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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Leitlinien für die Übermittlung von personenbezogenen Daten durch zivilgesellschaftliche Akteure“
VS - Nur für den Dienstgebrauch Bund/Länder-Leitfaden zu den Übermittlungsbefugnissen und -pflichten der zivilgesellschaftlichen Beratungsfachkräfte und Akteure im Arbeitsfeld Deradikalisierungs-/Distanzierungsarbeit - Übermittlungsleitfaden - Stand: 01. Oktober 2020 Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen I. Einleitende Worte II. Rechtliche Ausgangslage 1. Die Verschwiegenheitspflicht aus $ 203 StGB a) Die Anzeigepflicht aus $ 138 StGB b) Die datenschutzrechtliche Übermittlungsbefugnis aus $ 24 Abs. 1 Nr. 1 BDSG c) Zeitliche Systematik der Rechtsgrundlagen d) Weitere Offenbarungspflichten und -befugnisse 2. Keine Schweigepflicht: Datenschutzrecht nach Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) und Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) 3. Weitergabe anonymer oder anonymisierter Informationen III. Nutzungshinweise Prozessschaubild -TEIL A- Datenschutzrechtliche Übermittlungsbefugnisse aus 8 24 Abs. 1Nr.1BDSG L Anwendungsbereich II. Zuständige Behörden & Umfang der Datenübermittlung Gefahr für öffentliche oder staatliche Sicherheit nach $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BDSG I. Grundlagen der Gefahreneinschätzung 1. Die Tatbestandsvoraussetzungen des $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BDSG 2. Abgrenzung zur Anzeigepflicht aus $ 138 StGB 3. Die Risikomatrix als Beurteilungshilfe II. Schadensausmaß & Bedeutung des Rechtsguts IH. Wahrscheinlichkeit & Zeitliche Nähe des Schadenseintritts 1. Kategorie „wahrscheinlich“ 2. Kategorie „überwiegend wahrscheinlich“ 3. Kategorie „sehr wahrscheinlich“ 4. Psychosoziale Faktoren Verfolgung von Straftaten nach $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt.2 BDSG -TEIL B-Anzeigepflichtaus$ 138StGB I. Anwendungsbereich II. Zuständige Behörden & Umfang der Datenübermittlung III. Grundlagen der Anzeigepflicht 1. Katalogstraftaten in $ 138 Abs. 1 und Abs. 2 StGB 2. Zeitpunkt des Entstehens der Anzeigepflicht 3. Indikatoren für das Bestehen einer Anzeigepflicht a8 18 18 18 18 19 19
VS - Nur für den Dienstgebrauch Vorbemerkungen I. EINLEITENDE WORTE Für die zivilgesellschaftlichen Akteure im Arbeitsfeld Deradikalisierungs-/ Distanzierungsarbeit im bun- desweiten Beratungsnetzwerk der Beratungsstelle Radikalisierung im BAMF ergeben sich eine Vielzahl an rechtlichen Fragestellungen, insbesondere wenn es um die Einbindung behördlicher Stellen in kon- krete Beratungssachverhalte geht. Wesentliche Voraussetzung einer erfolgreichen und unterstützenden Beratungsarbeit ist die Vertrau- ensgrundlage zwischen dem Ratsuchenden und der Beratungsfachkraft. Der Aufbau und der Erhalt eines vertrauensvollen Rahmens bestimmt den Beratungsverlauf nachhaltig. Hierbei muss der Beratende re- gelmäßig die Perspektive des Ratsuchenden einnehmen, um dessen Bedürfnisse zu verstehen und Un- terstützungsmöglichkeiten zu erkennen und anzubieten. Die grundlegende Herausforderung besteht im Phänomenbereich des religiös begründeten, islamistischen Extremismus vor allem darin, diese indivi- duellen Interessen mit dem