2014-mv-deutsch-aufgaben

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „[IFG] Abituraufgaben der Fächer Mathe, Deutsch und Physik 2012 - 2017

Diese Anfrage wurde als Teil der Kampagne „Frag sie Abi!“ gestellt.

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Mecklenburg-Vorpommern Zentralabitur 2014 Deutsch Aufgaben
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Abitur 2014 Deutsch                                                                 Seite 2 Hinweise für Schüler Aufgabenauswahl:    Wählen Sie von den vorliegenden vier Aufgabenblö- cken einen aus und bearbeiten Sie diesen dem von Ihnen gewählten Anforderungsniveau entsprechend. Bearbeitungszeit:   Für den Block I gilt: Für den Prüfungsteil A beträgt die Arbeitszeit 240 Minuten. Schüler und Schülerinnen, die auf erhöhtem Ni- veau schreiben, bearbeiten nur den Prüfungsteil B. Für den Prüfungsteil B (länderübergreifende Auf- gabe auf erhöhtem Anforderungsniveau) beträgt die Arbeitszeit 300 Minuten. Die Bearbeitung der zweiteiligen Aufgabe B erfolgt in einem geschlosse- nen Aufsatz. Für die Blöcke II, III und IV gilt: Für den Prüfungsteil A beträgt die Arbeitszeit 240 Minuten. Für beide Prüfungsteile A und B beträgt die Arbeits- zeit insgesamt 300 Minuten. Die Bearbeitung von A und B erfolgt in einem geschlossenen Aufsatz. Es stehen Ihnen zusätzlich 30 Minuten für das Einle- sen und für die Wahl des Aufgabenblockes zur Verfü- gung. Hilfsmittel:        Sie dürfen ein Nachschlagewerk zur deutschen Recht- schreibung verwenden. Schülerinnen und Schüler, deren Muttersprache nicht die deutsche Spracheist, könnenals zusätzliches Hilfsmittel ein zweisprachiges Wörterbuch in gedruckter Form verwenden. Näheres regelt die Schule. Hinweis:            Die den Aufgaben zu Grunde liegenden Texte wurden nicht in jedem Fall der neuen Rechtschreibung ange- passt. Sonstiges:          GebenSie auf der Reinschrift den bearbeiteten Auf- gabenblock an und nummerieren Sie die Seiten fort- laufend. Für die Bewertunggilt die Reinschrift. Entwürfe können nur dann ergänzend herangezogen werden, wenn sie zusammenhängendkonzipiert sind und die Reinschrift etwa drei Viertel des erkennbar angestrebten Gesamtumfangs beträgt.
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Abitur 2014 Deutsch                                                                                   Seite 3 Aufgabenblöcke im Überblick Block I Henri Bergson:                               Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen (Textauszug) A        Analysieren Sie den Textauszug und bewerten Sie seine Gestaltungs- und Wirkungsweise. Schülerinnen und Schüler, die auf erhöhtem Niveau schreiben,bearbeiten nur den Prüfungsteil B! B        Länderübergreifende Aufgabe auf erhöhtem Anforderungsniveau Friedrich Christian Delius:                  Der Reichtum Europas 1. Analysieren Sie, wie der Autor Friedrich Christian Delius seine Position argumentativ entwickelt. Berücksichtigen Sie dabei auch ausgewählte sprachliche Mittel. 2. Erörtern Sie die Position des Autors zur Funktion von Kunst und Literatur in der heutigen Gesellschaft. Der Schwerpunkt der Gesamtaufgabe liegt auf der zweiten Teilaufgabe. Block I Axel Marquardt:                              Wunsch und Erfüllung I Jacob und Wilhelm Grimm:                     Die Sterntaler — nurfür Teil B! A        Interpretieren Sie Axel Marquardts Text unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes des Komischen. B        Vergleichen Sie die beiden Texte anhand ausgewählter Aspekte. Block III Christian Dietrich Grabbe:                   Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen. (Szenenauszug) Friedrich Schiller:                          Über naive und sentimentalische Dichtung (Textauszug) — nurfür Teil B! A        Interpretieren Sie den Szenenauszug unter besonderer Berücksichtigung des Komischen. B        Setzen Sie Schillers These zum Komischen in Beziehung zu Grabbes Text. Block IV Heinrich Heine:                              Zur Beruhigung. Erich Kästner:                               Zeitgenossen, haufenweise — nurfür Teil B! A        Interpretieren Sie Heines Gedicht und charakterisieren Sie es als politische Satire. B        Vergleichen Sie beide Gedichte hinsichtlich des Ziels und der Gestaltungsweise der Kritik.
