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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Kirchliches Arbeitsrecht: Teilnehmerkreis und Stellungnahmen von BundesverfassungsrichterInnen bei den „Essener Gesprächen zum Thema Staat und Kirche“

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1. Kann ein politisches und rechtliches System letztlich gefüllt überleben, wenn im „kommunikativen Prägeraum der Gesellschaft“ wächst, was den „normativen Signaturen einer freien und humanen Gesellschaft entgegenläuft“ (di Fabio, 21) Ernst-Wolfgang Böckenförde hat 1967 in einem berühmt gewordenen Diktum formuliert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Wie aber kann die hierfür notwendige moralische Substanz und Verantwortung der Grundrechtsträger zustande kommen und welchen Beitrag können Staat und Gesellschaft hierzu leisten? Böckenförde hat in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, „ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger 1 vermittelt.“ Vor fast vierzig Jahren, als diese Worte geschrieben wurden, war mit der Religion die christliche Religion gemeint. In der religiös und weltanschaulich ausdifferenzierten Gesellschaft reicht das nicht mehr aus. Auf welchem allen gemeinsamen Humus sollen also heute die erforderlichen inneren Antriebe und Bindungskräfte wachsen? M.E. führt hierbei folgende Überlegung weiter: Allen Religionen, ob Christentum, Judentum oder dem Islam, ist eine sozial und moralisch stabilisierende Funktion eigen. Religion verbindet die Gläubigen untereinander, hilft bei der Bewältigung von Ungewissheiten und Zweifelsfragen des Lebens und gibt 2 Sicherheit. Andererseits kann Religion auch eine destruktive Komponente aufweisen, nämlich dann, wenn sie verhärtet, zur Verweigerung des Dialogs und zur Abschottung, zur mangelnden Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden und zur Beschneidung von Freiheitsräumen Dritter führt. Im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz wird es darum gehen zu ergründen, inwieweit es dem nach Institutionalisierung und Gleichstellung mit den christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften strebenden Islam in seiner ganzen Vielfalt gelingt, als konstruktiver Faktor, als stabilisierendes Element in unserem Gemeinwesen mitzutun. Es ist hohe Zeit, die Muslime bei der Gestaltung dieses Landes ernsthaft einzubeziehen und ihnen zu helfen, eigenständige Wege zu finden zu einem Islam, der ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich als Muslime in einem pluralistischen und säkularen Gemeinwesen zurecht zu finden und zugleich ihren Glauben in lebendiger Weise zu entfalten. Letztlich muss der entscheidende Beitrag hierfür aber von den Muslimen selber ausgehen. Die Einführung von islamischem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und die Einrichtung von Lehrstühlen für islamischen Theologie kann helfen, auf diesem Weg voran zu kommen. Die Akzeptanz des Grundgesetzes bietet das hierfür notwendige allen gemeinsame Fundament. Die Muslime können zur Stärkung dieses Fundaments Einiges beitragen, was vielen von uns verloren zu gehen droht: die Betonung der Wichtigkeit der Familie, den Respekt vor dem Alter, den Respekt vor der Religion. Es geht darum, zu erkennen, was uns – ob Christen, Juden, Muslime und Atheisten - miteinander verbindet. Es geht darum, zu sehen, dass – um ein weiteres Diktum von Böckenförde aufzugreifen - der Staat des Grundgesetzes in 1 Böckenförde (Anm. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 230. 2 Böckenförde (Anm. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 434; Heinig (Anm. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 202 f. 1
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seiner Weltlichkeit nicht etwas Fremdes, der Religion Feindliches ist, sondern vielmehr eine Chance der Freiheit, die zu verwirklichen unser aller Aufgabe ist. Keine Möglichkeit, zwischen kulturfremden Religionen zu unterscheiden und schon seit jeher ansässigen Religionen, die in Deutschland kulturprägend waren und sind. Selbstbestimmungsrecht im Rahmen der geltenden Gesetze Körperschaftsstatus – Zuwendung zum Staat, kein Agieren gegen Grundprinzipien der verfassungsmäßigen Ordnung Islamischer Religionsunterricht – kein Gegenunterricht Privatschulen – wenn Ersatzschulen – dann sind Anforderungen zu erfüllen, die die