berechtigten Schutzbedürfnis der Allgemeinheit in Einklang zu bringen. Am 20. September 2019 wurde das Zweite Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU auch durch den Bundesrat verabschiedet. Die Verkündung im Bundesgesetzblatt erfolgte am 25. November 2019, das Gesetz trat am darauffolgenden Tag in Kraft. In der dazugehörigen Gesetzesbegründung (Voll- text ist in den Anlagen zu finden) wurde abermals wertschätzend betont, wie wichtig die Zusammenar- beit von öffentlichen Stellen auf Bundes- und Landesebene mit den zivilgesellschaftlichen Beratungs- trägern im Rahmen einer ganzheitlichen Strategie der Terrorismusbekämpfung im Phänomenbereich ist. Es war der Bundesregierung ein Anliegen, die Beratungsarbeit im hiesigen Phänomenbereich auf ein rechtssicheres Fundament zu stellen. Diese Bestrebungen möchte der vorliegende Leitfaden aufgreifen. Dazu sollen die geschaffenen abstrakten Rechtsgrundlagen aufgegriffen und mit Hilfe praxisorientierter Handlungsempfehlungen für den Beratungsalltag handhabbar gemacht werden. 1. RECHTLICHE AUSGANGSLAGE 1. Die Verschwiegenheitspflicht aus $ 203 StGB Ein Teil der Beratungsfachkräfte im bundesweiten Beratungsnetzwerk unterliegt der strafgesetzlichen Verschwiegenheitspflicht aus $ 203 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB). Zu diesen sogenannten Berufsgeheim- nisträgern zählen unter anderem psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsycho- therapeuten, Berufspsychologen, staatlich anerkannte Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sowie Fami- lien-, Erziehungs- oder Jugendberater, die in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle tätig sind (nach derzeitigem Stand wurde ein solches förmliches Anerkennungsverfahren - das in der Zuständigkeit der Länder liegt - bei keiner der im Beratungsnetzwerk befindlichen Beratungsstellen durchgeführt). Ange- hörige dieser Berufsgruppen machen sich strafbar, wenn sie ein zum persönlichen Lebensbereich gehö- rendes Geheimnis einer anderen Person - das ihnen in ihrer beruflichen Eigenschaft anvertraut wurde oder sonst bekanntgeworden ist - unbefugt offenbaren. Daneben können arbeitsvertragliche Geheim- haltungspflichten stehen, bei denen ein Verstoß arbeitsrechtliche Konsequenzen haben kann.
VS - Nur für den Dienstgebrauch Eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht aus $ 203 Abs. 1 StGB ist nur dann strafbar, wenn die Ge- heimnisoffenbarung unbefugt erfolgt. Eine Offenbarung ist dann nicht unbefugt, wenn derjenige, auf den die preisgegebenen Informationen verweisen (= Betroffener), seine Einwilligung in die Weitergabe erteilt hat. Vor allem in der Angehörigen- und Umfeldberatung - wenn die betroffene Person also gar nicht am Beratungssetting teilnimmt - wird eine solche Einwilligung aber kaum einzuholen sein. Fehlt die Einwilligung des Betroffenen, ist die Geheimnisoffenbarung nur dann befugt im Sinne des $ 203 Abs. 1 StGB, wenn die personenbezogene Informationsübermittlung auf Grundlage einer gesetzlichen Pflicht oder einer Befugnis erfolgt. Die beiden wichtigsten Rechtsgrundlagen für eine befugte Offenbarung kön- nen - in Abwägung des Einzelfalls - $ 138 StGB und $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) sein. Die Voraussetzungen der beiden