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Abitur 2014 Deutsch                                                                        Seite 4 Block I Henri Bergson:                          Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen (Textauszug) A        Analysieren Sie den Textauszug und bewerten Sie seine Gestaltungs- und Wirkungs- weise. Text zum Prüfungsteil A Henri Bergson (1859-1941) Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen (Textauszug) Feel Wir werden zunächst drei Betrachtungen anstellen, die wir für grundlegend halten. Sie be- ziehen sich weniger auf das Komischeselbst als auf den Ort, wo wir es suchen müssen. [++] Erstens: Es gibt keine Komik außerhalb dessen, was wahrhaft menschlich ist. Eine Land- schaft mag schön, lieblich, großartig, langweilig oder häßlich sein, komisch ist sie nie. Man lacht über ein Tier, aber nur weil man einen menschlichen Zug oder einen menschlichen Aus- druck an ihm entdeckt hat. Man lacht über einen Hut, doch das, worüber man spottet, ist nicht das Stück Filz oder Stroh, es ist vielmehr die Form, die ihm die Menschen gegeben haben,es 10 ist der menschliche Einfall, dem der Hut seine Form verdankt.[...] Zweitens: Das Lachen ist meist mit einer gewissen Empfindungslosigkeit verbunden. Wahr- haft erschüttern kann die Komik offenbar nur unter der Bedingung, daß sie auf einen mög- lichst unbewegten,glatten seelischen Bodenfällt. Gleichgültigkeitist ihr natürliches Element. Das Lachenhat keinen größeren Feind als die Emotion. Ich will nicht behaupten, daß wir über 15 einen Menschen, für den wir Mitleid oder Zärtlichkeit empfinden, nicht lachen könnten — dann aber müßten wir diese Zärtlichkeit, dieses Mitleid für eine kurze Weile unterdrücken. In Gesellschaft reiner Verstandesmenschen würden wir wahrscheinlich nicht mehr weinen, aber vielleicht würden wir immer noch lachen. Ausgesprochen gefühlvolle Seelen dagegen,in de- nen jedes Erlebnis seinen sentimentalen Nachhall findet, werden das Lachen weder kennen 20 noch begreifen. Versuchen Sie nur einmal, an allem, was gesagt und getan wird, Anteil zu nehmen; handeln Sie im Geist mit den Handelnden, empfinden Sie mit den Empfindenden, lassen Sie Ihre Sympathie sich voll entfalten — und Sie werden sehen, wie die gewichtsloses- ten Dinge wie unter der Berührung eines Zauberstabs gewichtig werden, wie alles sich düster färbt. Stellen Sie sich nun abseits, betrachten Sie das Leben als unbeteiligter Zuschauer — und 2a manches Drama verwandelt sich in eine Komödie. In einem Salon, wo getanzt wird, brauchen wir uns nur die Ohren zuzuhalten, damit uns die Tänzer lächerlich vorkommen. Wie viele menschliche Handlungenhielten einer solchen Prüfung stand? Würden nicht viele plötzlich vom Tragischen ins Komische umschlagen, lösten wir sie von der Gefühlsmusik, die sie be- gleitet? Die Komik bedarf also einer vorübergehenden Anästhesie des Herzens, um sich voll 30 entfalten zu können. Sie wendet sich an denreinenIntellekt. Dieser Intellekt muß nun aber mit anderen Intellekten in Verbindung bleiben. Das ist das Dritte, was wir zu bedenken geben wollten. Wir würden die Komik nicht genießen, wenn wir uns allein fühlten. Offenbar braucht das Lachen ein Echo. Hören Sie genau hin: Es ist kein artikulierter, scharfer, abgegrenzter Ton; es ist vielmehr etwas, das immer weiter um sich
