Bundesregierung will Sperrklausel für Europawahl einführen, wir verklagen Bundesregierung
Bisher gibt es bei der Wahl zum Europäischen Parlament in Deutschland keine Wahlhürde. Nach dem Willen der Bundesregierung ändert sich das aber bis 2024. Der Gesetzentwurf für den Eingriff in den demokratischen Prozess ist schon fertig, aber das Innenministerium hält ihn geheim. Deswegen haben wir Klage eingereicht.

Update, 28.1.2022: Wir haben gewonnen!
Nicht alle Stimmen sind gleich: Die Einführung einer Sperrklausel bei Wahlen ist einer der stärksten Eingriffe des Gesetzgebers in den demokratischen Prozess. Die 5-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl zeigt immer wieder, dass manche Wahlzettel mehr zählen als andere. Besonders deutlich wurde dies bei der Wahl 2013: 15,7 % der abgegebenen Stimmen hatten keinen Einfluss auf das Wahlergebnis, weil sie auf Parteien entfielen, die an der Sperrklausel scheiterten.
Bei Wahlen zum Europäischen Parlament gibt es eine solche Beschränkung bisher nicht, weil das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass Sperrklauseln verfassungswidrig sind. Dadurch können Parteien schon mit rund 0,6 % der Stimmen einen Sitz im Parlament ergattern. Die deutsche Bundesregierung aus CDU und SPD setzte sich allerdings in den vergangenen Jahren dafür ein, dass sich das ändert. Mit Erfolg: Nach massivem Lobbying ermöglichte die EU es im vergangenen Jahr Deutschland, Wahlhürden für die Parlamentswahl 2024 aufzustellen. (Update: Möglicherweise ist eine Wahlrechtsänderung verfassungsrechtlich auch erst 2029 möglich.)
Seehofers Demokratie-Gesetz
Das dazugehörige Gesetz ist bereits fertig. Es stammt aus dem Hause des Innenministers Horst Seehofer und wurde im vergangenen Herbst an den Bundestag übergeben. Das ist besonders: Gewöhnlich schreiben Ministerien Gesetzentwürfe und bringen sie über das Bundeskabinett in den Bundestag ein.
Jetzt aber ist das Prozedere anders: Offiziell hat das Innenministerium lediglich eine „Formulierungshilfe“ für ein Gesetz verfasst. Damit wird nicht nur suggeriert, dass der Gesetzentwurf für die Sperrklausel aus der Mitte des Bundestags kommt und nicht aus dem Hause von CSU-Politiker Horst Seehofer. Das Ministerium umgeht auch Transparenzregelungen. Gesetzentwürfe müsste es veröffentlichen, die Formulierungshilfe hält es geheim.
Klage gegen Innenministerium
Deswegen verklagen wir jetzt das Innenministerium. Gerade bei der Änderung eines der wichtigsten Gesetze der Demokratie – dem Wahlgesetz – sollte Transparenz herrschen.
Das Innenministerium beruft sich bei seiner Ablehnung auf den „Schutz des behördlichen Entscheidungsprozesses“. Der allerdings dürfte nicht greifen, denn das Gesetz liegt bereits bei den Regierungsfraktionen im Bundestag, hat also den Prozess der Behörden bereits verlassen. Auch das Argument, das Innenministerium dürfe nicht über das Dokument verfügen, das dürfe nur der Bundestag, erscheint sehr zweifelhaft. Immerhin hat das Ministerium den Gesetzentwurf selbst erstellt.
Also müssen wir erneut gegen das Horst Seehofers Ressort vor Gericht ziehen. Das Verfahren kostet uns in der ersten Instanz 3.000 Euro. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns dafür mit einer monatlichen Spende unterstützen könnten. Beispielsweise 2 oder 5 oder 10 Euro im Monat würden uns sehr helfen!