Vorschriften sollen im vorliegenden Leitfaden aus einer bera- tungspraxisorientierten Perspektive ausgeleuchtet werden. Folglich beschäftigt sich dieser Leitfaden im Kern ausschließlich mit der Fragestellung, unter welchen Bedingungen eine Informationsübermittlung stattfinden kann, wenn die Weitergabe nicht von einer Einwilligung des Betroffenen gedeckt ist. a) Die Anzeigepflicht aus $ 138 StGB Der $ 138 StGB schafft eine Pflicht zur Sachverhaltsanzeige gegenüber einer - nicht offensichtlich unzu- ständigen - Behörde, die zur Durchbrechung der Verschwiegenheitspflicht aus $ 203 StGB führt. Diese Pflicht entsteht, wenn der Beratende glaubhaft von der Planung oder der Ausführung einer schwerwie- genden Straftat erfährt, die im Katalog des $ 138 StGB aufgeführt ist und deren Erfolg noch verhindert werden kann. Teil B dieses Leitfadens greift phänomenologische Anhaltspunkte aus der Beratungspraxis auf, die als Indikatoren für die Feststellung eines anzeigepflichtigen Sachverhaltes herangezogen werden können. Die Indikatoren können zwar keine verbindliche rechtliche Einordnung relevanter Tatbestandsmerk- male bieten, wohl aber eine Orientierungshilfe darstellen. b) Die datenschutzrechtliche Übermittlungsbefugnis aus $ 24 Abs. 1 Nr. 1 BDSG Daneben steht $ 24 Abs. 1 Nr. 1 BDSG, der aufgrund der Änderungen in $ 22 Abs. 1 Nr. 1 BDSG im Zuge des Zweiten Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU nun deutlich an Relevanz gewinnt. Die Norm gibt der Beratungsstelle eine datenschutzrechtliche Befugnis zur Übermittlung bestimmter personenbezogener Informationen, sofern dies zur Abwehr von Gefahren für die staatliche oder öffent- liche Sicherheit (Alternative 1) oder zur Verfolgung von Straftaten erforderlich (Alternative 2) ist und nicht die Interessen der betroffenen Person an dem Ausschluss der Verarbeitung überwiegen. Das Da- tenschutzrecht richtet sich zwar in erster Linie an die Institution Beratungsstelle als Verantwortliche im datenschutzrechtlichen Sinne, jedoch wirkt die Übermittlungsbefugnis auch auf individueller Ebene in die Verschwiegenheitspflicht der einzelnen Berufsgeheimnisträger hinein. Die datenschutzrechtliche Übermittlungsbefugnis kann, soweit sich der Offenbarende auf sie berufen kann, einen Rechtfertigungs- grund für die Durchbrechung der Verschwiegenheitspflicht darstellen. Eine Offenbarung im Zuge eines rechtfertigenden Notstands nach $ 34 StGB erfordert die strengere Vo- raussetzung einer „gegenwärtigen Gefahr“. Der praktische Anwendungsbereich des $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Al- ternative 1 BDSG ist daher weiter und verdrängt den bloßen Auffangtatbestand des $ 34 StGB. Teil A dieses Leitfadens greift phänomenologische Anhaltspunkte aus der Beratungspraxis auf, die als Indikatoren für die Feststellung eines gefahrenrelevanten (Alternative 1) oder strafverfolgungsrelevan- ten (Alternative 2) Sachverhaltes herangezogen werden können. Die Indikatoren können auch hier keine