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Abitur 2014 Deutsch                                                                                   Seite 5 a9 greift, etwas, das mit einem Ausbruch beginnt und sich rollend fortsetzt wie der Donner im Gebirge. Dieser Widerhall braucht aber nicht ins Unendliche zu gehen. So groß sein Umkreis auch sein mag, es wird immer ein geschlossener Kreis sein. Unser Lachen ist immer das La- chen einer Gruppe. Vielleicht haben Sie in einem Bahnabteil oder in einem Speisesaal schon einmal zugehört, wie Mitreisende einander Geschichten erzählten, die sie — aus ihrem herzli- 40 chen Gelächter zu schließen — zweifellos komisch fanden. Auch Sie hätten gelacht, hätten Sie zu ihrer Gesellschaft gehört, doch da Sie nicht dazugehörten, verspürten Sie nicht die gerings- te Lust zu lachen.[...] Hinter dem Lachen steckt bei aller scheinbaren Offenheit immer ein heimliches Einverständnis, ich möchte fast sagen eine Verschwörung mit anderen wirklichen oder imaginären Lachern. Wie oft ist nicht schon behauptet worden, das Publikum lache im 45 Theater umsolauter, je voller der Saal sei. Wie oft aber heißt es auch, viele komische Effekte ließen sich nicht von einer Sprache in eine andere übersetzen, weil sie sich auf die Sitten und Ideen einer ganz bestimmten Gesellschaft bezögen. Und weil man die Bedeutung dieser bei- den Tatsachen nicht erfaßt hat, sieht man im Komischen nur eine Kuriosität, an der sich der Verstand ergötzt, im Lachen wiederum nichts als ein seltsames Phänomen ohne Zusammen- 50 hang mit den übrigen menschlichen Lebensäußerungen. Daher die Definitionen, die das Ko- mische als geistig wahrgenommene abstrakte Relation zwischen Ideen hinstellen wollen: »In- tellektueller Kontrast«, »spürbare Absurdität« und wie die Begriffe alle heißen. Selbst wenn man annimmt, sie paßten auf sämtliche Arten der Komik, sie würden dennoch niemals erklä- ren, weshalb uns das Komische zum Lachen bringt. In der Tat, warum kann uns diese beson- 33 dere abstrakte Relation, sobald wir sie wahrnehmen, innerlich zusammenziehen, ausdehnen, schütteln, während alle anderen uns kalt lassen? Von daher werden wir das Problem also nicht anpacken. Um das Lachen zu verstehen, müssen wir es wieder in sein angestammtes Element versetzen, und das ist die Gesellschaft; wir müssen seine nützliche Funktion bestimmen, und das ist eine soziale Funktion. [...] Das Lachen muss gewissen Anforderungen des Gesell- 60 schaftslebens genügen. Das Lachen mußeine soziale Bedeutung haben. [...] (e1899) Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Hamburg (Felix Meiner) 2011.
