Die Konditionalitätsregelung nach der Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092

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Die Konditionalitätsregelung nach der Verordnung (EU, Euratom)
2020/2092

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Die Konditionalitätsregelung nach der Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092

Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 061/21
Abschluss der Arbeit: 22.11.2021
Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa

 

 

Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe
oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und
Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstel-
lung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bun-
deslages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere
nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist
vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die da-

bei zu berücksichtigenden Fragen.
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Inhaltsverzeichnis
1. Fragestellung 4
2. Hintergrund: Polnische Justizreformen und Unionsrecht 4
3. Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union gemäß

VO 2020/2092 6
3.1. Voraussetzungen für die Annahme von Maßnahmen,

Art. 4 VO 2020/2092 6
3.1.1. Begriff der Rechtsstaatlichkeit — Vorgaben der

Art. 2 ff. VO 2020/2092 6
3.1.2. Wirtschaftliche Führung des Haushalts/Schutz finanzieller

Interessen der Union 7
3.2. Ablauf des Verfahrens gemäß Art. 6 VO 2020/2092 8
3.3, Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union,

Art. 5 VO 2020/2092 10
4. Ausblick: Weitere Entwicklungen 12
4.1. Anwendbarkeit der VO 2020/2092 12
4.1.1. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10./11.12.2020 12
4.1.2. Verfahren vor dem EuGH (Rs. C-156/21 und Rs. C-157/21) 15
4.1.3. Verfahren des Europäisches Parlament/Europäische Kommission

vor dem EuGH 16
4.2. Anwendbarkeit der VO 2020/2092 im Rechtsstaatskonflikt mit der

Republik Polen 16
4.3. Austritt der Republik Polen aus der Europäischen Union (sog.

„Polexit‘) 19
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1. _ Fragestellung

Der Fachbereich Europa wurde beauftragt, verschiedene Fragen zur Konditionalitätsregelung ge-
mäß der Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092! (VO 2020/2092) im Hinblick auf die umstrittenen
Justizreformen in der Republik Polen zu beantworten. Die Fragen des Auftraggebers richten sich
zunächst auf die Anwendbarkeit der Konditionalitätsregelung gemäß der VO 2020/2092 gegen-
über der Republik Polen. Ferner möchte der Auftraggeber wissen, welche rechtlichen Schritte im
Rahmen der Konditionalitätsregelung gemäß der VO 2020/2092 möglich sind und welche Folgen
daraus resultieren können.

Nach einer kurzen Darstellung des unionsrechtlichen Konflikts hinsichtlich der polnischen Jus-

tizreformen (Ziff. 2.) sollen im Folgenden die Regelungen zur Anwendbarkeit und den Rechtsfol-
gen der VO 2020/2092 vorgestellt werden (Ziff. 3.). Im Anschluss daran soll ein Ausblick auf die
weiteren möglichen Entwicklungen in diesem Konfliktfall erfolgen (Ziff. 4.).

2. Hintergrund: Polnische Justizreformen und Unionsrecht

Die Justiz der Republik Polen ist seit einigen Jahren Gegenstand umfangreicher nationalgesetzli-
cher (Reform-)Vorhaben. Diese Vorhaben sehen u. a. eine rückwirkende Herabsetzung des Ren-
teneintrittsalters für Richter am Obersten Gericht, die Einführung einer Disziplinarkammer für
Richter sowie eine Reform des Richterwahlausschusses vor. Eine ausführliche Betrachtung der
Entwicklung des polnischen Justizsystems findet sich im Bericht der Europäischen Kommission
über die Rechtsstaatlichkeit 2021 (Länderkapitel zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen).’

Seit 2018 hat sich der EuGH mit verschiedenen Aspekten der polnischen Justizreformen der ver-
gangenen Jahre befasst und hierbei u. a. den durch Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 Vertrag über die Eu-
ropäische Union (EUV)* gewährleisteten Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes und
das darin enthaltene Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte zur Anwendung gebracht. Zu
nennen sind hierbei insbesondere von der Kommission gegen Polen geführte Vertragsverletzungs-
verfahren, in denen der EuGH Verstöße u. a. gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV festgestellt hat

1 VERORDNUNG (EU, Euratom) 2020/2092 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 16. De-
zember 2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union, Abl. EU 2020,
L 433/V/1.