VS - Nur für den Dienstgebrauch verbindliche rechtliche Einordnung relevanter Tatbestandsmerkmale bieten, wohl aber eine Orientie- rungshilfe darstellen. Schweigepflichtigen Beratungsfachkräften kommt eine besonders große Verantwortung zu. Gewinnen sie relevante Erkenntnisse aus einem Beratungsprozess, so müssen sie selbst und eigenverantwortlich prüfen, ob die Voraussetzungen des $ 138 StGB oder des $ 24 Abs. 1 Nr. 1 BDSG gegeben sind. Aus diesem Grunde ist es besonders wichtig, den einzelnen Beratungsfachkräften eine verlässliche Entscheidungs- hilfe zur rechtlichen Beurteilung der unterschiedlichen Beratungssituationen bereitzustellen. Dieses An- liegen verfolgt der vorliegende Leitfaden. c) Zeitliche Systematik der Rechtsgrundlagen Die mögliche Entstehung der jeweiligen Übermittlungsbefugnisse und -pflichten lässt sich in der zeitli- chen Abfolge wie folgt darstellen: Vergangenheit: Straftat begangen Zukunft: Schadensein- tritt Vorhaben & Aus- führung einer Katalogstraftat Gefahrenlage Befugnis Befugnis aus $ 24 Abs. 1Nr. 1 Alt.2 BDSG aus $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BDSG . entsteht (Strafverfolgung) entsteht (Gefahrenabwehr) repressiv präventiv d) Weitere Offenbarungspflichten und -befugnisse Neben den beiden vorgenannten Rechtsgrundlagen für eine Informationsübermittlung ($ 138 StGB und $ 24 Abs. 1 BDSG) gibt es noch weitere Vorschriften, die in spezifischen Konstellationen eine Befugnis oder gar eine Pflicht zur Offenbarung gegenüber einer staatlichen Stelle schaffen: Übermittlungsbefugnis bei Kindeswohlgefährdung, $ 4 KKG, $ 8b Abs. 1 SGB VIII: Werden im Laufe des Beratungsprozesses gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so besteht die Möglichkeit der Einbindung einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“ oder des Jugendamtes, sofern eine Abwendung der Gefährdung nicht durch die Zusammenarbeit mit den Personenberechtigten herbeigeführt werden kann. Offenbarungspflicht im Strafvollzug, $ 182 Abs. 2 S. 2 StVollzG, bzw. die geltenden Bestimmungen in den landesrechtlichen Strafvollzugsgesetzen: Beratungskräfte, die aufgrund von $ 203 Abs. 1 Nr. 1,2 und 6 StGB der Schweigepflicht unterliegen (also Ärzte, Angehörige von Heilberufen, Berufspsychologen und staatlich anerkannte Sozialarbeiter) haben bei Beratungskonstellationen mit Gefangenen im Justizvoll- zug bestimmte Offenbarungspflichten gegenüber der Anstaltsleitung. Der Inhalt dieser Pflicht richtet sich nach den jeweils geltenden Justizvollzugsgesetzen der Länder. Hat ein Land von seiner Gesetzge- bungskompetenz keinen Gebrauch gemacht, gilt das Strafvollzugsgesetz des Bundes weiter - danach sind gemäß $ 182 Abs. 2 S. 2 StVollzG der Anstaltsleitung Tatsachen zu offenbaren, soweit dies für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leib oder Leben 4
VS - Nur für den Dienstgebrauch des Gefangenen oder Dritter erforderlich ist. Der Gefangene ist vor Beratungsbeginn über diese Offen- barungspflicht zu unterrichten, $ 182 Abs. 2 S. 5 StVollzG. Die Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder enthalten ebenfalls Vorschriften, die eine solche Pflicht der schweigepflichtigen Beratungskräfte festle- gen. Zeugnispflicht, $ 48 Abs. 1 S. 2 StPO: Zeugen in einem Strafprozess haben die Pflicht, zu ihrer Verneh- mung vor dem Richter, der Staatsanwaltschaft und vor der Polizei - sofern die Vorladung im Auftrag der Staatsanwaltschaft erfolgt - zu erscheinen und auszusagen, wenn kein Zeugnisverweigerungsrecht be- steht, $ 53 StPO. Nach unserem derzeitigen Kenntnisstand