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Abitur 2014 Deutsch                                                                                  Seite 6 Schülerinnen und Schüler, die auf erhöhtem Niveau schreiben, bearbeiten nur den Prüfungsteil B. B        Länderübergreifende Aufgabe auferhöhtem Anforderungsniveau Friedrich Christian Delius:                 Der Reichtum Europas L       Analysieren Sie, wie der Autor Friedrich Christian Delius seine Position argumentativ entwickelt. Berücksichtigen Sie dabei auch ausgewählte sprachliche Mittel. 2,      Erörtern Sie die Position des Autors zur Funktion von Kunst und Literatur in der heutigen Gesellschaft. Der Schwerpunkt der Gesamtaufgabe liegt auf der zweiten Teilaufgabe. Text zum Prüfungsteil B (länderübergreifende Aufgabe auf erhöhtem Anforderungsniveau) Friedrich Christian Delius (*1943) Der Reichtum Europas Vorbemerkung: Friedrich Christian Delius (geb. 1943) istfreier Schriftsteller. Anlässlich der Erweiterung der Europäischen Union hielt er 2005 aufeinem Schrifisteller-Kongress in Rom die unten abgedruckte Rede. [...] Vom Reichtum reden heißt: Von den Gegenmitteln reden, die wir haben, um der Idiotisierung der Gesellschaft zu widerstehen, von den Mitteln, die wir haben, um das Sensorium, das Wissen, den Gemeinsinn zu entwickeln. Von den Mitteln, die Demokratie zu beleben und die schwer erkämpften Freiheiten zu würdigen, zu sichern und zu nutzen. Nach diesen Mitteln brauchen wir glücklichen Eu- ropäer nicht lange zu suchen.In Bibliotheken, Museen, Theatern, ja auch in Konzertsälen, im Internet, in Buchhandlungen, da und dort auch in Kinos, ja selbst in besseren Fernsehprogrammen undeinigen Zeitungen wird dieser Reichtum präsentiert, liegt dort angehäuft, der Kronschatz unserer Zivilisation. Erist nicht schwer zu finden, wir brauchen nur danach zu greifen, Augen, Ohren und Hände aufzuma- chen, es ist wirklich fast wie im Schlaraffenland. 10   Es fehlt nur eines, das Bewusstsein von diesem Reichtum. Also das Glücksgefühl, in einem Schla- raffenland zu leben. Wer sich umschaut in der Welt, selbst in den reichen Ländern der Welt, wird kaum einen solchen Reichtum wie in Europafinden, eine solche Vielfalt von Angeboten, Anregungen, Anstößen, gegen den Mainstream zu denken und zu handeln. Dabei geht es gar nicht umstatistische Vergleiche zwischen den Nationen, um die Zahl der Bücher oder Bühnen oder Filmmeter oder Opern- 15 sitzplätze pro Kopf und Land. Wichtiger ist die Frage, ob wir unser Schlaraffenland wirklich schon entdeckt haben und es zu genießen und weiterzugeben wissen. Dennesfehlt noch eines, die Verantwortung, diesen Reichtum an die nächsten Generationen weiter- zugeben. Mehr und mehr werden die Künste als Zuflucht und Sinnersatz angesehen und gebraucht. Überall fehlt Orientierung, also sucht man sie, wenn nicht in der Religion, dann in der Kunst. [...] Ob 20 das immer gut undrichtig ist, soll offen bleiben, wichtig ist: Hier wird ein Ausgleich gesucht gegen den Trend zum alles dominierenden Schemades Ja oder Nein, On oder Off, In oder Out. Die Künste habennicht-lineare und nicht-entfremdete Tätigkeiten zu bieten. Sie stehen im Widerspruch zur Kos- ten-Nutzen-Moral, und können, wenns gut geht, den größten, weil unberechenbaren und von keinem