Schulgesetze fordern 2. Wie sehen Sie den Bedeutungswandel vom eher institutionellen Staatskirchenrecht zum eher grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht (Verschränkung von Art. 4 mit Art. 140). Gibt es einen Bedeutungswandel in der Verfassungsinterpretation, wie von Stefan Korioth angenommen? I. Ich denke schon, dass es diesen Bedeutungswandel gibt und zwar in dem Sinne, dass man heute darauf schaut, ob das bestehende Staatskirchenrecht die Herausforderungen insbesondere der religiösen Pluralisierung und Individualisierung bewältigen kann. Religionssoziologische Veränderungen. Das traut man einem vornehmlich religionsfreiheitlich grundierten Religionsverfassungsrecht eben eher zu als einem Staatskirchenrecht, das allein schon von der Begrifflichkeit her auf die christlichen Kirchen zugeschnitten scheint. Man möchte sich entfernen von dem ausschließlich institutionellen Verständnis der Weimarer Kirchenartikel, um deutlich zu machen, dass diese Artikel, soweit sie den Religionsgemeinschaften bestimmte Tätigkeitsfelder und Kooperationsmöglichkeiten mit dem Staat eröffnen, allen Religionsgemeinschaften gleichermaßen offen stehen. Dies ist der Fall, allein die Erfüllung der Voraussetzungen für diese Kooperation fällt manchen Religionen, namentlich dem Islam in seiner ganzen Vielfalt schwer. Mit dem Diskriminierungsverbot wegen der religiösen/weltanschaulichen Anschauung hat das Grundgesetz in Zusammenschau mit Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG iVm Art. 136 Abs. 1 und 2 WRV sowie dem Verbot der Staatskirche in Art. 137 Abs. 1 WRV das Neutralitätsprinzip normativ verankert. Ungeklärt und umstritten ist allerdings, was Gleichbehandlung der Religionen in Hinblick auf das Neutralitätsprinzip bedeutet. Insoweit werden Stimmen laut, die über eine stärker gleichheitsrechtliche Deutung der Religionsfreiheit Anfragen insbes. an das bestehende religionsverfassungsrechtliche ... System stellen, das zwar theoretisch gleichermaßen offen für alle Religionen sei, namentlich auch den Islam, durch seine Ausrichtung an der tradierten Stellung der christlichen Großkirchen in der Praxis die Einlösung des Gleichheitsversprechens doch schuldig bleibe. Demgegenüber ist zu konstatieren, dass gegen das prinzipielle Festhalten an den geltenden religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen nicht per se der Umstand spricht, dass es Religionen wie dem Islam wegen ihres religiösen 2
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Selbstverständnisses Schwierigkeiten bereitet, die institutionellen Vorbedingungen für eine Kooperation mit dem Staat zu erfüllen. Denn die institutionellen Bestimmungen des Religionsverfassungsrechts können nicht ohne weiteres von ihrer historischen Folie abgelöst und beliebig auf die Bedürfnisse und Anforderungen neu hinzugekommener Religionen zugeschnitten werden. Die sich hieraus ergebenden Unterschiede in Hinblick auf das Potential einer Religion, die Kooperationsangebote des Staates anzunehmen, sich also etwa als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu konstituieren oder als Ansprechpartner im Rahmen des Religionsunterrichts zu dienen, können daher nicht von vornherein als verbotene Diskriminierung gelten. Gleichzeitig muss aber deutlich sein, dass das religionsverfassungsrechtliche System für die Einbeziehung hinzugekommener Religionen offen ist. Diese Offenheit kann sich nicht nur als Hilfe für die Integration dieser Religionen und ihrer Anhänger erweisen, sondern sie dient auch der Stabilisierung des Systems selbst im Sinne der Stärkung seiner Legitimität. So wäre es nur schwer hinzunehmen, wenn der großen Gruppe der Muslime der Zugang zu den institutionellen Formen der Kooperation mit Staat auf Dauer versperrt bliebe. Insbesondere im Bereich des islamischen Religionsunterrichts liegt trotz aller Fortschritte weiteres Potential für eine Weiterentwicklung und Flexibilisierung. Dies ist freilich eine rechtspolitische Frage, die durch die Anwendung des Diskriminierungsverbots nicht beantwortet werden kann. Dennoch ist damit ein problem angesprochen, das ich mit Abwehr multikulturalistischer Sonderregelungen und die Legitimationsprobleme des Staatskirchenrechts überschreiben würde Man könnte nun sagen: Das Staatskirchenrecht regelt religiöse sonderbedürfnisse - beispiel Arbeitsrecht und zwar man könnte sagen - in