arbeiten von den in $ 53 StPO aufgeführten Berufsgruppen lediglich Psychologische Psychotherapeuten im Beratungsnetzwerk der Beratungsstelle Radikalisierung. Diese Personen besitzen somit ein Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich jener Infor- mationen, die ihnen in ihrer beruflichen Eigenschaft anvertraut wurden. Beratungsfachkräften aller üb- rigen Berufsgruppen wird empfohlen, die ratsuchenden Personen im Vorfeld der Beratung auf das Feh- len eines Zeugnisverweigerungsrechts hinzuweisen. 2. Keine Schweigepflicht: Datenschutzrecht nach Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) und Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) Das Datenschutzrecht richtet sich vornehmlich an die Beratungsstelle als Institution. Die Rechtsgrund- lagen für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch die zivilgesellschaftlichen Beratungs- stellen befinden sich in den Bestimmungen der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) und dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG). Als Rechtsgrundlage für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten - die im Rahmen der Beratungstätigkeit anfallen und erforderlich sind - können die zivilgesell- schaftlichen Beratungsstellen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. f) DS-GVO heranziehen. Sind Daten mit Religions- oder Weltanschauungsbezug betroffen, ist die Datenverarbeitungsgrundlage der neu geschaffene $ 22 Abs. 1 Nr. 1lit. d) BDSG. Erhalten Beratungsfachkräfte, die nicht der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht aus $ 203 StGB unter- liegen, im Rahmen des Beratungsprozesses relevante Informationen, müssen bei der Datenweitergabe durch die Beratungsstelle die datenschutzrechtlichen Bestimmungen eingehalten werden. Sollen Daten ohne Einwilligung des Betroffenen an staatliche Akteure übermittelt werden, so weicht dieser Datenver- arbeitungsvorgang meist vom ursprünglichen Zeck, zu dem die Daten erhoben wurden (Durchführung der Beratung), ab. Dies ist rechtlich nur zulässig, wenn einer der Tatbestände des $ 24 Abs. 1 BDSG erfüllt ist, die Weitergabe also wiederum zum Zwecke der Abwehr einer Gefahr oder der Strafverfolgung erfor- derlich ist. Ferner besteht für Beratungsfachkräfte, die nicht der Schweigepflicht unterliegen, ebenfalls die Anzeigepflicht nach $ 138 StGB. 3. Weitergabe anonymer oder anonymisierter Informationen Die Weitergabe von anonymisierten Informationen, die keinerlei Rückschlüsse auf die Identität des Be- troffenen zulassen, berühren die Schweigepflicht und das Datenschutzrecht nicht. Kann also von vornherein aus den betreffenden Informationen keinerlei Rückschluss auf eine be- stimmte Person erfolgen (= anonyme Daten) oder wurden Daten in einer Art und Weise verändert, dass ein solcher Rückschluss nicht mehr möglich ist (= anonymisierte Daten), so wird die Verarbeitung (und damit auch die Weitergabe) dieser Informationen nicht vom Datenschutz erfasst. Daten sind dann als anonymisiert anzusehen, wenn der Aufwand zur Herstellung eines Personenbezu- ges den Informationswert so wesentlich übertrifft, dass man vernünftigerweise davon ausgehen muss, 5
