Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (COM(2022) 105 final)

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Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Ge-
walt (COM(2022) 105 final)

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Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (COM(2022) 105 final)

Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 026/22
Abschluss der Arbeit: 30.05.2022
Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa

 

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bei zu berücksichtigenden Fragen.
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Inhaltsverzeichnis
1. Fragestellung 4
2. Kompetenz aus Art. 83 Abs. 1 AEUV 4
2.1. Umfang der Kompetenz aus Art. 83 Abs. 1 AEUV 4
2.2. Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu

Art. 83 Abs. 1 AEUV 6
3. Regelungen in Kapitel 2 des Richtlinienvorschlags 7
4. Kriminalitätsbereiche „Sexuelle Ausbeutung von Frauen

und Kindern“ und „Computerkriminalität“ 8
4. „Sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern“ 8
4.2. „Computerkriminalität“ 10
4.3. Zusammenfassung 11
5. Allgemeine Regelungen des Art. 11 sowie

Art. 13 ff. Richtlinienvorschlag 11
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1. _ Fragestellung

Der Fachbereich Europa wurde um Prüfung gebeten, ob der Vorschlag der Europäischen Kommis-
sion (Kommission) für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämp-
fung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt! (Richtlinienvorschlag oder RL-Vorschlag)
von der Kompetenz nach Art. 83 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
(AEUV) umfasst ist. Dabei konzentriert sich die Ausarbeitung auf die Betrachtung der strafrechtli-
chen Vorschriften des Kapitel 2 (Straftaten im Zusammenhang mit der sexuellen Ausbeutung von
Frauen und Kindern und Computerkriminalität, Art. 5 - 15 RL-Vorschlag).

Nachfolgend soll zunächst die Reichweite der Kompetenz aus Art. 83 Abs. 1 AEUV dargestellt
werden (Ziff. 2.), bevor auf die Regelungen des Kapitel 2 des Richtlinienvorschlags (Ziff. 3.) und
die Frage, inwieweit diese auf Art. 83 Abs. 1 AEUV gestützt werden können (Ziff. 4 und 5.), ein-
gegangen wird.

Es wird darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Richtlinienvorschlag um einen vorläufigen Ver-
fahrensstand handelt, der einer weiteren Befassung im Rat und im Europäischen Parlament und
daher fortlaufenden Veränderungen unterworfen ist. NEE
Eine abschließende Bewertung dieser Frage obliegt
nach Verabschiedung der Richtlinie dem EuGH.

   
   
    

2. Kompetenz aus Art. 83 Abs. 1 AEUV
2.1. Umfang der Kompetenz aus Art. 83 Abs. 1 AEUV

Der Richtlinienvorschlag stützt sich bezüglich der strafrechtlichen Vorschriften auf
Art. 83 Abs. 1 AEUV.?

1 Europäische Kommission, Vorschlag für eine RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RA-
TES zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (SEC(2022) 150 final} - [SWD{2022) 60
final} - (SWD(2022) 61 final} - ISWD(2022) 62 final} - [SWD{2022) 63 final}, vom 8.3.2022 (COM(2022) 105 fi-
nal), 2022/0066 (GCOD)).

3 Daneben stützt sich der Richtlinien-Vorschlag auf Art. 82 Abs. 2 AEUV, der nach der Begründung der Kommis-
sion „die Rechtsgrundlage für die Festlegung von Mindestvorschriften über die Rechte der Opfer von Straftaten
bildet. soweit dies erforderlich ist, um die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen
sowie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension zu
erleichtern.“, siehe Begründung RL-Vorschlag, Seite 10 unten.
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Gemäß Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem

ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien? Mindestvorschriften zur Festlegung von
Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festlegen’, die aufgrund der

Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf
einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben.“

Derartige Kriminalitätsbereiche sind nach Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV Terrorismus, Menschen-
handel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waf-
fenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und
organisierte Kriminalität.’

Art. 83 Abs. 1 AEUV unterstützt die Vervollkommnung des in Art. 67 Abs. 1 AEUV beschriebe-
nen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die ver-
schiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden. Gleichzeitig
führt Art. 67 Abs. 3 AEUV den Maßstab der Erforderlichkeit einer Angleichung strafrechtlicher
Rechtsvorschriften ein.® Nach Ansicht in der Literatur ist die Strafrechtsharmonisierung gemäß
Art. 83 Abs. 1 AEUV danach weder „Regelfall noch Selbstzweck“.” Stattdessen müsse ein unions-
rechtlich anzuerkennendes rechts- und kriminalpolitisches Bedürfnis für eine Harmonisierung
nachgewiesen werden, dass in der Regel durch die Straflosigkeit bestimmter Verhaltensweisen in
den Mitgliedstaaten unionsrechtlicher Ziele entgegenlaufe.'