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Abitur 2014 Deutsch Seite 7 McKinsey-Kriterium' fassbaren privaten wie Öffentlichen Nutzen haben. Der Hu nger auf diesen 2)    Reichtum ist jedenfalls größer als wir meinen. Und doch wird er als schöne Nebensac he betrachtet, nicht als die geistige Goldmine unserer Demokratien. ee} Menschen,die sich auf Literatur einlassen, sind nicht so leicht zu unterdrücken,poli tisch zu manipu- lieren - denn wer liest, der fragt auch und lernt zu zweifeln. Leute mit Phantasie und Neu gier, mit der Lust aufs Zuhören sind nicht sehr brauchbar für Generäle, Bürokraten, Ayatollahs? un d Meinungsver- 30    einheitlicher welcher Art auch immer. Damit sind sie die eigentliche Avantgarde , das Salz der Gesell- schaft, die wirklich fortschrittlichen, zukunftsorientierten, zukunftstauglichen Kräfte. Die Ironie daran ist, dass sie das meistens gar nicht wissen.[...] Spätestens in zehn Jahren werden die Experten, die heute nur die sogenannte Effizienz gelten lassen, jammern und fordern: ja, wir brauchen mehr Lesebildung, mehr Geisteswissenschaften, me hr Kunst- 35   sinn! Denn meine scheinbar altmodische und altbanale These wird nicht nur von der Erfahr ung, son- dern noch mehr von der neuesten Hirnforschung und Bildungsforschung bestätigt: Ohne musische Fähigkeiten gibt es keine gesellschaftlichen Fähigkeiten, ohne Emotionalität keine Vernunft, ohne ein Sensorium für die Künste gibt es kein Sensorium für Demokratie und Freiheit, ohne die Literatur, beispielsweise, versinken wir in Barbarei. 40       »Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt/ Ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei«, ließ der alte Goethe den Herzog von Ferrara’, also den Politiker sagen. »Wernichtliest, kennt die Welt nicht«, sagte der etwas jüngere Arno Schmidt“. Solche Sätze bilden Europas Fundamente. Gut, man kann nicht von jedermann Begeisterung für die Literatur erwarten. Trotzdem darf die Mi n- 45   derheit, die diesen Reichtum kennt und weitergeben möchte, den heutigen Barbaren durchaus angriffs- lustiger begegnenals bisher. Denn die Fakten sprechen gegen sie. Zum Beispiel gegen die Fernse h- und Mediengewaltigen, die, das ist leider kein Klischee oder Vorurteil, vor allem die Dummheit för - dern und, was nun auch -Langzeitstudien beweisen, dem Publikum Krankheiten aufladen, geistige und körperliche Verfettung, mit der dann die geistige und politische Verwahrlosung einhergeht. Auch im 50   Umkehrschluss gilt der Satz von Daniel Barenboim’: »Wer die Literatur, die Kunst, die Bildung, als o den Dialog nicht fördert, der fördert den Egoismus, den Vandalismus, den Terrorismus.« Deshalb gibt es keinen Grund, nachsichtig zu sein mit den Quotenidioten, Wortabwürgern undBil- dungsvernichtern. Mit Politikern, Elektronik- und Medienindustriellen, die Milliarden investiert ha- ben, um unsere Kinder und mehr und mehr auch die Studenten zu geistigen und körperlichen Krüppeln >3   zu machen. Die Feiglinge vor dem Wort, dem differenzierenden Wort regieren in immer höheren Eta- gen. Sie wollen uns, was Medienvielfalt, Bildung, Buchmarkt usw. angeht, Schritt für Schritt aufs Weltniveau hinabentwickeln. Sie haben die Freiheit, sich mit diesen Argumenten nicht zu beschäfti- gen, die nicht in ihr Vierteljahresprofitdenken passen. Aber wir haben die Freiheit, diese Herrschaften, mit Argumenten, als Barbaren, Vandalen, Kinderschänder und Agenten der Verblödung zu bezeichnen 60   [...]. Eins stehtfest, sie sind von gestern — wenn Europa eine demokratische Zukunft habensoll. (Rechtschreibung und Zeichensetzung folgen der Textvorlage.) Textnachweis: Der abgedruckte Text ist das deutsche Original der in Rom aufItalienisch gehaltenen Rede und online verfügbar unter: http://www.fedelius.de/widerreden/wider_reichtum.html, zuletzt aufgerufen am 13.12.2012. ' McKinsey-Kriterien: ökonomische Bewertungsmaßstäbe, mit denen das Beratungsunternehmen McKinsey die Marktattraktivität von Unternehmen erfasst und beurteilt ? Ayatollah: Titel für hochrangige religiöse Gelehrte im Islam, die auch rechtliche und politische Führungsaufga- ben wahrnehmen können & Herzog von Ferrara: Figur aus Goethes Drama »Torquato Tasso« * Arno Schmidt (1914-1979): dt. Schriftsteller ° Daniel Barenboim (geb. 1942): Pianist und Dirigent, der sich für eine Verständigung der verfeindeten Volks- gruppen im Nahostkonflikt einsetzt.