VS - Nur für den Dienstgebrauch dass niemand den Versuch der Bestimmung der Person unter Verwendung der vorhandenen Daten un- ternehmen wird. Dabei sollten alle Mittel berücksichtigt werden, die nach allgemeinem Ermessen wahr- scheinlich genutzt werden, um die Person direkt oder indirekt zu identifizieren (Erwägungsgrund 26 zur Datenschutzgrundverordnung). In Zweifelsfällen, ob die Voraussetzungen des $ 138 StGB oder $ 24 Abs. 1 Nr. 1 BDSG gegeben sind, kann im Rahmen eines anonymisierten Austausches eine Abklärung mit den Sicherheitsbehörden erfolgen. Sofern ein solcher Austausch möglich ist, bietet er eine Grundlage für eine gemeinsame Erörterung des Sachverhaltes - nicht zuletzt aufgrund der weitreichenden kriminalistischen Erfahrungswerte, die die jeweiligen Ansprechpartner einbringen können. I. NUTZUNGSHINWEISE Der vorliegende Leitfaden ist als Entscheidungs- und Orientierungshilfe zu betrachten. Die konkrete Verfahrensweise im Einzelfall steht allein in der Verantwortung der schweigepflichtigen Beratungsfach- kraft beziehungsweise der Beratungsstelle als Verantwortlichen im datenschutzrechtlichen Sinne. Es ist deutlich festzuhalten, dass auch bei Zusammentreffen mehrerer Indikatoren noch nicht automa- tisch strafbares oder gefährliches Verhalten der betreffenden Person anzunehmen ist. Die Indikatoren bieten keine verbindliche rechtliche Einordnung relevanter Tatbestandsmerkmale. Die im Leitfaden fol- genden Aufzählungen dienen lediglich zur Sensibilisierung und sind nicht abschließend. Mögliche Kopplungseffekte und Verbindungen verschiedener Indikatoren sollten beachtet werden. Radikalisie- rungsprozesse sind immer individuell, eine Einzelfallbetrachtung ist zwingend notwendig. Das Vorlie- gen eines oder mehrerer Indikatoren des Leitfadens führen dabei nicht zwingend zu einer Übermitt- lungsberechtigung oder -verpflichtung, vielmehr muss stets das Gesamtbild aller Indikatoren im Einzel- fall bewertet werden. Es ist beabsichtigt, entsprechende Schulungen zum vorliegenden Leitfaden anzubieten und durchzufüh- ren. Der Leitfaden ist zudem eingebettet in die Standards in der Beratung des sozialen Umfeldes (mut- maßlich) islamistisch radikalisierter Personen und knüpft somit an die allgemeine Handreichung des Beratungsstellen-Netzwerkes der Beratungsstelle „Radikalisierung“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge an. Hierbei spielen auch die durch das Beratungsstellen-Netzwerk entwickelten Definitio- nen eine wesentliche Rolle (die Definitionen sind auch den Anlagen zum Leitfaden zu finden). Im fol- genden Schaubild soll dargestellt werden, wie die - aus den Definitionen resultierenden - Kategorisie- rungen der phänomenbezogenen Anfragen mit dem vorliegenden Leitfaden in Verbindung stehen und welche Prozessabläufe sich hieraus ergeben können. Für Fragen und Anregungen zum Leitfaden können Sie sich gern an das BAMF, zuständiger Ansprechpart- ner: Herr Marcel Komarek (Marcel.Komarek@bamf.bund.de), wenden.
VS - Nur für den Dienstgebrauch 02021082 | 1asWw3 euunoy ZI IWIVvg JnejqessaZ0Jg UaP uaqIaıyIsaq a]lajd 3ua8oza3y>dung 'ssnyuareg uaula uaglalydsaq 2]la}d S2Y2UIS39 :apu333] adumpn pun ones an} awesapung % UBUONEUNOJUT IHUBBOZIQLAUOSIAA ageBıarıom Jop Joquan. agedıayomnzsiußnyag BETEN ENTER qaypıu pun e yyDı LT ENSSISAI Z NV T IN I Pz $ yDeu 8 2135 ‘SAH T NV TUN I PZ $ yDeu ST SUaS'AIIS gEIS yDeu uusaMmPp ay]eylaAyJeS ajueaalalsgungjonangengs > yeylaaydes alueAaj3Juslyej9d q ayleyıaaypes adnypıydazıazuy e ayseptun ag SOAd uap ıaq, l TEE Een Eger TEE TUR EEE EeEEEN ea upe1dsaßsuoneuLiojuf saulawaaıly MeyısaydessdungenN] me (99I) y2eıdsa3 -sdungelsgfewuig IWVA alTaıssdungeIag Iap aummoysdungerag Iap Iaq adugZurg