RAPHAEL THOMAS - RECHTSANWÄLTE - THOMAS RECHTSANWÄLTE - ORANIENBURGER STR. 23 - 10178 BERLIN Verwaltungsgericht Berlin Kirchstraße 7 10557 Berlin Vorab per Fax: 030 - 9014 8790 RAPHAEL THOMAS RECHTSANWALT FACHANWALT FÜR GEWERBLICHEN RECHTSSCHUTZ FACHANWALT FÜR URHEBER- UND MEDIENRECHT KAY WITTE RECHTSANWALT* VITTORIO DE VECCHI LAJOLO AVVOCATO RECHTSANWALT** DATENSCHUTZBEAUFTRAGTER (TÜV) RAUNA BINDEWALD, LL.M. RECHTSANWÄLTIN* DR. SEBASTIAN CREUTZ RECHTSANWALT** JAN BUSEMANN RECHTSANWALT** ORANIENBURGER STR. 23 10178 BERLIN TEL: +49 30 220 6616 70 FAX: +49 30 220 6616 77 ZWEIGSTELLE CHIEMSEE: MARKSTATT & 83339 CHIEMING TEL: +49 8051| 664 664-0 FAX: +49 8051 664 664-6 INFO@THOMAS-LAW-OFFICE.COM WWW,THOMAS-LAW-OFFICE.COM * ANGESTELLTE(R) RAUN) ** OF COUNSEL/FREIER MITARBEITER Ihr Zeichen: Unser Zeichen: 49-19 RB/UR Datum: 25.03.2019 KLAGE des Herrn Arne Semsrott, Open Knowledge Foundation, Singerstraße 109, 10179 Berlin - Klägers - Prozessbevollmächtigte: Thomas Rechtsanwälte, Oranienburger Straße 23, 10178 Berlin gegen Bankverbindung: Kontoinhaber; Raphael Thomas; Bank: Deutsche Kreditbank AG, 10919 Berlin, Germany IBAN: DE71 1203 0000 1008 3448 95 BIC: BYLADEM 1001 Steuernummer: 34/559/00064 USt.-ID.: DE233979049

die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 11014 Berlin - Beklagte - wegen: Informationszugang Wir bestellen uns zu Prozessbevollmächtigten des Klägers und beantragen wie folgt zu erkennen: I. die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter Aufhebung des Be- scheides des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 15.11.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019, die für die Koalitionsfraktionen gefertigten Formulierungshilfen für Ge- setzentwürfe zur Zustimmung zum Beschluss des Rates vom 13. Juli 2018 und zur Umsetzung des europäischen Wahlaktes im deutschen Europawahlrecht, herauszugeben. ll. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Begründung A. Sachverhalt Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche auf Informationszugang geltend. Er ist Journalist und Projektleiter bei FragDenStaat.de, einem Portal der Open Knowledge Foundation e.V., das es Jedermann ermöglicht, Informationsanfragen bei Behörden zu stellen. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) hat für die Koalitionstraktionen Formu- lierungshilfen für Gesetzentwürfe gefertigt, die zum einen die Zustimmung zum Beschluss des Rates vom 13. Juli 2018 und zum anderen die Umsetzung des europäischen Wahlaktes im deutschen Europawahlrecht zum Gegenstand haben. Der Beschluss des Rates vom 13. Juli 2018 betrifft die Einführung einer Sperrklausel, auf die sich die EU-Staaten auf Initiative der Bundesregierung geeinigt haben. Die Formulierungshilfe zur Umsetzung des europäischen Wahlaktes soll einen Gesetzentwurf zur Einführung einer zwei-Prozent-Hürde bei Europawahlen vorbereiten (entsprechende Zeitungsar- tikel anbei als Anlagenkonvolut K 1).