multikulturalistischer Manier - kommt das GG partikularen Lebensformen (und das kann man heute evtl. sogar so sagen) sehr entgegen und gibt ihnen Raum. Man könnte weiter sagen, dass es strukturell keinen Unterschied macht, wenn die Kirchen ein spezifisches Arbeitsrecht haben und die islamischen Organisationen ein eigenes Familien- und erbrecht haben möchten. Das erzeugt schon ein Legitimationsproblem in einer religiös pluralistischen Gesellschaft, das ich jetzt nicht sofort grundrechtlich unterlegen würde. Aber das Staatskirchenrecht ist eben so wie es ist und was die geltung des islamischen Familien- und erbrechts angeht, so bestehen dagegen erhebliche grundrechtliche Einwände, die jedenfalls im Grundsatz nach der Rechtsprechung des BVerfG gegen das kirchliche Arbeitsrecht nicht bestehen. Wichtig ist dann aber eine hinreichende Flexibilität des Staatskirchenrechts, damit die bestehenden Regelungen für die neu hinzugekommenen Religionen wie den Islam nicht nur auf dem Papier stehen. Aber auf Kernelementen muss man bestehen, weil sonst Freiheitsgefährdungen entstehen - klare Mitgliedschaftsregelungen, Repräsentationsregeln - Wer spricht für wen? II. Außerdem bestehen Unsicherheiten und Fragen an die Rolle von Religionen bzw. Religionsgemeinschaften, bei denen Zweifel mit ihrer Kompatibilität mit den wesentlichen Grundaussagen des GG bestehen. Soll der Staat hier - im Rahmen des institutionellen staatskirchenrechts - eine besondere Nähe pflegen und den Religionsgemeinschaften kraft der Bestimmungen der WRV eine privilegierte Stellung im Verhältnis zum Staat, im öffentlichen, aber eben auch im staatlichen raum einräumen? 3
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III. Ich möchte hier aber doch auf zwei Aspekte hinweisen, die man bei dieser nicht nur semantischen vErschiebung der Gewichte beachten sollte. Institutionelle Bestimmungen unter Art. 140 GG dienen auch dem Freiheitsschutz der Religionsgemeinschaften - Beispiel: Kirchliches Arbeitsrecht - EuGH - rein gleichheitsrechtliche Sichtweise, keine freiheitsrechtliche Sichtweise Diese freiheitliche Sichtweise dient dem Schutz der Autonomie, der Selbstbestimmung in Art. 137 Abs. 3 GG - Dies betont das BVerfG in seiner Rechtsprechung und stärkt damit eine religionsverfassungsrechtliche Sicht auf die institutionellen Bestimmungen der WRV. Aber es gibt einen institutionellen Überhang. Verhältnis von kirchlicher und staatlicher Selbstbestimmungsbefugnis lässt sic h aber allein mit dem grundrechtlichen Schema der Eingriffsabwehr und Eingriffsrechtfertigung nicht erfassen. Art. 137 Abs. 3 WRV anerkennt, dass Religionsgemeinschaften bei Tätigkeit in ihren Angelegenheiten aufgrund eigenen Rechts handeln und selbstbestimmte Gewalt ausüben. Im Bereich der Selbstverwaltungsgarantie stellen sich damit auch die schwierigen Abgrenzungsfragen zwischen kirchlicher Selbstbestimmung einerseits, staatlichem Arbeitsrecht, Datenschutzrecht, Baurecht u.a. andererseits. Art. 137 Abs. 3 WRV weist Elemente grundrechtsähnlicher als auch institutioneller Gewährleistung auf. Art. 137 Abs. 3 WRV ist damit eine Art Kollisionsnorm zwischen den Sphären des Staates und der Religionsgemeinschaften Art. 137 Abs. 1 WRV - Trennungsgrundsatz - Religionsfreiheit lässt sich auch in Staaten mit einer Staatskirche gewährleisten, d.h. die rein grundrechtliche Sicht kann diesen überschießenden institutionellen aspekt nicht auffangen. Körperschaftsstatus - spezifisch staatskirchenrechtlicher Überhang an institutioneller Verankerung. Er lässt sich nicht ausschließlich als Ergebnis und Entfaltung grundrechtlicher Betätigung erfassen, auch wenn er dort seine Wurzeln hat. Kirchen bewegen sich im Bereich des Öffentlichen - Staat und Kirchen übernehmen zusammen Verantwortung für die Pflege von Gemeinschaftsinteressen - besondere Zuordnung zum Staat. - Beschränkungen aus Zeugen Jehovas-Entscheidung - Bindung an die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien - keine Gefährdung dieser Grundsätze durch künftiges Handeln. Eine solche Bindung lässt sich Religionsgemeinschaften, die nicht Körperschaften sind, nicht ohne weiteres auferlegen, sondern nur die Bindung an das geltende Recht/Rechtstreue. IV. Insgesamt denke ich doch, dass die Kirchen, aber auch die Religionsgemeinschaften eine Verantwortung für den freiheitlichen Staat in dem Sinne tragen, dass er um