlüssige Analyse relevanter Gedichtaussagen sowie auffälliger sprachlicher und formaler Elemente, eine eigenständige, nachvollziehbare und aussagekräftige Deutung der Analyseergebnisse bezüglich der Hypothese, eine klare Argumentationsstruktur sowie ein stimmiges Fazit in Auf- gabe drei, formal vollständig entwickelte Textformen der Gedichtinterpretation und der anschließenden textgebundenen Erörterung, sinnvoll verwendete fachspezifische Begriffe sowie eine flüssige, verständliche und präzise sprachliche Textge- staltung. Seite 7 von 8 Erwartungshorizont
Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch gA 2016 Eine mit „ausreichend“ bewertete Leistung der Schülerin bzw. des Schü- lers wird den Anforderungen der Aufgabenstellung in ihren Grundzügen gerecht. Merkmale einer ausreichenden Aufgabenbewältigung können un- ter anderem folgende sein: - - - - - - - - - - eine nachvollziehbare, zumindest teilweise gestraffte Darstellung der Gedichtaussagen in Aufgabe eins, das erkennbare Bemühen um eine Hypothese als Leitfrage für die Gedichtinterpretation in Aufgabe zwei ist erkennbar, die grundsätzlichen Merkmale des Gedichts werden behandelt, die Bedeutung der Überschrift „Zwielicht“ wird bei der Gedichtinter- pretation berücksichtigt, die Detailanalysen sind trotz begrifflicher und gedanklicher Un- schärfe nachvollziehbar und verständlich, die Bedeutung des Novalis-Zitats wird überwiegend nachvollziehbar dargelegt, die Frage nach der Gültigkeit des Postulats von Novalis für das Ge- dicht „Zwielicht“ wird beantwortet, die Antwort wird mehrheitlich plausibel begründet, wobei Erkennt- nisse aus der Gedichtanalyse erkennbar und sinnvoll berücksichtigt werden, die Gliederung der Gedichtinterpretation sowie der Erörterung ist er- kennbar und zweckdienlich, der Gedankengang ist überwiegend nachvollziehbar entwickelt und trotz sprachlicher Unsicherheiten bei der Syntax und Wortwahl ver- ständlich formuliert. Seite 8 von 8 Erwartungshorizont