Mit E-Mail vom 26.09.2018 (beigefügt als Anlage K 2) bat der Kläger die Beklagte über FragDen- Staat.de um die Zusendung der Formulierungshilfe, die das BMI für den Gesetzentwurf bei der EU- Wahl für den Bundestag verfasst hat. Mit Bescheid vom 15.11.2018 (beigefügt als Anlage K 3) wies die Beklagte den Antrag des Klägers zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass das Bekanntwerden der entsprechenden Informationen die Beratungen von Behörden beeinträchtigen würde und der Antrag deshalb nach 83 Nr. 3 b IFG abzulehnen sei. Der Kläger erhob mit vorab versandter E-Mail vom 19.11.2018 Widerspruch (beigefügt als Anlage K 4), der mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2019 (beigefügt als Anlage K 5), dem Kläger zugestellt am 25.02.2019, zurückgewiesen wurde. Ergänzend stütze die Beklagte ihre Ablehnung nun auf die fehlende Verfügungsgewalt des BMI i.S.d. $ 7 Abs. 1 IFG sowie die notwendige Vertraulichkeit internationaler Verhandlungen 1.S.d.$3Nr. 3a IFG. B. Rechtliche Würdigung 1. Zulässigkeit Die Klage ist zulässig. Sie ist als Verpflichtungsklage gem. $ 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO statthaft. Das erforderliche Vorverfahren wurde durchgeführt und die Klagefrist des $ 74 VwGO eingehalten. ll. Begründetheit Die Klage ist auch begründet. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten ist rechtswidrig und ver- letzt den Kläger in seinen Rechten, $ 113 Abs. 5 VwGO. Der Kläger hat gem. $ 1 Abs. 1 S. 1 IFG einen voraussetzungsiosen Anspruch auf Zugang zu den beantragten Informationen. Ausschluss- gründe liegen nicht vor. 1. Behördliche Beratungen, $ 3 Nr. 3b IFG Dem Zugang zu den begehrten Informationen steht insbesondere nicht der Ausschlussgrund des $ 3Nr. 3b IFG entgegen. Der Ausschlussgrund des $ 3 Nr. 3 b IFG erfasst nur Beratungen von Behörden i.S.d. $ 1 Abs. 4 VwVfG. „Beratungen von Behörden" kann somit sowohl Beratungen zwischen Behörden als auch Beratungen innerhalb der Behörden meinen. Die Erstreckung des Ausschlussgrundes auf Beratun-

gen zwischen Exekutive und Legislative bzw. sonstige Einrichtungen ist vom Gesetzeswortlaut nicht gedeckt (vgl. Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, 2. Auflage 2016, 8 3 Rn. 178). Selbst wenn der Ausschlussgrund des $ 3 Nr. 3 b IFG grundsätzlich auch Beratungen zwischen Exekutive und Legislative erfasst, ist vorliegend die nachteilige Beeinflussung der notwendigen Ver- traulichkeit behördlicher Beratungen durch die beantragte Information weder nachvollziehbar darge- tan noch erkennbar. Die informationspflichtige Stelle muss einzelfallbezogen, hinreichend substanti- lert und anhand konkreter Umstände darlegen, ob und warum die Gewährung des beantragten In- formationszugangs nachteilige Auswirkungen auf die Vertraulichkeit behördlicher Beratungen haben kann. Die Möglichkeit einer Verletzung des Schutzguts muss dargetan werden (Schoch, a.a.0., 8 3 Rn. 188). Die Beklagte behauptet jedoch ohne weitere Ausführungen, dass ein unbefangener und freier Meinungsaustausch sowie eine offene Meinungsbildung innerhalb des BMI, zwischen dem BMI und anderen Ressorts, sowie zwischen BMI und Fraktionen des Deutschen Bundestags durch die Herausgabe der Formulierungshilfen beeinträchtigt würde. Damit kommt sie ihrer behördlichen Dar- legungslast nicht nach und der Klage ist schon deshalb stattzugeben. Unabhängig davon, betreffen die Formulierungshilfen keine Beratungen i,S.d. $ 3 Nr. 3 b IFG. Ge- schützt ist lediglich der Beratungsprozess an sich, nicht aber die Tatsachengrundlagen und die Grundlagen der Willensbildung oder das Ergebnis von Beratungen. Erfasst ist somit der „Vorgang des gemeinsamen Überlegens, Besprechens bzw. Beratschlagens zu treffender Entscheidungen“ (vgl. OVG Schleswig, NVwZ 1999, 670). Bei den Formulierungshilfen handelt es sich um das Ergeb- nis von Beratschlagungen im BMl, die aus sich heraus auch keinen Aufschluss über die anschlie- Benden Beratungen zum Gesetzentwurf geben können. Darüber hinaus müsste die Beratung aus tragfähigen Gründen notwendig sein. Dies ist nicht er- kennbar. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass gesetzesvorbereitende Tätigkeit grundsätzlich vom Informationszugang ausgeschlossen sein soll. 2. angeblich fehlende Verfügungsgewalt, $ 7 Abs. 1 IFG Einer Herausgabe der Information steht auch nicht die fehlende Verfügungsgewalt des BMI über die von ihm gefertigten Formulierungshilfen entgegen. Die Zuständigkeitsregelung des 8 7 Abs. 1 IFG entfaltet ohnehin alleine in den Fällen Bedeutung, in denen eine Behörde Daten von anderen erhalten hat und somit mehrere Behörden Über denselben Datensatz verfügen (BeckOK Informations- und Medienrecht, Gersdorf/Paal, 23. Edition, Rn. 23