2 Szerkus, Polen vor dem „Verfassungsduell“, Legal Tribune Online vom 30.7.2021, (abrufbar unter:
https://www.lto.de/recht/justiz/j/polen-verfassungsgericht-eugh-eu-rechtstaat-streit-konflikt-vorrang-recht-pole-
xit/) (zuletzt abgerufen am 22.11.2021); siehe hierzu auch Mader. EuZW 2021, 133, 133 L..

3 ARBEITSUNTERLAGE DER KOMMISSIONSDIENSTSTELLEN Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2021 Län-
derkapitel zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen Begleitunterlage zur MITTEILUNG DER KOMMISSION AN
DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT. DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUS-
SCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2021 Die Lage der
Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union vom 20.7.2021 (SWD{2021) 722 final) Ziff. 1. S. 2 ff. (Rechtstaats-
bericht Länderkapitel Polen).

4 Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksa-
mer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“
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(u. a. im Zusammenhang mit der Absenkung des Ruhestandsalters® und der am Obersten Ge-
richt Polens eingerichteten Disziplinarkammer®). Hervorzuheben sind zum anderen zwei Urteile
des EuGH, die aufgrund von Vorabentscheidungsersuchen polnischer Gerichte ergangen sind,
welche Änderungen polnischer Regelungen in Bezug auf Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit
der Ernennung von Richtern am Obersten Gericht Polens’ und die Herabsetzung des Ruhestands-
alters für Richter am Obersten Gericht Polens” betreffen.

Auf Antrag des polnischen Ministerpräsidenten hat sich der Verfassungsgerichtshof der Republik
Polen in der Folge mit der Frage beschäftigt, ob bestimmte Vorschriften des EUV, insbesondere
Art. 1 Abs. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 EUV, im Einklang mit der polnischen Verfassung stehen und
am 7. Oktober 2021 eine Entscheidung dazu getroffen, deren Tenor am 12. Oktober 2021 im Ge-
setzblatt der Republik Polen veröffentlicht worden ist. In seinem Urteil hat der Verfassungsge-
richtshof einen Vorrang des polnischen Verfassungsrechts vor dem Unionsrecht betont und festge-
stellt, dass eine Einmischung in die Organisation des nationalen Justizwesens durch Unionsorgane
nicht von den der Union übertragenen Kompetenzen gedeckt sei und gegen die polnische Verfas-
sung verstoße.”

Zuletzt hat der EuGH in einer Entscheidung vom 16.11.2021 in den verbundenen Rechtssachen
C-748/19 bis C-754/19 auf die Vorlagefrage eines polnischen Strafgerichts hin entschieden, dass
Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und die Richtlinie 2016/3434 inner-
staatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizininister eines Mitgliedstaats
einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbe-
stimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig da-
von, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Grün-
den beenden kann."

oı

EuGH, Urteil vom 5.11.2019, Rs. C-192/18, Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); EuGH,
Urteil vom 24.6.2019, Rs. C-619/18, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts), vgl. hierzu auch
EuGH. Beschluss vom 17.12.2018. Rs. C-619/18 R (einstweilige Anordnung gemäß Art. 279 AEUV),

6 EuGH, Urteil vom 15.7.2021, Rs. C-791/19 Kommission/Polen (Rögime disciplinaire des juges), vgl. hierzu auch
EuGH, Beschluss vom 8.4.2020, Rs. C-791/19 R (einstweilige Anordnung gemäß Art. 279 AEUV), siehe hierzu
auch Rechtstaatsbericht Länderkapitel Polen (Fn. 3), Ziff. 1, Seite 4. Die Kommission hat am 1. April 2021 eine
weitere Vertragsverletzungsklage gegen Polen eingereicht, anhängig beim EuGH unter der Rs. C-204/21, vgl. hierzu
EuGH, Beschluss vom 14.7.2021, Rs. C-204/21 R (einstweilige Anordnung gemäß Art. 279 AEUV), vgl. auch EuGH,
Beschluss vom 27.10.2021, Rs. C-204/21 R (Anordnung eines Zwangsgeldes). siehe hierzu auch Rechtstaatsbericht
Polen {Fn. 3), Ziff. 1, Seite 5.