ihrer selbst willen in seiner Freiheitlichkeit und Säkularität erhalten bleibt. Der freiheitlich- säkulare Staat ist grundbedingung für die Freiheit von Religion und weltanschauung in der religiös/weltanschaulich pluralen Gesellschaft. Das ist natürlich keine Verantwortung, die irgendwie eingeklagt und rechtlich gefordert werden könnte, aber es ist doch eine Verfassungserwartung, die den staatskirchenrechtlichen Bestimmung des GG zugrunde liegt. Für bestimmte Formen der Kooperation wie etwa die Verleihung des Körperschaftsstatus, aber auch Militär- und Krankenhausseelsorge, im Bereich der Jugendhilfe, des Religionsunterrichts kann auch mehr verlangt werden als 4
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die reine Rechtstreue, zumindest ein Verhalten, was die grundlegenden Prinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG nicht gefährdet. - Religionsgesellschaften (darunter die Kirchen) haben dem freiheitlichen Staat Einiges zu bieten. Sie leisten ihm affirmative wie kritische Dienste, etwa bei der sittlichen Erziehung, Aufgaben in Diakonie, Kultur- und Denkmalpflege, Friedhofsverwaltung. Sie können aber auch kritischer Spiegel für den Staat sein, eine Art öffentliches Gewissen - dazu gehört natürlich Glaubwürdigkeit - - „Kirche und Staat instrumentalisieren sich nicht gegenseitig, aber sie kooperieren.“ Aber die religionssoziologischen Veränderungen stellen natürlich die Erfüllung der Verfassungserwartungen in Frage - auch andere Institutionen und andere Religionsgemeinschaften können etwas beitragen zur Sicherung der ethischen Substanz des freiheitlichen Verfassungsstaates - deswegen ist es auch so wichtig, dass die Weimarer Bestimmungen so verstanden werden, dass sie inklusiv sind und nicht bestimmte Religionen ausschließen wie etwa den Islam - - - - - - 3. Wird die Veränderung einer moralischen Reputation der Kirchen (Missbrauch) Auswirkungen auf die Auslegung, auf die sehr konkrete Gestaltung der staatskirchenrechtlichen Normen haben? Glaubwürdigkeit der Kirchen - Grundlage für fortbestehende Akzeptanz der staatskirchenrechtlichen Normen - diese gelten natürlich weiter, aber bislang doch wohlwollende Auslegung - die Autonomie in besonderer Weise beachtende Auslegung Rechtlich-institutionell: Glaubwürdigkeit der Kirche als Träger und Vermittler ethischer Grundüberzeugungen ist Grundlage der Verfassungserwartungen, die sich mit dem Staatskirchenrecht verbinden und es legitimieren. Im politischen Raum: Die besondere Stellung der Kirchen wird im politischen Raum in Frage gestellt. 4. Fragen zu den Arbeitsverhältnissen im kirchlichen Dienst (nach BAG Entscheidung). Ansgar Hense verweist auf die Argumentation mancher, nach der die kirchenfreundliche Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes (durch Europa) korrigiert würde. Er selbst verweist auf das Urteil aus dem Jahr 2015 und den verfassungsrechtlich „ausbalancierten Anforderungen an das kirchliche Arbeitsrecht“. Können Sie sich dieser Einschätzung anschließen? 5. Bei einer Tagung des Richterbundes in Mainz im vergangenen Jahr sprachen auch Sie über das Verhältnis von Islam und Recht. Sie erinnerten daran, dass die 5
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Religionsfreiheit nicht per se Vorrang vor anderen Rechten habe. Bei der Tagung wurde darauf hingewiesen, die Hälfte der Muslime in Deutschland sehe einen Konflikt zwischen dem deutschen Recht und dem Islam. Ist der Rechtsstaat, wie die SZ es formulierte, gelähmt, wenn sich jemand auf die Religionsfreiheit beruft? 2) Art. 4 GG unter Veränderungsdruck In der Literatur ist verschiedentlich von einer Entgleisung des Gewährleistungsinhalts der Religionsfreiheit die Rede und wird eine Begrenzung auf einen Kernbereich, auf kultische 34 Handlungen oder religiös zwingende Gebote gefordert. Das Bundesverfassungsgericht hält 5 indes an dem weiten Verständnis des Schutzbereiches der Religionsfreiheit fest. Andere Stimmen wiederum setzen an den Schranken der Religionsfreiheit an und möchten Art. 4 GG 6 unter einen Gesetzesvorbehalt stellen. Denn waren in einer religiös weithin homogenen Gesellschaft Eingriffe in die Religionsfreiheit nur selten zu besorgen, steige der Regulierungsbedarf in sich religiös, zumal in der Folge von Migration ausdifferenzierenden 7 Gesellschaften. Allgemeine Gesetze, die nicht auf die Lenkung von typisch religiösem