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Abitur 2014 Deutsch                                                                      Seite 8 Block II Axel Marquardt:                       Wunsch und Erfüllung I Jacob und Wilhelm Grimm:              Die Sterntaler - nur für Teil B! A        Interpretieren Sie Axel Marquardts Text unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes des Komischen. B        Vergleichen Sie die beiden Texte anhand ausgewählter Aspekte. Text zum Prüfungsteil A Axel Marquardt (1943-2011) Wunsch und Erfüllung I Eines Tages erschien Ernst Trabold eine Fee, die sagte zu ihm, er habe drei Wünscheoffen; allerdings könne sie nicht garantieren, daß sie auch in Erfüllung gingen. Na gut, sagte Tra- bold, das sei auch gar nicht nötig, wenn es auch nur einer wäre, der in Erfüllung ginge, solle es ihm schon recht sein. Er überlegte daraufhin einige Zeit, dann hatte er seine Wünsche zu- sammengestellt und trug sie der Fee vor. Ich möchte, sagte er, einen Braun micron, ein Jahresabo der Frankfurter Allgemeinen und das Ewige Leben. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: Und immer genug zu essen und zu trinken und ein warmes Dach über dem Kopf und eine Schreibmaschine mit Typenrad und Korrekturtaste. 10    Das sind schon sechs Wünsche, sagte die Fee, ich hingegen sprach nur von dreien. Na gut, sagte Trabold, dann nehmeich den Rasierapparat, das Ewige Leben und genug Es- sen und Trinken. Nicht Essen und Trinken, sagte die Fee, schon etwas ungehalten, sondern Essen oder Trinken. Essen und Trinken, entgegnete Trabold, gehören zusammen. Nun gut, sagte die Fee, tun wir also so, als gehörten Essen und Trinken zusammen. Dann wollen wir 15  mal schauen. Sie blätterte in einem umfangreichen Verzeichnis und sagte schließlich: Den Rasierapparat mit Netzstecker oder Batteriebetrieb? Batteriebetrieb wäre nicht schlecht, sagte Trabold, ich verreise oft und gern. Den Braun, sagte die Fee, haben wir aber nur mit Netzteil. 220 Volt Wechselspannung. Gut, sagte Trabold, und alsbald erschien vor ihm ein schwarzes, matt glänzendes Kästchen,undals 20  er es aufklappte, lag darin ein wunderschöner fabrikneuer Braun micron. Er freute sich sehr und fragte die Fee, wie es denn mit dem Ewigen Leben beschaffensei. Ewiges Leben, sagte die Fee, ist ein immaterielles Gut; dafür gibt es ein gesondertes Ver- zeichnis. Sie nahm eine andere Broschüre und blätterte darin, indem sie sich für jede Seite die Spitze ihres Zeigefingers anleckte. Schließlich blickte sie auf und sagte bedauernd: Ewig ist 25  nicht, sagte sie, du kannst auswählen zwischen achtzig, neunzig und 103 Jahren, alles andere ist schon vergeben. Wenn ich nur neunzig nehme, krieg ich dann noch das Abo dazu, fragte Trabold listig. Rundschau oder Allgemeine, fragte die Fee. Die FAZ, sagte Trabold. Das ist gut, sagte die Fee, die Rundschauhättest du nicht von mir bekommen. Also in Ordnung: Neunzig Jahre und 30  die FAZ. Undjetzt Essen und Trinken, sagte Trabold, jeden Tag ein Frühstück, ein zweites Frühstück gegen halb elf, um zwölf Uhr dreißig ein leichtes Mittagessen, nachmittags eine Schale Tee mit etwas Gebäck und abends gegen 20 Uhr ein opulentes Dinner, ä la carte. Und am Sonntag können Frühstücke und Mittagessen zu einem Brunch werden.