7 EuGH. Urteil vom 2.3.2021, Rs. C-824/18. A.B. u.a. (Nomination des juges ä la Cour supröme - Recours), siehe
hierzu auch Rechtstaatsbericht Länderkapitel Polen {Fn. 3), Ziff. 1, Seite 4.

8 EuGH,-Urteil vom 19.11.2019, verb. Rs. C-585/18, C-624/18 und C-6525/18, A.K. u.a. (Unabhängigkeit der Diszip-
linarkammer des Obersten Gerichts).

9 Pressemitteilung des polnischen Verfassungsgerichtshofs zum Verfahren K 3/21 vom 7.10.2021, abrufbar unter:
hitps://trybunal.gov.pV/en/news/press-releases/after-the-hearing/art/1 1664-ocena-zgodnosci-z-konstytucja-rp-

wybranych-przepisow-traktatu-o-unii-europejskiej.

10 Siehe EuGH. PRESSEMITTEILUNG, Nr. 204/21 vom 16.11.2021.
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3. Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union gemäß VO 2020/2092
3.1. Voraussetzungen für die Annahme von Maßnahmen, Art. 4 VO 2020/2092

Die Voraussetzungen für die Annahme von Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union
sind in Art. 4 VO 2020/2092 geregelt.'' Gemäß Art. 4 Abs. 1 VO 2020/2092 sind geeignete Maß-
nahmen zu ergreifen, wenn nach dem Verfahren gemäß Art. 6 VO 2020/2092 festgestellt wird,
dass Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat die wirtschaft-
liche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinrei-
chend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen.

3.1.1. Begriff der Rechtsstaatlichkeit - Vorgaben der Art. 2 ff. VO 2020/2092

Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit ist in Art. 2 VO 2020/2092 bestimmt. Rechtsstaatlichkeit be-
zeichnet gemäß Art. 2 lit. a) VO 2002/2092 den in Art. 2 EUV verankerten Wert der Union. Dieser
Wert umfasst zum einen die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, die transparente, rechenschafts-
pflichtige, demokratische und pluralistische Gesetzgebungsverfahren voraussetzen und zum an-
deren die der Rechtssicherheit, des Verbots der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt, des
wirksamen Rechtsschutzes - einschließlich des Zugangs zur Justiz - durch unabhängige und un-
parteiische Gerichte, auch in Bezug auf Grundrechte, der Gewaltenteilung und der Nichtdiskri-
ininierung und der Gleichheit vor dem Gesetz. Die Rechtsstaatlichkeit ist so zu verstehen, dass
auch die anderen in Art. 2 EUV verankerten Werte und Grundsätze der Union berücksichtigt wer-
den.

Art. 3 VO 2020/2092 erläutert ferner, woraus sich Hinweise auf Verstöße gegen die Grundsätze
der Rechtsstaatlichkeit ergeben können. Dabei handelt es sich gemäß Art. 3 lit a) VO 2020/2092
um die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz sowie gemäß Art. 3 lit b) VO 2020/2092 das
Versäumnis, willkürliche oder rechtswidrige Entscheidungen von Behörden einschließlich Straf-
verfolgungsbehörden, zu verhüten, zu korrigieren oder zu ahnden, die ihre ordnungsgemäße Ar-
beit beeinträchtigende Einbehaltung finanzieller und personeller Ressourcen oder das Versäum-
nis. sicherzustellen, dass keine Interessenkonflikte bestehen. Umfasst ist zudem die Einschrän-
kung der Zugänglichkeit und Wirksamkeit von Rechtsbehelfen, auch mittels restriktiver Verfah-
tensvorschriften und der Nichtumsetzung von Gerichtsentscheidungen oder der Einschränkung
der wirksamen Untersuchung, Verfolgung oder Ahndung von Rechtsverstößen,

Art. 3 lit c) VO 2020/2092.

