Sehr geehrter Herr Kanone,
vielen Dank für Ihre E-Mail vom 22. April 2020.
Bei der aktuellen SARS-COV-2 Pandemie handelt es sich um ein sehr dynamisches, multifaktorielles Geschehen. Nicht alle Einflussfaktoren sind bekannt und Vorhersagen sind mit Unsicherheiten behaftet.
Zur Beschreibung der Ausbruchsdynamik der Pandemie eignet sich unter anderem die effektive Reproduktionszahl (R). Diese entspricht der durchschnittlichen Anzahl von Personen, die von einem Fall angesteckt werden unter Berücksichtigung der ergriffen Maßnahmen und der Immunität der Bevölkerung. Es gilt Wenn R > 1, dann steigende Anzahl täglicher Neuinfektionen, Wenn R = 1, dann konstante Anzahl täglicher Neuinfektionen Wenn R < 1, dann sinkende Anzahl täglicher Neuinfektionen.
In Abgrenzung dazu steht die Basisreproduktionszahl (R0). Diese beschreibt, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt, wenn das Virus sich ungehindert verbreiten kann und keine Maßnahmen zur Eindämmung getroffen werden bzw. keine Immunität in der Bevölkerung besteht. Für diese Kennzahl werden für SARS-CoV-2 gegenwärtig Werte zwischen 2,4 und 3,3 geschätzt (siehe
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/N…).
Die effektive Reproduktionszahl lässt sich anhand der dem Robert Koch-Institut übermittelten Daten zu den bestätigten Fällen bestimmen. Allerdings liegen diese Daten mit einem gewissen Meldeverzug vor. Um diesen Meldeverzug auszugleichen und aktuelle Werte von R angeben zu können, wird ein statistisches Verfahren (das sogenannte Nowcasting) vorgeschaltet. Die Anwendung des Nowcastings ist allerdings erst möglich, wenn der maximale Meldeverzug in einem Ausbruch bekannt ist. Dies war im gegenwärtigen COVID-19-Ausbruch ab Ende März der Fall. Anschließend wurde das Nowcasting-Modell über mehrere Tage angepasst und validiert. Die retrospektive Auswertung wurde am 15. April 2020 als Artikel im Epidemiologischen Bulletin 17/2020 auf Grundlage des Datenbestandes vom 13. April 2020 veröffentlicht.
Die Tatsache, dass die effektive Reproduktionszahl seit Anfang März unter der Basisreproduktionszahl liegt, ist eine Konsequenz der Maßnahmen, die zur Eindämmung des Virus getroffen wurden. Wichtige Beschlüsse in diesem Zusammenhang waren hierbei die Absage großer Veranstaltungen (> 1.000 Teilnehmer) in verschiedenen Bundesländern vom 9. März 2020, die Bund-Länder-Vereinbarung vom 16. März 2020 sowie die Einführung eines bundesweiten Kontaktverbots vom 23. März 2020. Die verschiedenen Maßnahmen ergänzen und verstärken sich gegenseitig.
Um den Verlauf der Kurve deuten zu können, sind jedoch nicht nur die Daten der o.g. Beschlüsse relevant. Bereits vor den offiziellen Beschlüssen kann davon ausgegangen werden, dass die Bevölkerung, u.a. durch Informationsmaßnahmen des Bundesministeriums für Gesundheit, des Robert Koch-Instituts und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu Covid-19, effektiv ihr Verhalten verändert und Infektionen vermieden hat. Dies spiegelt sich beispielsweise in der Entwicklung von "social media" Erwähnungen von Themen wie Distanzierung, Individualhygiene und Mund-Nasenschutz bereits ab der Woche vom 9. März 2020 sowie im Rückgang der Bewegungen im öffentlichen Raum basierend auf der Auswertung von Mobilitätsdaten wider. So wurde die effektive Reproduktionszahl positiv beeinflusst.
Für besonders stark belastete Regionen z.B. Heinsberg, Tirschenreuth, Rosenheim und Miesbach sind darüber hinaus Eindämmungsmaßnahmen zum Teil früher und restriktiver als von der Bundesregierung vorgeschlagen veranlasst worden. Dadurch konnte die Ausbreitung schon lokal begrenzt werden.
Die Einführung des bundesweit umfangreichen Kontaktverbots führte zu einer Stabilisierung der effektiven Reproduktionszahl auf einem Niveau unter 1 oder nahe bei 1. Die Tatsache, dass die Anzahl der Neuerkrankung nach dem 23. März 2020 zunächst stagniert und nicht weiter sinkt ist u.a. dadurch zu erklären, dass sich das Kontaktverbot nur auf Kontakte außerhalb geschlossener Settings wie Haushalte oder Altenheime bezieht. Das heißt, dass auch nach dem 23. März 2020 innerhalb dieser Settings noch Übertragungen stattgefunden haben. Es ist davon auszugehen, dass die effektive Reproduktionszahl ohne das Kontaktverbot wieder angestiegen und sich der Basisreproduktionszahl angenähert hätte. Genau hier setzt das bundesweite Kontaktverbot an: Durch die Kontaktreduktion im öffentlichen Raum wird der "link" zwischen den unterschiedlichen Settings entfernt, so dass die einzelnen Geschehen in sich beschränkt bleiben. Nach dem 4. April 2020 kommt es dann zu einem weiteren deutlichen Rückgang der Anzahl von Neuerkrankungen.
Bezogen auf die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ist zu betonen, dass noch immer von keiner nennenswerten Immunität in der Bevölkerung auszugehen ist. Eine unkontrollierte Lockerung der Maßnahmen und eine Rückkehr zu „prä-Pandemie-Verhalten“ würde somit zu einem erneuten Anstieg der täglichen Fallzahlen und einer Annäherung der effektiven Reproduktionszahl an die Basisreproduktionszahl führen.
Für die Bewertung des Verlaufs der Pandemie und der Wirksamkeit/Notwendigkeit von Maßnahmen ist es wichtig, weitere Kriterien heranzuziehen. Hierzu gehören u.a. die absolute Zahl der täglichen Neuinfektionen sowie die Schwere der Erkrankungen. Um die Pandemie dauerhaft kontrollieren zu können, muss die Zahl schwerer Neuerkrankungen klein genug sein. Das ermöglicht erstens eine effektive Kontaktpersonennachverfolgung mit Unterbrechung von Infektionsketten durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Zweitens reduziert sich dadurch die Zahl der intensivpflichtig zu behandelnden Patientinnen und Patienten, sodass die sukzessiv gesteigerten Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht überlastet werden. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf dem Schutz der vulnerablen Personengruppen (z.B. ältere Personen bzw. Personen mit Vorerkrankungen).
Mit freundlichen Grüßen
https://fragdenstaat.de/account/go/4274… - Kausalität oder Korrelation - habe ich zum gleichen Sachverhalt eine Anfrage gestellt, die offenbar unter das ifg fällt