VS - Nur für den Dienstgebrauch -TEIL A- Datenschutzrechtliche Übermittlungsbefugnisse aus $24 Abs. 1Nr. 1 BDSG I: ANWENDUNGSBEREICH Der $ 24 BDSG gilt ausschließlich für die Datenverarbeitung durch nichtöffentliche Stellen. Ferner sind die datenschutzrechtlichen Übermittlungsbefugnisse nur dann anwendbar, wenn keine vorrangig anzu- wendenden bereichsspezifischen Spezialregelungen existieren, $ 1 Abs. 2 BDSG. Daher können die datenschutzrechtlichen Übermittlungsbefugnisse aus diesem Abschnitt nicht heran- gezogen werden, wenn die offenbarende Person bestimmten berufs- oder standesrechtlichen Normen unterliegt, die eigene Regelungen treffen und somit die Bestimmungen des BDSG verdrängen (so bei- spielsweise in den Berufsordnungen für Ärzte, Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeuten). Darüber hinaus wird im Anwendungsbereich des Sozialdatenschutzes der $ 24 BDSG durch die mittelbar oder unmittelbar geltenden sozialdatenschutzrechtlichen Regelungen der Sozialgesetzbücher verdrängt. Für eine Informationsweitergabe in diesem Bereich ist Teil A dieses Leitfadens nicht anwendbar. Daten in nichtöffentliche Stellen unterfallen dem Sozialdatenschutz, wenn: » die Stelle im Auftrag eines öffentlichen Trägers der Kinder- und Jugendhilfe Aufgaben wahr- nimmt, die Daten in Ausübung dieses Auftrages gewonnen wurden und der Sozialdatenschutz durch eine Vereinbarung sichergestellt wurde oder » die Stelle Daten von öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe (bspw. Jugendämtern) er- halten hat. Die Übermittlung von Sozialdaten erfolgt stattdessen auf Grundlage einer Einwilligung des Betroffenen, 8 67b IISGB X oder bei Vorliegen einer der gesetzlichen Voraussetzungen aus den $$ 68 bis 75 SGB. I. ZUSTÄNDIGE BEHÖRDEN & UMFANG DER DATENÜBERMITTLUNG Die Gefahrenabwehr bzw. die Strafverfolgung muss zu den Aufgabenbereichen der Stelle gehören, der die Daten weitergegeben werden. Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden sind unter anderem die Polizeibehörden der Länder und des Bundes, zusätzlich obliegt die Strafverfolgung den jeweiligen Staatsanwaltschaften. Ferner dürfen Daten nur insoweit übermittelt werden, wie es zur Erfüllung der Aufgaben der Gefahren- abwehr oder Strafverfolgung tatsächlich erforderlich ist. Der konkrete Umfang ist anhand des Einzelfalls abzuschätzen. Insbesondere bei der Gefahreneinschätzung und Gefahrenbegegnung können auch Infor- mationen zum psychosozialen Hintergrund erfasst sein, beispielsweise Angaben zur familiären, berufli- chen, finanziellen Situation oder zu bestimmten biographischen Ereignissen. Die Benachrichtigungs- pflicht hinsichtlich der Informationsweitergabe aus Art. 13, 14 DS-GVO gegenüber dem Betroffenen ent- fällt aufgrund von $ 32 I Nr. 3 BDSG (Erhebung beim Betroffenen) beziehungsweise $ 33 I Nr. 2 BDSG (Erhebung bei Dritten), wenn die Mitteilung die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährden würde.