Die Vorgaben des Art. 3 VO 2020/2092 werden weiter in Art. 4 Abs. 2 VO 2020/2092 konkreti-
siert. In der Vorschrift findet sich eine Aufzählung von Punkten, die Verstöße gegen die Grund-
sätze der Rechtstaatlichkeit betreffen. Hierunter fallen u. a. das ordnungsgemäße Arbeiten der Be-
hörden, die den Haushaltsplan der Union ausführen, einschließlich Darlehen und anderer aus
dem Haushalt der Union garantierter Instrumente, insbesondere im Zusammenhang mit Verfah-
ren zur Vergabe öffentlicher Aufträge oder mit Finanzhilfeverfahren (Art. 4 Abs. 2

11 Gemäß Art. 288 UAbs. 2 AEUV hat die Verordnung allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich
und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Eine Umsetzung der Verordnung in nationales Recht ist daher nicht
erforderlich.
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lit. a) VO 2020/2092) bzw. das ordnungsgemäße Arbeiten der Dienststellen, die die Finanzkon-
trolle, die Überwachung und die Rechnungsprüfung durchführen, sowie das ordnungsgemäße
Funktionieren wirksamer und transparenter Finanzverwaltungs- und Rechenschaftssysteme
(Art. 4 Abs. 2 lit. b) VO 2020/2092).

Gleichsam erfasst sind das ordnungsgemäße Arbeiten von Ermittlungs- und Strafverfolgungs-
instanzen bei der Untersuchung und Verfolgung von Betrug, einschließlich Steuerbetrug, Korrup-
tion und anderen Verstößen gegen das Unionsrecht im Zusammenhang mit der Ausführung des
Haushaltsplans der Union oder dem Schutz ihrer finanziellen Interessen

(Art. 4 Abs. 2 lit. c) VO 2020/2092) und die wirksame gerichtliche Kontrolle behördlicher Hand-
lungen oder Unterlassungen im Sinne von lit. a), b) und c) durch unabhängige Gerichte

(Art. 4 Abs. 2 lit. d) VO 2020/2092).'?

Neben weiteren Punkten (Art. 4 Abs. 2 lit. e)-g) VO 2020/2092) macht die Formulierung in
Art. 4 Abs. 2 lit. h) VO 2020/2092 („andere Umstände oder Verhaltensweisen“) deutlich, dass
diese Aufzählung nicht abschließend ist.

3.1.2. Wirtschaftliche Führung des Haushalts/Schutz finanzieller Interessen der Union

Neben dem Vorliegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in einem Mit-
gliedstaat fordert Art. 4 Abs. 1 VO 2020/2092, dass dieser Verstoß die wirtschaftliche F ührung
des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar
beeinträchtigt oder ernsthaft zu beeinträchtigen droht.

Was nach dem Gesetzgeber unter den Begriffen der unmittelbaren Beeinträchtigung bzw. der
ernsthaften Bedrohung einer Beeinträchtigung zu verstehen ist, wird in der Verordnung nicht nä-
her bestimmt." Allerdings weist der Erwägungsgrund 7 darauf hin, dass „bei der Ausführung des
Haushaltsplans der Union durch die Mitgliedstaaten, einschließlich der Mittel, die über das Auf-
bauinstrument der Europäischen Union gemäß der Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates” [...]