Verhalten zielen, könnten – mittelbar – Rückwirkungen auf religiös motiviertes Handeln haben. Diese Rückwirkungen seien umso häufiger, je weiter der Regelungsanspruch einer Religion in den so genannten weltlichen Bereich hineinreicht. Beim Islam sei dies in weitem 8 Umfang der Fall. Diese Analyse trifft zu; freilich bringt auch der Rückgriff auf die bisherige Schrankendogmatik bei richtiger Handhabung regelmäßig angemessene Ergebnisse hervor. Außerdem sollte der Unterschied zwischen vorbehaltlos gewährleisteten und unter 9 Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrechten nicht überschätzt werden. So kann bei der für eine Beschränkung religiöser Freiheit vorzunehmenden Abwägung durchaus berücksichtigt werden, ob dem Grundrechtsträger zugemutet werden kann, den Konflikt mit dem 3 Waldhoff (Fn. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 68 ff.; ähnlich Pauly/Pagel, Die Gewährleistung ungestörter Religionsausübung, NVwZ 2002, S. 441, 442; Kästner, Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit?, JZ 1998, S. 974, 982; Mückl (Fn. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 102 ff. 4 Vgl. näher die in der vorigen Fn. genannten Nw. sowie Heinig/Morlok, Von Schafen und Kopftüchern. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit in Deutschland vor den Herausforderungen religiöser Pluralisierung, JZ 2003, S. 777, 778; Kästner, Das Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung, AöR 123 (1998), S. 444, 445 ff.; Rathke, Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt, 2005, S. 44 ff.; Walter, Religionsverfassungsrecht, 2004, S. 496 ff., alle m.w.N. 5 So aber Schoch, in: Bohnert u.a. (Hrsg.) Verfassung – Philosophie – Kirche, FS Hollerbach, 2001, S. 149, 158 f.; Kästner (Fn. 3), S. 980; Mückl (Fn. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 116. 6 So insbesondere Starck (Fn. Fehler! Textmarke nicht definiert.), Art. 4 Rn. 84 ff.; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 224 ff.; Kästner (Fn. 3), S. 982; nunmehr auch BVerwGE 112, S. 227, 230 f.; das BVerfG lehnt die Anwendung der Art. 136 WRV i.V.m. Art. 140 GG bislang kategorisch ab, vgl. nur BVerfGE 33, S. 23, 30 f. 7 Heinig/ Morlok (Fn. 4), S. 780. 8 Matyssek (Fn. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 158 ff. 9 Waldhoff (Fn. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 75. 6
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10 entgegenstehenden Gesetz zu vermeiden , oder ob es sich aus der Sicht des Betroffenen um eine zwingende religiöse Vorgabe handelt oder nicht. Die Religionsfreiheit ist trotz ihres erheblichen Gewichts kein Obergrundrecht, das per se anderen Verfassungsrechtsgütern vorgeht. So wenig das Grundgesetz die Ausübung grundrechtlicher Freiheit von vornherein davon abhängig macht, dass sie sich in vertrauten religiösen oder kulturellen Bahnen bewegt, so wenig privilegiert es andererseits den religiös motivierten Grundrechtsgebrauch als solchen. Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, wie weit im Einzelfall die Freiheit geht, entsprechend religiöser Anforderungen zu leben. Beschränkungen von Freiheitsrechten sind zulässig zum Schutz der Freiheit anderer und von wichtigen Gemeinschaftsgütern sowie unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Dies muss der Gesetzgeber beachten und Verhaltensanforderungen grundsätzlich so gestalten, dass sie von vornherein keine unzumutbaren Anforderungen an den Einzelnen stellen. Ergibt sich im Einzelfall dennoch ein Konflikt, also kollidieren religiös motivierte Verhaltensgebote mit dem allgemeinen Gesetz, 11 stellt sich die Frage, ob die Verfassung hier nicht die Zulassung einer Ausnahme gebietet. Die Konflikte sind vielfältiger Art und eine einheitliche Antwort gibt es nicht. Maßgeblich für die Lösung ist das Gewicht der beteiligten Interessen, die miteinander in Ausgleich zu bringen sind. 12 Freilich sind die gesetzlichen Grenzen des Freiheitsgebrauchs Teil der allgemeinen Rechtsordnung und gelten daher für jedermann. 