4 Vgl. Art. 288 UAbs. 3 AEUV: „Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich
des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der
Mittel.“

5 Die Formulierung „Mindestvorschriften von Straftaten und Strafen“ in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV zeigt dabei

nach Ansicht in der Literatur, dass es sich insoweit nicht um eine abschließende Regelung handelt und die Mit-
gliedstaaten auch höhere Strafen vorsehen können; vgl. dazu Suhr, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage
2022, Art, 83 AEUV, Rn. 8.

6 Vgl, dazu SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS GERARD HOGAN vom 11. März 2021 im Gutachten-
verfahren 1/19 (Übereinkommen von Istanbul) ECLEEU:C:2021:198, Rn. 154.

7 Je nach Entwicklung der Kriminalität kann der Rat gemäß Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV einen Beschluss erlas-
sen, in dem andere Kriminalitätsbereiche bestimmt werden, die die Kriterien des Unterabsatzes 2 erfülle; der
Rat beschließt einstimmig nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.

8 Vgl. Art. 67 Abs. 3 AEUV wonach die Union darauf hinwirkt, „durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämp-
fung von Kriminalität sowie von Rassisınus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit
von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den underen zuständigen Behörden sowie durch
die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung
der strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“ [Hervorhebung durch
den Bearbeiter]; Satzger, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 83 AEUV, Rn. 6.

9 Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022,
Art. 83 AEUV, Rn. 8.

10 Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022,
Art. 83 AEUV, Rn. 8.
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Umstritten ist in der Literatur die Frage, ob in den Fällen des Deliktskatalogs in

Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV die zusammenhängenden Merkmale der „besonders schweren Kri-
minalität“ und der „grenzüberschreitenden Dimension“ des Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV unwi-
derleglich vorliegen oder ob das Bestehen dieser Merkmale jeweils gesondert geprüft werden
müsse.'' Teilweise wird eine gesonderte Prüfungspflicht mit Hinweis auf

Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV und auf den Subsidiaritätsgrundsatz angenommen.'? Dagegen wird
nach anderer Ansicht eine entsprechende Pflicht mit Verweis auf den Wortlaut und mit dem
Hinweis abgelehnt, dass Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV systematisch unabhängig von

Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV stehe." Wiederum andere Stimmen verweisen darauf, dass im Hin-
blick auf konkrete Straftaten bzw. Strafen geprüft werden müsse, ob es sich zumindest typischer-
weise um besonders schwere Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension handelt.'* Eine
höchstrichterliche Entscheidung dieser Frage ist nicht ersichtlich.

2.2. Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 83 Abs. 1 AEUV

Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen seines Urteil zum Zustimmungsgesetz zum Vertrag
von Lissabon vom 30.06.2009 (sog. „Lissabonurteil“) u. a. seine Sicht zu Umfang und Reichweite
des Art. 83 Abs. 1 AEUV dargelegt."

Im Hinblick auf die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 GG im Regelungsbe-
reich von Art. 83 Abs. 1 AEUV hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass die Siche-
rung des Rechtsfriedens in Gestalt der Strafrechtspflege seit jeher eine zentrale Aufgabe staatli-
cher Gewalt sei.'® Ferner führt es aus, dass wegen der besonders empfindlichen Berührung der
demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen die vertraglichen
Kompetenzgrundlagen für solche Schritte strikt - keinesfalls extensiv - auszulegen seien und ihre

ı1 Satzger, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 83 AEUV, Rn. 11 R..
12 Satzger, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 83 AEUV, Rn. 11.
13 Böse. in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 83 AEUV, Rn. 8; Mever, in:
von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 83 AEUV, Rn. 9;

a.A. Satzger, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 83 AEUV, Rn. 12.

14 Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Netiesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022,
Art. 83 AEUV, Rn. 53,

15 Vgl. Bundesverfassungsgericht. Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 (Az. 2 BvE 2/08).

16 Bundesverlfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senals vom 30. Juni 2009 (Az. 2 BvE 2/08). Rn. 355.
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Nutzung besonderer Rechtfertigung bedarf und verweist insoweit auf den sog. Notbremsemecha-
nismus in Art. 83 Abs. 3 AEUV.'” Die Bekämpfung besonders schwerer Kriminalität, die sich u. a.
die territoriale Beschränkung staatlicher Strafverfolgung zumutze macht, kann nach Ansicht des
Bundesverfassungsgerichts ein besonderer Rechtfertigungsgrund für die Übertragung von Ho-
heitsrechten auch in diesem Bereich sein.'? Ferner sei die allgemeine Ermächtigung zur Festle-
gung von Straftaten und Strafen nach Art. 83 Abs. 1 AEUV „begrenzend“ auszulegen.”