12 Im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz wird in Erwägungsgrund 10 zur VO 2020/2092 ausgeführt, dass
diese insbesondere voraussetzt, „dass das betreffende Justizorgan sowohl nach den einschlägigen Vorschriften
als auch in der Praxis seine richterlichen Funktionen in völliger Autonoinie ausüben kann, ohne hierarchischen
Zwängen ausgesetzt zu sein oder irgendeiner Stelle untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle An-
ordnungen oder Anweisungen zu erhalten, und dass es auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von au-
Ben geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils seiner Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen
beeinflussen könnten. Die Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln
insbesondere für die Zusammensetzung des Justizorgans und die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für
Ablehnung und Abberufung seiner Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden be-
rechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieses Organs für äußere Faktoren und an seiner Neu tralität in
Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen.“

13 Vgl. dazu aber im Schrifttum die Ausführungen von Mader, EuZW 2021, 133, 137; ferner Tridimas, CYELP
2020, VII, XVI.

14 Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14. Dezember 2020 zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Eu-
ropäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Krise (ABl. EU 2020. L 433 V/23).
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die Achtung der Rechtsstaatlichkeit [...] eine Grundvoraussetzung für die Einhaltung des Grund-
satzes der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung [ist], der in Art. 317 des Vertrags über die Ar-
beitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert ist“.

Dies setzt u. a. nach Erwägungsgrund 9 voraus, dass die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit
der Justiz garantiert sind, und die Ermittlungs- und Strafverfolgungsinstanzen in der Lage sind,
ihre Aufgaben ordnungsgemäß wahrzunehmen. Die Justiz sowie die Ermittlungs- und Strafverfol-
gungsinstanzen sollten daher mit ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen ausge-
stattet sein und über angemessene Verfahren verfügen, um wirksam und unter uneingeschränkter
Wahrung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren, einschließlich der Wahrung der Verteidi-
gungsrechte, handeln zu können. Rechtskräftige Urteile sollten wirksam umgesetzt werden. Diese
Voraussetzungen stellen eine unabdingbare Mindestgarantie gegen unrechtmäßige und willkürli-
che Entscheidungen von Behörden dar, die den finanziellen Interessen der Union schaden könn-
ten.”

Weiter wird im Erwägungsgrund 12 ausgeführt, dass „gemäß Art. 19 EUV, mit dein der in

Art. 2 EUV verankerte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, die Mitgliedstaaten ver-
pflichtet [sind], einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen, da-
runter auch die Ausführung des Haushaltsplans der Union, zu gewährleisten. Schon das Vorhan-
densein einer wirksamen, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienenden ge-
richtlichen Kontrolle ist dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent und setzt unabhängige Gerichte
voraus (Rechtssache C-64/16, Randnummern 32-36). Die Unabhängigkeit der Gerichte ist von
grundlegender Bedeutung, wie Artikel 47 Unterabsatz 2 der Charta (Rechtssache C-64/16, Rand-
nummern 40-41) bestätigt. Das gilt insbesondere für die gerichtliche Kontrolle der Gültigkeit der
Maßnahmen, Verträge oder anderen Instrumente, die zu öffentlichen Ausgaben oder Verbind-
lichkeiten führen, unter anderem im Zusammenhang mit Verfahren zur Vergabe öffentlicher Au f-
träge, die ebenfalls Gegenstand von Gerichtsverfahren sein können“. Gemäß Erwägungsgrund 13
besteht daher ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und
der effizienten Ausführung des Haushaltsplans der Union im Einklang mit dem Grundsatz der
Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung.

3.2. Ablauf des Verfahrens gemäß Art. 6 VO 2020/2092

Das Verfahren zur Annahme von Maßnahmen regelt Art. 6 VO 2020/2092. Gemäß Art. 6 Abs. 1
VO 2020/2092 übermittelt die Kommission — soweit nach ihrer Auffassung hinreichende Gründe

15 Vgl. Erwägungsgrund 9.
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für die Feststellung vorliegen, dass die in Art. 4 VO 2020/2092 festgelegten Voraussetzungen er-
füllt sind! - dem betreffenden Mitgliedstaat eine schriftliche Mitteilung und legt darin die Tatsa-
chen und die spezifischen Gründe dar, auf denen ihre Feststellungen beruhen, es sei denn, sie ist
der Auffassung, dass andere in der Gesetzgebung der Union festgelegte Verfahren es ihr ermögli-
chen würden, den Haushalt der Union wirksamer zu schützen.