13 Die gesetzgeberische Konkretisierungsentscheidung über die Zuordnung der konfligierenden Rechtsgüter muss 14 daher prinzipiell beachtet werden. Religionsfreiheit immer Es ist deswegen problematisch, wenn im Namen der selbstverständlicher Ausnahmen vom allgemeinen Gesetz 15 eingefordert und zugelassen werden. Hierdurch entsteht die Gefahr, dass die Rechtsordnung 10 Sehr weit in diese Richtung ging das Bundesverwaltungsgericht, als es entschied, dass der Konflikt eines religiösen Speisegebots (Verbot des Verzehrs von ungeschächtetem Fleisch) mit einer entgegenstehenden Rechtsnorm durch den Verzicht auf eine Ernährung mit Fleisch vermieden werden könne, BVerwGE 99, S. 1, 7 f.; nunmehr modifiziert in BVerwGE 112, S. 227 ff.; anders BVerfGE 104, S. 337, 350. 11 Grimm (Fn. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 122 ff. 12 Heinig/Morlok (Fn. 4), S. 782; näher zu den Abwägungskriterien Grimm, Multikulturalität und Grundrechte, in: Wahl/Wieland (Hrsg.), Das Recht des Menschen in der Welt, 2002, S. 135, 144 ff. 13 Mückl, Trennung und Kooperation, in: Kämper/Thönnes (Hrsg.) Essener Gespräche. zum Thema Staat und Kirche, Band 40 (2007), S. 41, 59; Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2008), S. 7, 35 ff.; Volkmann, Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht? in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008, S. 245, 247 f. 14 Heinig/Morlok (Fn. 4), S. 783; Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2008), S. 47, 78 ff., 15 Sacksofsky (Fn. 13), S. 36; Kästner (Fn. 3), S. 982; Dreier, Religion und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008, S. 11, 24 f.; vgl. auch den soziologisch geprägten Ansatz von Roellecke, NJW 1991, S. 2441, 2446. der die Freiheitsrechte des Grundgesetzes als Schutz von Subsystemen klassifiziert. Wird jedoch einem solchen „Subsystem“ eine uneingeschränkte oder weitreichende Freiheit zuerkannt, mutiert dieses zu „dem universellen System“ unter Verdrängung der anderen „Subsysteme“. 7
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in ihrer Normativität grundsätzlich in Frage gestellt wird. Ihre integrierende, gerade in der 16 gleichmäßigen Anwendung liegende Kraft, kann sie dann nicht entfalten. Die Pflichtenstellung der Bürger kann – um mit Horst Dreier zu sprechen - eben nicht beliebig abgestuft werden. An der Schulpflicht wird dies besonders deutlich. Das Bundesverfassungsgericht sieht in ihr den Ausdruck des berechtigten Interesses der Allgemeinheit, (ich zitiere) „der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten «Parallelgesellschaften» entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Integration setzt dabei nicht nur voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt; sie verlangt auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzen und 17 sich einem Dialog mit Andersdenkenden und –gläubigen nicht verschließen.“ Ausnahmen 18 von der allgemeinen Schulpflicht sind daher verfassungsrechtlich im Prinzip nicht geboten ; anders liegt dies nur bei Vorliegen eines nicht auflösbaren Gewissenskonfliktes, etwa dann, wenn sich eine muslimische Schülerin wegen der aus ihrer Sicht verbindlichen Bekleidungsvorschriften des Koran außerstande sieht, am koedukativen Sportunterricht 19 teilzunehmen und zumutbare Alternativen nicht zur Verfügung stehen. Weitergehende 20 Ansprüche auf Unterrichtsbefreiung sind vor den Gerichten bislang gescheitert. Dies hat das 16 Dreier (Fn. 15), S. 24. 17 BVerfG, NVwZ 2003, S. 1113. 18 BVerfG, a.a.O.; zuvor bereits BVerwG DVBl. 1975, S. 428; vgl. auch Avenarius/Heckel (Fn. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 454; von Ungern-Sternberg, Religionsfreiheit in Europa, 2008, S. 260 f. 19 BVerwGE 94, S. 82, 87 ff.; zu weiteren Konfliktfällen zwischen Schulpflicht und religiösen Geboten vgl. Langenfeld (Fn. Fehler! Textmarke nicht definiert.), S. 387 ff. ebenso VGH München NVwZ 1987, S. 706, 708. Das VG Hamburg NVwZ-RR 2006, S. 121, 122, lehnte die Befreiung vom Sportunterricht deshalb ab, weil die betroffene Schülerin sich noch nicht in der Pubertät befand und deshalb die religiösen Bekleidungsvorschriften keine Anwendung fänden. 20 OVG Münster NWVBl. 