In der Folge der vorgenannten Rechtsprechung könnte es nach Ansicht in der Literatur zu einer
Situation kommen, in der das deutsche Bundesverfassungsgericht eine Richtlinie zur Strafrechts-
angleichung als „ausbrechenden Rechtsakt“ ansieht und daher für Deutschland als nicht ver-
bindlich erklärt, der EuGH diese jedoch aus unionsrechtlicher Sicht als wirksam bewertet.”

3. Regelungen in Kapitel 2 des Richtlinienvorschlags

Nachfolgend sollen kurz die Regelungen des Kapitels 2 des Richtlinienvorschlags vorgestellt wer-
den. Der Richtlinienvorschlag sieht insoweit strafrechtliche Vorschriften im Zusammenhang mit
der sexuellen Ausbeutung von Frauen und Kindern und Computerkriminalität vor.

Hierunter fallen zunächst konkrete Straftatbestände, die bestimmte sexuell motivierte Handlun-
gen zum Gegenstand haben (Vergewaltigung (Art. 5 RL-Vorschlag) sowie weibliche Genitalver-
stümmelung (Art. 6 RL-Vorschlag)). Danach folgen Straftatbestände, die einen Bezug zur digitalen
Datenverarbeitung aufweisen (Nicht-einvernehmliche Weitergabe von intimem oder manipulier-
ten Material (Art. 7 RL-Vorschlag), Cyberstalking (Art. 8 RL-Vorschlag), Cybermobbing (Art. 9 RL-
Vorschlag) sowie Aufstachelung zu Gewalt oder Hass im Internet (Art. 10 RL-Vorschlag)).

Im Anschluss daran macht der Richtlinienvorschlag Vorgaben zur Anstiftung, Beihilfe und zum
Versuch (Art. 11 RL-Vorschlag), zu dem konkreten Strafrahmen für die vorgenannten Tatbestände

17 Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 (Az. 2 BvE 2/08) Rn. 358. Art. 83 Abs. 3
UAbs. 1 AEUV: „Ist ein Mitglied des Rates der Auffassung, dass der Entwurf einer Richtlinie nach den Absätzen
1 oder 2 grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde, so kann es beantragen, dass der Eu-
ropäische Rat befasst wird, In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt. Nach einer
Aussprache verweist der Europäische Rat im Falle eines Einvernehmens den Entwurf binnen vier Monaten nach
Aussetzung des Verfahrens an den Rat zurück, wodurch die Aussetzung des ordentlichen Gesetzgebungsverfah-
rens beendet wird.“: vgl. hierzu auch die bundesdeutsche Regelung in $ 9 Integrationsverantwortungsgesetz

vom 22. Septeinber 2009 (BGBl. 1S. 3022). das durch Artikel 1 des Gesetzes vom 1. Dezember 2009 (BGBl. 1S.
3822) geändert worden ist,

18 Bundesverfassungsgericht. Urleil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 (Az. 2 BvE 2/08), Rn. 359.

19 Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 (Az. 2 BvE 2/08). Rn. 363; vgl. dazu
auch Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022,
Art. 83 AEUV, Rn. 24.

20 Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022,
Art. 83 AEUV, Rn. 22.
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(Art. 12 RL-Vorschlag) sowie zu erschwerenden Umständen (Art. 13 RL-Vorschlag). Abschlie-
Bend trifft der Richtlinienvorschlag Regelungen zur gerichtlichen Zuständigkeit (Art. 14 RL-Vor-
schlag) und zu Verjährungsfristen (Art. 15 RL-Vorschlag).

4.  Kriminalitätsbereiche „Sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern“ und „Computer-
kriminalität“

4.1. „Sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern“

Die Kommission stützt in ihrer Begründung des Richtlinienvorschlags die Unionskompetenz aus
Art. 83 Abs. 1 AEUV zunächst auf den Kriminalitätsbereich der „sexuellen Ausbeutung von
Frauen und Kindern“.