Die Kommission unterrichtet das Europäische Parlament und den Rat unverzüglich über diese
Mitteilung und deren Inhalt. Auf der Grundlage der gemäß Art. 6 Abs. 1 VO 2020/2092 erhalte-
nen Informationen kann das Europäische Parlament die Kommission zu einem strukturierten Di-
alog über ihre Feststellungen auffordern, Art. 6 Abs. 2 VO 2020/2092.

In der Folge legt der betreffende Mitgliedstaat gemäß Art. 6 Abs. 5 VO 2020/2092 sämtliche erfor-
derlichen Informationen zu den in der Mitteilung gemäß Art. 6 Abs. 1 VO 2020/2092 dargelegten
Feststellungen innerhalb einer von der Kommission anzugebenden Frist vor'’ und kann zugleich
Stellung dazu nehmen. In seiner Stellungnahme kann der Mitgliedstaat die Annahme von Abhil-
femaßnahmen vorschlagen, um auf die Feststellungen in der Mitteilung der Kommission zu rea-
gieren.'”

Gelangt die Kommission zu der Feststellung, dass die Voraussetzungen des Art. 4 VO 2020/2092
erfüllt sind und die gegebenenfalls vom Mitgliedstaat gemäß Art. 6 Abs. 5 VO 2020/2092 vorge-
schlagenen Abhilfemaßnahmen der in der Mitteilung der Kommission dargelegten Feststellung

 

16 Bei der Prüfung, ob die in Art. 4 VO 2020/2092 festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind, berücksichtigt die
Kommission sachdienliche Informationen aus verfügbaren Quellen, einschließlich Beschlüssen, Schlussfolge-
rungen und Empfehlungen von Organen der Union sowie von anderen einschlägigen internationalen Organisati-
onen und anderen anerkannten Einrichtungen, Art, 6 Abs. 3 VO 2020/2092. Hierunter fallen nach dem Erwä-
gungsgrund 16 u. a. die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union, Berichte des Rechnungshofs, der Jah-
resbericht der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit und das jährliche EU-Justizbarometer der Kommission,
Berichte des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) und gegebenenfalls Informationen der Europäi-
schen Staatsanwaltschaft (EUStA), sowie Schlussfolgerungen und Empfehlungen einschlägiger internationaler
Organisationen und Netze, einschließlich der Einrichtungen des Europarats wie der Gruppe der Slaaten gegen
Korruption (GRECO) und der Venedig-Kommission, insbesondere deren Verzeichnis der Kriterien zur Bewer-
tung der Rechtsstaatlichkeit („Rule of Law Checklist”) — und der Europäischen Netze der obersten Gerichtshöfe
und der Räte für das Justizwesen.

17 Die Frist beträgt gemäß Art. 6 Abs. 5 VO 2020/2092 mindestens einen Monat und darf nicht mehr als drei Mo-
nate ab dem Tag der Mitteilung dieser Feststellungen betragen.

18 Bei der Entscheidung darüber, ob sie einen Vorschlag für einen Durchführungsbeschluss über geeignete Mab-
nahmen vorlegt, berücksichtigt die Kommission die von dem betreffenden Mitgliedstaat erhaltenen Informatio-
nen und etwaigen Stellungnahmen sowie die Angemessenheit der vorgeschlagenen Abhilfemaßnahmen. Die
Kommission nimmt ihre Bewertung binnen einer Regelfrist von einem Monat ab dem Eingang der Informatio-
nen vonseiten des betreffenden Mitgliedstaats oder ab dem Eingang seiner Stellungnahmen oder, sofern keine
Informationen oder Stellungnahmen eingehen, ab dem Ablauf der gemäß Art. 6 Abs. 5 VO 2020/2092 gesetzten
Frist und in jedem Fall binnen einer angemessenen Frist vor, Art. 6 Abs. 6 VO 2020/2092.
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nicht in angemessener Weise gerecht werden, legt sie dem Rat einen Entwurf für einen Durchfüh-
rungsbeschluss mit geeigneten Maßnahmen vor.'” und zwar binnen eines Monats nach Eingang
der Stellungnahme des Mitgliedstaats oder, sofern keine Stellungnahme abgegeben wird, unver-
züglich und in jedem Fall binnen eines Monats nach Ablauf der gemäß Art. 6 Abs. 7

VO 2020/2092 festgelegten Frist, Art. 6 Abs. 9 VO 2020/2092.”