2009, S. 394, 395; mit gleichlautender Begründung VG Düsseldorf, Urt. v. 7.5.2008, Az. 18 K 301/08 – juris (allerdings in Hinblick auf eine Schülerin der 6. Klasse). Das VG Augsburg, welches über die Teilnahme einer 8-jährigen Schülerin am koedukativen Schwimmunterricht zu entscheiden hatte, konnte in den von den Eltern des Mädchens herangezogenen religiösen Vorschriften kein Glaubensgebot erkennen, welches bereits Mädchen im Grundschulalter die Teilnahme am koedukativen Sport- bzw. Schwimmunterricht verbietet. Ein unausweichlicher Gewissenskonflikt lag mithin nicht vor, Beschluss vom 17.12.2008, Az.: Au 3 E 08.1613 – juris. Noch weiter geht das Schweizerische Bundesgericht in einem Urteil vom 24.10.2008, EuGRZ 2009, 121. Bei der Abwägung der gegenläufigen Interessen räumt das Gericht dem öffentlichen Interesse an der Durchsetzung der Schulpflicht insbesondere in Hinblick auf die Erfordernisse der gesellschaftlichen Integration gegenüber der Religionsfreiheit grundsätzlich den Vorrang ein. Zwar ging es in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt um zwei 8- bzw. 10-jährige Jungen islamischen Glaubens, deren Eltern eine Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht mit der Begründung forderten, dass die von ihnen praktizierten Glaubensgebote es nicht gestatteten, den weitgehend nackten Körper des anderen Geschlechts zu sehen. Die Ausführungen des Gerichts lassen freilich erkennen, dass aus seiner Sicht auch eine Befreiung muslimischer Mädchen vom gemischt-geschlechtlichen Schwimmunterricht bei entsprechenden flankierenden Maßnahmen (eigene körperbedeckende Badebekleidung, getrenntes Umziehen und Duschen etc.) nicht mehr in Betracht kommt (a.a.O., 7.3). Hierin liegt eine Änderung der Rechtsprechung. Im Jahre 1993 hatte das Bundesgericht die Befreiung einer Primarschülerin (2. Klasse) vom koedukativen Schwimmunterricht für verfassungsrechtlich geboten gehalten, BGE 119 Ia 178 E (= EuGRZ 1993, 400). Vor den Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse, die verstärkte Bemühungen um die Integration von Zuwanderern erforderlich machten, könne an dem Vorrang der Religionsfreiheit in Hinblick auf die Durchsetzung der Schulpflicht auch für den koedukativen Schwimmunterricht nicht mehr festgehalten werden. Die Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe der Deutschen 8
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Bundesverwaltungsgericht nun auch für die Teilnahme einer 13-jährigen Schülerin am koedukativen Schwimmunterricht bekräftigt: Da mit dem Burkini eine Ganzkörperbedeckung zur Verfügung stehe, die islamischen Glaubensvorstellungen genüge und die die mit der Teilnahme am Schwimmunterricht verbundene Belastung in zumutbarer Weise ausgestalte, komme eine Unterrichtsbefreiung nicht in Betracht. Auch begründe der Umstand, dass die betroffene Schülerin während des Schwimmunterrichts dem Anblick leicht bekleideter männlicher Schüler ausgesetzt sei, keinen Gewissenskonflikt. Insofern sei die Schule Abbild der gesellschaftlichen Realität, die in der Schule nicht ausgeblendet werden könne und müsse. Die gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen. Ganz generell ist es so, dass zugewanderte Religionen bzw. die Glaubensvorstellungen von deren Anhängern sehr viel häufiger in ein Spannungsverhältnis mit der Normativität der Rechtsordnung geraten können. Dies rührt daher, dass der Zusammenhang der Herkunftskultur, innerhalb derer sich die Religionen der Zuwanderer in vollem Umfang entfalten konnten, im Einwanderungskontext vielfach nicht fortbesteht und seine Herstellung auch nicht im Namen von Gleichheits- und Freiheitspostulaten gefordert werden kann. Denn es ist dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber weiterhin erlaubt, Wertungen zu treffen und bestimmten Rechtsgütern den Vorrang vor anderen einzuräumen, auch wenn diese Wertungen von manchen Gruppierungen aus religiösen Gründen nicht geteilt werden. Der Gesetzgeber darf dies auch dann tun, wenn es sich um Wertungen handelt, die Ausdruck der im hiesigen Raum etablierten und gewachsenen und im Laufe der Zeit auch fortentwickelten Rechtskultur sind, solange sich der Gesetzgeber mit den dem Gesetz zugrunde liegenden Wertungen nicht eine bestimmte religiöse/weltanschauliche Sicht zu eigen macht. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, den Freiheitsrahmen für alle so weit zu setzen, dass jede Rückbindung an eine bestimmte Rechtskultur und die mit ihr verbundenen Wertvorstellungen relativiert wird. Und vielfach werden Rechtsnormen auch von Begründungen getragen, die weltanschaulich oder religiös konnotiert sind. Es ist dem Staat lediglich verwehrt, Glaubens- und Religionsinhalte als solche zu bewerten, sich deren Wahrheitsanspruch zu eigen zu machen oder gar unter Rückgriff auf den Religionsinhalt oder religiöse Überzeugungen Differenzierungen zu begründen, die bestimmte Religionen zurücksetzen. „Da freilich Grundlagen unserer (Verfassungs-)Rechtsordnung kulturell und damit auch religiös geprägt und fundiert sind […], führt eine solche Vorgehensweise in der Tat dazu, dass wesentliche Bestandteile etwa der Glaubensüberzeugungen der christlichen Kirchen insofern eher kompatibel sind, ohne dass darin eine durch inhaltliche Stellungnahme des Staates zu den 287 betroffenen Religionen liegende Diskriminierung zu sehen ist.