Nach Ansicht in der Literatur richtet sich der Kriminalitätsbereich der „sexuellen Ausbeutung“
grundsätzlich auf Fälle des Ausnutzens der Prostitution bzw. der Zuhälterei.?' Allerdings habe
die Kommission in der Vergangenheit den Begriff eher weit verstanden, wie sich in der bereits
bestehenden Richtlinie 2011/93/EU? zeige. Ein derart weites Verständnis des Begriffs der „sexu-
ellen Ausbeutung von Frauen und Kindern“? verfolgt die Kommission ebenso in ihrer Begrün-
dung zum Richtlinienvorschlag und fasst diesen Begriff wie folgt:

„Der Begriff „sexuelle Ausbeutung“ in Artikel 83 Absatz 1 AEUV kann als jeder tatsächliche
oder versuchte Missbrauch der Situation der Schutzbedürftigkeit, des Macht- oder des Vertrau-
ensverhältnisses verstanden werden, einschließlich, aber nicht beschränkt auf finanzielle, sozi-
ale oder politische Vorteile aus einer sexuellen Handlung mit einer anderen Person. Das aus-
beuterische Element kann sich dabei auf die Erlangung von Macht oder Herrschaft über eine
andere Person zum Zwecke der sexuellen Befriedigung, des finanziellen Gewinns und/oder des
Aufstiegs beziehen. Bei den Straftatbeständen der Vergewaltigung und der Verstümmelung
weiblicher Genitalien werden diese Elemente vorausgesetzt. Die Verstümmelung weiblicher Ge-
nitalien ist eine ausbeuterische Praxis, die durchgeführt wird, um die Herrschaft über Frauen
und Mädchen zu erhalten und zu behaupten und um die soziale Kontrolle über die Sexualität
von Mädchen und Frauen auszuüben. Sie wird bisweilen im Zusammenhang mit Kinder- oder

21 Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022.
Art. 83 AEUV, Rn. 56.

22 Vgl. die Straftatbestände Art. 3 Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13, De-
zember 2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der
Kinderpornografie sowie zur Erseizung des Rahmenbeschlusses 2004/68/Jl des Rates, ABL. EU 2011, L335/1;
vgl. dazu Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022,

Art. 83 AEUV, Rn. 56.

23 Vel. BMI1LA 7, UMFASSENDE BEWERTUNG gemäß $ 6 Absatz 3 EUZBBG und Ziffer II. 3. der Anlage zu 89
EUZBLG vom 28.04.2022.
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Zwangsheirat oder häuslicher Gewalt durchgeführt. Dies verdeutlicht das typische Machtun-
gleichgewicht zwischen Frauen und Männern in solchen Fällen, das auch bei Vergewaltigungen
vorherrscht.“?*

Inhaltlich sieht der Richtlinienvorschlag in der Folge Strafvorschriften für Vergewaltigung
(Art. 5 RL-Vorschlag) sowie für Fälle der weiblichen Genitalverstümmelung (Art. 6 RL-Vor-
schlag) vor. Die Kommission führt in ihrer Begründung ferner aus, dass die vorgenannten
Straftaten bestimmte Formen von Gewalt gegen Frauen oder häuslicher Gewalt betref-
fen, die einer sexuellen Ausbeutung von Frauen oder Computerkriminalität gleichkom-
nen. Damit folgt der Richtlinienvorschlag der Tendenz, unter den Begriff der „sexuellen
Ausbeutung“ auch andere Formen des sexuellen Missbrauchs, über die Prostitution hinaus,
zu erfassen.” Dieses bereits in der Vergangenheit vom Unionsgesetzgeber zugrunde gelegte
weite Verständnis des Begriffs wird von Teilen der Literatur mit Hinweis auf den Wortlaut
„Ausbeutung“ sowie den allgemeinen Voraussetzungen der Angleichungskompetenz als kri-
tisch angesehen.?” Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass dadurch die Gefahr drohe,
dass das gesamte Sexualstrafrecht der Mitgliedstaaten harmonisiert werden könnte.”

Auf das in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV beschriebene Erfordernis der „grenzüberschreiten-
den Dimension“ geht die Begründung der Kommission nicht ausdrücklich ein.”” Zumindest
nach einer Ansicht in der Literatur ist dieses aber für die Begründung der Kompetenz nach
Art. 83 Abs. 1 AEUV gesondert zu prüfen.’ Die Frage der Prüfung des Erfordernisses einer

„grenzüberschreitenden Dimension“ stellt sich noch stärker im Hinblick auf Art. 3 lit. c) RL-
Vorschlag.?! Diese Vorschrift sieht vor, dass der Richtlinienvorschlag neben den in Kapitel 2
genannten Straftaten auch auf sonstige nach nationalem Recht strafbare Akte von Gewalt ge-
gen Frauen oder häuslicher Gewalt Anwendung finden soll.

Eine abschließende Bewertung dieser Frage obliegt nach Verabschiedung der Richtlinie dem
EuGH.