Der Rat nimmt den in Art. 6 Abs. 9 VO 2020/2092 genannten Durchführungsbeschluss binnen
eines Monats nach Eingang des Kommissionsvorschlags an, soweit nicht außergewöhnliche Um-
stände eine Verlängerung der Frist rechtfertigen, Art. 6 Abs. 10 VO 2020/2092. Ferner kann der
Rat den Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit ändern und den geänderten Text
durch einen Durchführungsbeschluss erlassen, Art. 6 Abs. 11 VO 2020/2092.”

3.3. Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union, Art. 5 VO 2020/2092

Die gemäß dem in Art. 6 VO 2020/2092 geregelten Verfahren anzunehmenden Maßnahmen wer-
den in Art. 5 Abs. 1 VO 2020/2092 näher beschrieben.”?

Art. 5 Abs. 1 VO 2020/2092 unterscheidet dabei nach Maßnahmen, die angenommen werden
können, wenn die Kommission den Haushaltsplan der Union in direkter oder indirekter Mittel-
verwaltung gemäß Art. 62 Abs. 1 lit. a) und c) der Haushaltsordnung ausführt und es sich bei
dem Empfänger um eine staatliche Einrichtung handelt (Art. 5 Abs. 1 lit. a) i)-v) VO 2020/2092).
Hierunter fallen u. a. eine Aussetzung von Zahlungen oder der Umsetzung der rechtlichen Ver-
pflichtung oder die Kündigung der rechtlichen Verpflichtung gemäß Artikel 131 Absatz 3 der
Haushaltsordnung (lit. i)), das Verbot des Eingehens neuer rechtlicher Verpflichtungen (lit. ii))

19 Beabsichtigt die Kommission, einen Vorschlag gemäß Art. 6 Abs. 9 VO 2020/2092 zu unterbreiten, so gibt sie
dem Mitgliedstaat vor Unterbreitung des Vorschlags die Möglichkeit, innerhalb eines Monats zu den Feststel-
lungen und insbesondere zur Verhältnismäßigkeit der in Aussicht genommenen Maßnahmen Stellung zu neh-
men, Art. 6 Abs. 7 VO 2020/2092. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der zu verhängenden Maßnalımen
trägt die Kommission den Informationen und Vorgaben gemäß Art. 6 Abs. 3 VO 2020/2092 Rechnung,

Art. 6 Abs. 8 VO 2020/2092.

20 Die Kommission legt in ihrem Vorschlag die spezifischen Gründe und Beweismittel dar, auf denen ihre Foststel-
lung beruht, Art. 6 Abs. 9 VO 2020/2092.

21 Zu erwähnen ist insoweit auch der im Erwägungsgrund 26 beschriebene Mechanismus: „Das Verfahren zur An-
nahme und zur Aufhebung der Maßnahınen sollte die Grundsätze der Objektivität, der Nichtdiskruninierung
und der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten achten und auf der Grundlage eines unparteilichen und evidenz-
basierten Ansatzes durchgeführt werden. Sollte der betreffende Mitgliedstaat in Ausnahmefällen der Auffassung
sein, dass schwere Verstöße gegen diese Grundsätze vorliegen, kann er den Präsidenten des Europäischen Rates
ersuchen. den Europäischen Rat auf dessen nächster Tagung mit der Angelegenheit zu befassen. In diesen Aus-
nahmefällen sollte keine Entscheidung über die Maßnahmen getroffen werden, bis der Europäische Rat die An-
gelegenheit erörtert hat. Dieses Verfahren wird in der Regel innerhalb von drei Monaten. nachdem die Kommis-
sion dem Rat ihren Vorschlag übermittelt hat. abgeschlossen.“

22 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Mader, EuZW 2021, 133, 135.
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