“ Neutralität bedeutet nicht Wirkungsneutralität, denn es ist die Aufgabe der unterschiedlichen Bekenntnisse und Lebensformen, sich innerhalb der gegebenen Rechtsordnung zu bewegen. „Das wird manchen leichter, anderen dagegen nur sehr schwer gelingen; und letztere werden ein Gefühl der Benachteiligung haben. Dies ist aber ein Irrtum, weil keine Überzeugung und keine Islamkonferenz zu schulpraktischen Fragen, die auf dem letzten Plenum der DIK am 15. Juni 2009 als Zwischenresümee angenommen worden sind, bejahen einen Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Sport- und Schwimmunterricht ab Eintritt der Pubertät, sofern die betreffende Schülerin einen objektiv nachvollziehbaren Gewissenskonflikt darlegen kann. Für jüngere Kinder kommt ein Befreiungsanspruch demgegenüber nicht in Betracht (abrufbar auf der Homepage der Deutschen Islamkonferenz unter www.dik.de.) 9
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Lebensform einen Anspruch darauf haben kann, dass die politische und gesellschaftlichen Ordnung in einer Weise eingerichtet wird, die ihren Bedürfnissen in besonderer Weise 288 entgegenkommt.“ Wie bereits oben gesehen, können diese faktischen Benachteiligungen auch nicht über eine Erweiterung des Diskriminierungsbegriffs um die mittelbare 289 Diskriminierung gelöst werden. Dies heißt nicht, dass nicht im Ausnahmefall ein Dispens von der Geltung des allgemeinen Gesetzes unter Berufung auf Art. 4 GG geboten wäre und es nicht rechtspolitischer Klugheit entsprechen würde, die Rechtsordnung so einzurichten, dass sich auch Minderheiten mit ihr identifizieren können. Dies ist allerdings eine Frage des politischen Prozesses, der auf die Integration aller Bevölkerungsteile hin ausgerichtet werden sollte. Und dieser Integrationsprozess kann es auch erforderlich machen, sich in konkreten Kontexten z.B. in der Schule, genauere Gedanken über das Neutralitätsverständnis zu machen. Eine übergreifende Neutralität, so sehr sie auch Ausweis einer toleranten, Minderheiten schützenden Gesellschaft und Rechtsordnung ist, so sehr können sich aus ihrer Umsetzung Probleme ergeben. - Bsp. Kopftuch /Gebet des Schülers in der öffentlichen Schule Dieser Gesichtspunkt muss auch dazu führen, dem gesetzgeber Umsetzungsspielräume zuzugestehen in Hinblick auf das Ausmaß der religiösen bezüge, die er in der staatlichen Schule zulässt. Wenn es Konflikte gibt, die die funktionsfähigkeit der öffentlichen Institution in frage stellen, muss die Religion außen vor bleiben, zumindest darf der Gesetzgeber sich dafür entscheiden. Das Konzept der positiven Neutralität ist nicht das Einzige, das die Religionsfreiheit in verfassungskonformer Weise schützt, schon gar nicht in EMRK-.konformer Weise (s. Trennungssysteme, in denen es von vornherein klar ist, dass in der Schule Religion nicht stattfindet und dennoch Verstöße gegen Art. 9 EMRK darin bislang nicht gesehen worden. sind. I. Zu viel grundrechtlicher Rigorismus und zu wenig Debatte über ein differenziertes Neutralitätsverständnis in der religiös pluralen Gesellschaft? Die Festlegung des Senats auf die einzig richtige Lösung in der Kopftuchfrage und die damit verbundene Abkehr von der Zurückhaltung des 1. Kopftuchurteils, die die Entscheidung über die Zulässigkeit religiöser Bekundungen durch Lehrkräfte in der öffentlichen Schule in die Hände des Gesetzgeber gelegt hatte, schneidet die dringend notwendige politische und gesellschaftliche Debatte über das Verständnis des Neutralitätsgebotes in der religiös pluralen Gesellschaft ab. Ein Kennzeichen der religiösen Pluralität in Deutschland ist die wachsende Bedeutung des Islam, dessen Integration in die bestehenden religionsverfassungsrechtlichen Strukturen nur schrittweise vorankommt, freilich in den letzten Jahren erheblich an Dynamik gewonnen hat. Prominentes Beispiel dafür ist der islamische Religionsunterricht, dessen 10
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