. 24 Kommission, Begründung zum Richtlinienvorschlag (COM(2022) 105 final) (Fn. 1), Seite 10.

iD
a

Kommission, Begründung zum Richtlinienvorschlag (COM(2022) 105 final) (Fn. 1), Seite 20.

26 Vgl. Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022,
Art. 83 AEUV, Rn. 56.

27 Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 83 AEUV, Rn. 11; Hochmayr, in: Pechstein/Ho-
wak/Häde, Frankfurter Kommentar, EUV/GRG/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 83 AEUV, Rn. 20; Satzger, in
Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 83 AEUV, Rn. 16: a. A. mit weiterem Verständnis Vogel/Eisele, in:
Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022, Art. 83 AEUV, Rn. 56.

28 Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 83 AEUV, Rn. 11.

29 Vgl. dazu die Ausführungen oben unter Ziff.2.1..

30 Satzger, in Streinz, EUV/AEUV. 3. Auflage 2018. Art. 83 AEUV, Rn. 11f..

31 Kommission, Begründung zum Richtlinienvorschlag (COM(2022) 105 final) (Fn. 1), Seite 20.
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4.2. „Computerkriminalität“

Die Kommission stützt in ihrer Begründung die Unionskompetenz aus Art. 83 Abs. 1 AEUV fer-
ner auf den Kriminalitätsbereich der „Computerkriminalität“. Nach Ansicht in der Literatur um-
fasst dieser Bereich zunächst Straftaten, bei denen Computersysteme und -daten Gegenstand
sind.?? Darüber hinaus sollen nach nicht unumstrittener Ansicht von Teilen des Schrifttums aber
auch Straftaten erfasst sein, bei denen Computer zur Verbreitung genutzt werden, wie z. B. in
Fällen von Kinderpornographie.”

Dieses weite Verständnis legt die Kommission in ihrer Begründung des Richtlinienvorschlags zur
Unionskompetenz im Bereich der „Computerkrirninalität“ * zugrunde und fasst diesen Begriff
wie folgt:

„Der Begriff „Computerkriminalität“ in Artikel 83 Absatz 1 AEUV umfasst Straftaten, die sich
gegen die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien richten oder damit im
Zusammenhang stehen. Durch den Einsatz solcher Technologien als Angriffsmittel kann die
‘Schwere der Straftat in Bezug auf Quantität, Qualität, Intensität, Zielauswahl und Dauer in ei-
nem Maße verstärkt werden, das mit anderen Mitteln nicht erreicht werden kann. Die in diesem
Vorschlag aufgeführten Mindestvorschriften für Straftaten, die den Tatbestand der Cybergewalt
gegen Frauen erfüllen, betreffen solche Straftaten, die untrennbar mit dem Online-Umfeld und
der Nutzung solcher Technologien verbunden sind.“

Inhaltlich sieht der Richtlinienvorschlag in der Folge Strafvorschriften für die nicht-einvernehm-
liche Weitergabe von intimem oder manipulierten Material (Art. 7 RL-Vorschlag), Cyberstalking
(Art. 8 RL-Vorschlag), Cybermobbing (Art. 9 RL-Vorschlag) sowie Aufstachelung zu Gewalt oder
Hass im Internet (Art. 10 RL-Vorschlag) vor. Damit folgt der Richtlinienvorschlag der Tendenz,
unter den Begriff der „Computerkriminalität“ auch Straftaten zu fassen, bei denen Computersys-
teme zur Verbreitung beitragen. Wie vorab bereits dargestellt, wird dieses Verständnis von zu-
mindest Teilen in der Literatur vor dem Hintergrund der begrenzten Einzelermächtigung als zu
weit befunden.”

32 Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022.
Art. 83 AEUV, Rn. 62.

33 Vogel/Eisele, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 75. EL Januar 2022,
Art. 83 AEUV, Rn. 62; Böse, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 83 AEUV, Rn. 13; a.A. Hoch-
mayr, in: Pechstein/Howak/Häde, Frankfurter Kommentar, EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 83 AEUV,
Rn. 26.

34 Vgl. BMLILA 7, UMFASSENDE BEWERTUNG gemäß 8 6 Absatz 3 EUZBBG und Ziffer IL. 3, der Anlage zu 8 9
EUZBLG vom 28.04.2022.

35 Kommission, Begründung zum Richtlinienvorschlag (COM(2022) 105 final) (Fn. 1), Seite 10.

36 Vgl. Hochmayr, in: Pechstein/Howak/Häde, Frankfurter Kommentar, EUV/GRG/AEUV, 1. Auflage 2017,
Art. 83 AEUV, Rn. 26.
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