m.w.N.). Über ihre eigene, von ihr selbst erhobene Information, ist die Behörde verfügungsbefugt (vgl. BT-Drs. 15/4493, S. 14). Das BVerwG hat entsprechend festgestellt, dass der Urheber einer Information grundsätzlich verfügungsbefugt über diese sei (BVerwG, Urteil vom 3.11.2011 - 7C 4.11). Das BMI hat die Formulierungshilfen erstellt. Ob dies in eigener Initiative oder Entscheidungsgewalt geschehen ist, ist keine zu berücksichtigende Voraussetzung der Verfügungsbefugnis 1.S.d. $ 7 Abs. 1 IFG. Das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 3.11.2011 - 7 C 4.11) hat in vergleichbarer Konstellation ausgeführt: „Einem Bundesministerium steht als Urheber der Information die Verfügungsberechtigung \;S. von $ 7 11 IFG über eine Stellungnahme zu, die es gegenüber dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages abgegeben hat.“ (..) „Die Beklagte kann sich indessen nicht darauf berufen, dass allein dem Petitionsausschuss die Verfahrensherrschaft über das Petitionsverfahren zukomme und er deshalb allein über alle ihm übermittelten Unterlagen verfügen dürfe. Soweit auch in der Begründung des Gesetzentwurfs von einem Übergang der Verfügungsberechtigung die Rede ist, bezieht sich das jeweils nur darauf, dass bei Weitergabe der Information der weitere Empfänger ein eigenes Verfügungsrecht erhäft.“ Diese Gedanken gelten ebenso für die vorliegende Konstellation. Das BMI mag den Formulierungsvorschlag auf Anfrage der Fraktionen entwickeit haben. Dies hat es dennoch im Rahmen seiner Aufgabenwahrnehmung getan. Für die Konstruktion der Amtshilfe ist hier kein Raum. 3.83 Nr.3alFfG Auch der Ausschlussgrund des 8 3 Nr. 3 a IFG ist nicht einschlägig. Weder ist die Beklagte der behördlichen Darlegungslast in Bezug auf die Voraussetzungen dieses Ausschlussgrundes nachgekommen, noch liegen diese vor. Die Beklagte hat lediglich vorgetragen, dass der Gesetzgebungsprozess auf EU-Ebene noch nicht abgeschlossen ist und behauptet, dass die Verhandlungsposition der Bundesregierung durch die Herausgabe der Formulierungshilfe geschwächt werden könnte.

Die bloße Deklaration von Verhandlungen durch die an sich informationspflichtige Stelle als „vertraulich“ genügt für die Informationsverweigerung jedoch nicht. Entscheidend ist vielmehr, ob im jeweiligen Zusammenhang nach den erkennbaren Umständen die Möglichkeit eines freien Gedankenaustausches geschaffen und eine Entscheidungsfindung erleichtert werden soll. Dies ist seitens der informationspflichtigen Stelle mir substantieller Begründung darzulegen (Schoch, a.a.O., $ 3 Rn. 173). Es ist nicht ersichtlich, dass das gesamte europäische Gesetzgebungsverfahren entgegen den Grundsätzen von Demokratie und Transparenz vertraulich und einem Informationszugangsanspruch nicht zugänglich sein soll. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, inwiefern hier überhaupt internationale Verhandlungen vorliegen sollen, in denen eine Verhandlungsposition Deutschlands geschwächt werden könnte. Der Beschluss des Rates der EU vom 13. Juli 2018 ist bereits veröffentlicht. Nun fehlt die Zustimmung der Mitgliedstaaten. Es liegt schon keine Verhandlungssituation mehr vor. Darüber hinaus ist bekannt, dass die Einführung der Sperrklausel auf Initiative der Bundesregierung beschlossen wurde und eine der Formulierungshilfen die Zustimmung hierzu betrifft. Die andere Formulierungshilfe betrifft bereits die Einführung der entsprechenden Sperrklausel. Die deutschen Interessen dürften somit hinreichend bekannt sein. Nach alldem ist die Klage vollumfänglich begründet. Beglaubigte und einfache Abschrift anbei. Bindewald Rechtsanwältin