VS - Nur für den Dienstgebrauch Gefahr für öffentliche oder staatliche Sicherheit nach $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BDSG I. GRUNDLAGEN DER GEFAHRENEINSCHÄTZUNG Die Übermittlungsbefugnis aus $ 24 Abs. 1Nr.1Alt.1BDSG hat den möglichen Eintritt eines zukünftigen Schadens im Blick und besitzt damit eine präventive Ausrichtung. 1. Die Tatbestandsvoraussetzungen des $ 24 Abs. 1Nr. 1 Alt. 1 BDSG $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BDSG hat drei Tatbestandsvoraussetzungen - es muss eine Gefahr (1.) für die öf- fentliche oder staatliche Sicherheit bestehen (2.) und der Informationsweitergabe dürfen keine überwie- genden Interessen des Betroffenen gegenüberstehen (3.). Die öffentliche oder staatliche Sicherheit ist insbesondere dann tangiert, wenn aufgrund der in der Be- ratung gewonnen Informationen die Begehung von Straftaten zu befürchten ist. In Anbetracht der im hiesigen Phänomenbereich denkbaren Rechtsverletzungen überwiegt regelmäßig das Schutzinteresse der Allgemeinheit an der Informationsweitergabe gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse des Be- troffenen. Die Hürden der letztgenannten Tatbestandsvoraussetzungen (also 2. und 3.) sind daher regel- mäßig erfüllt. Zentrale Tatbestandvoraussetzung des $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BDSG ist dagegen die Gefahr (1.). Die Ein- schätzung, ob eine Gefahr für die öffentliche oder staatliche Sicherheit besteht, ist eine Prognoseent- scheidung - maßgeblich ist dabei die sich für die Beratungsfachkraft darstellende Situation im Zeitpunkt der Informationsweitergabe. Von einer Gefahr ist auszugehen, wenn eine Sachlage vorliegt, in der mit hinreichender Wahrscheinlich- keit bei ungehindertem Geschehensablauf in absehbarer Zeit mit einem Schaden für die öffentliche oder staatliche Sicherheit zu rechnen ist. Welcher Wahrscheinlichkeitsgrad im konkreten Fall „hinreichend” für die Annahme einer Gefahr ist, hängt wesentlich von der Bedeutung des bedrohten Rechtsguts und dem Ausmaß des möglichen Schadens ab. Je ranghöher das Schutzgut und je größer und folgenschwerer der drohende Schaden ist, umso geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit des Scha- denseintritts zu stellen. Daraus erwächst ein Abwägungsvorgang, bei dem die konkreten Umstände des Einzelfalls sinnbildlich in eine Waagschale gelegt werden können. Die Beurteilung des Sachverhaltes als Gefahr ist schließlich davon abhängig, wie stark die gedachte Waagschale in die eine oder in die andere Richtung ausschlägt. 2. Abgrenzung zur Anzeigepflicht aus $ 138 StGB Die Übergänge zur Anzeigepflicht nach $ 138 StGB können fließend sein. Ein anzeigepflichtiger Sach- verhalt nach $ 138 StGB ist ein spezifischer Unterfall der Gefahr im Sinne des 824 Abs. 1Nr.1 Alt. 1 BDSG. $ 138 StGB fordert eine bestimmte zeitliche Nähe zum zu erwartenden Schadenseintritt: Die Anzeige- pflicht beginnt dort, wo die Beratungsfachkraft von der ernstlichen Planung einer konkretisierten Tat (Vorhaben) oder vom unmittelbaren Ansetzen zu einer Tat (Ausführung) glaubhaft erfährt. Dagegen setzt $ 24 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BDSG weiter im Vorfeld der Begehung einer möglichen Straftat an - mit dem Schadenseintritt muss lediglich in „absehbarer Zeit“ gerechnet werden. Ein „glaubhaftes Erfahren“ ist
VS - Nur für den Dienstgebrauch gerade nicht notwendig. Die datenschutzrechtliche Vorschrift ist ferner nicht an die Katalogstraftaten des $ 138 StGB gebunden. 3. Die Risikomatrix als Beurteilungshilfe Der vorliegende Leitfaden nutzt als Orientierungshilfe das Instrument der sogenannten Risikomatrix zur Beurteilung einer möglichen Gefahrenlage. Risikomatrix zur Beurteilung der Gefahrenlage Schadensausmaß & Bedeutung des Rechtsgutes (unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls) Sehr hoch Hoch Mittel Gering Sehr gering Überwie- Sehr Uawekr: Möglich es gend wahrschein- scheinlich 8 scheinlich wahrschein- lich lich Wahrscheinlichkeit & zeitliche Nähe des Schadenseintritts (unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls) In den folgenden Abschnitten werden die Parameter der Matrix eingehend ausgeleuchtet. Die abstrakt- modellhafte Risikomatrix muss zwingend im Kontext dieser Ausführungen betrachtet werden, da nur so den Umständen des Einzelfalls hinreichend Rechnung getragen werden kann. 10