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Abitur 2014 Deutsch Seite 9 35  Das Frühstück mit Kaffee oder Tee, fragte die Fee. Kaffee, bestimmte Trabold, und ein Ei, vier Minuten, dazu ein Hörnchen, hin und wieder Cornflakes — bitte von Kelloggs — und/oder Ham and Eggs; ich frühstücke gern und reichlich. Die Fee schrieb alles mit. Wurst oder Käse, fragte sie schließlic h. Wurst und Käse, sagte Trabold ungehalten, zu einem guten Frühstück gehört beides. Wurst un d Käse, notierte die 40   Fee, geht in Ordnung. Sie steckte Schreibblock und Stift und alle Unterlagen wieder zurück in ihr Täschchen und erhob sich. Viel Spaß mit dem neuen Rasierapparat, sagte sie, wie du siehst, ist ein prakti- scher Wandhalter dabei. Wirklich praktisch, sagte Trabold, und wie wechselt man das Sche rblatt? Komm, nerv mich 45   nicht, sagte die Fee, da liegt doch bestimmteine Gebrauchsanwei sungbei. Na klar, bestimmt, sagte Trabold, mach dir darüber keine Gedanken. Sie streckte ihm die Hand entgegen, und kaum hatte Trabold sie berührt, war die Fee schon verschwunden. Vergnügt nahm Trabold seinen Braun micron ins Badezimmer mit, las die Ge brauchsanwei- 50  sung durch und rasierte sich sogleich. Dann ging er in den Hausflur, wo bereits die Frankfur- ter Allgemeine Zeitung lag, und nachdem er sie von vorn bis hinten durc hgelesen hatte, war es Mittagszeit. Er setzte sich an den gedeckten Tisch, nahm ein leichtes Mahl und legte sich dann für ein schwaches Stündchen aufs Ohr. Er war’s zufrieden; er hatt e eine gute Wahl ge- tan, dessen war er sich sicher, und die Aussicht auf neunzig unbeschw erte Jahreließ ihn sanft 35  entschlummern. (v1988) Axel Marquardt: Sämtliche Werke. Band 1. Die frühe Prosa. Zürich (Haffmans ) 1988.
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Abitur 2014 Deutsch                                                                                          Seite 10 Text zum Prüfungsteil B Jacob und Wilhelm Grimm (1785-1863 und 1786-1859) Die Sterntaler Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und gar nichts mehr, als die Kleider auf dem Leib, und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkthatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinausins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach »ach, gib mir doch etwas zu essen, ich bin so hun- gerig«. Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot, und sagte »Gott segne dirs«, und ging wei- ter. Da kam ein Kind, das jammerte, und sprach »esfriert mich so an meinem Kopfe, schenk mir doch etwas, womit ich ihn bedecken kann«. Datat es seine Mütze ab, und gab sie ihm. 10 Undals es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind, und hatte kein Leibchen an, und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich kam es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins, und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte »es ist dunkle Nacht, nie- mand sieht dich, da kannst du wohl dein Hemd weg geben«; und gab das Hemd auch noch 15  hin. Und wie es so stand, und gar nichts mehrhatte, fielen auf einmal die Sterne vom Him- mel, und waren lauter harte blanke Taler: und ob es gleich sein Hemdlein weg gegeben, so hatte es ein neues an vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein, und war reich für sein Lebtag. (v1837) Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Herausgegeben von Heinz Rölleke. Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 2007.
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