Corona-Strategie des InnenministeriumsWer Gefahr abwenden will, muss sie kennen

Seit einer Woche berichten deutsche Medien über ein Strategiepapier des Bundesinnenministeriums, das den Umgang der Bundesregierung mit der Corona-Pandemie vorzeichnen soll. Bisher hat das Ministerium das Dokument nicht herausgegeben. Wir dokumentieren es hier.

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Wissenschaftler:innen fordern den massiven Ausbau von Tests –

National Cancer Institute via Unsplash

Wie umgehen mit der Corona-Pandemie? Das Bundesinnenministerium hat ein 17-seitiges Strategiepapier mit dem Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ verfasst und nach dem 18. März an weitere Ministerien sowie das Bundeskanzleramt verteilt. Wir dokumentieren es an dieser Stelle. In der Studie fordern die Autor:innen, zu denen offenbar Wissenschaftler:innen gehören, unter anderem eine massive Ausweitung von Tests.

Das Papier lag in der vergangenen Woche bereits verschiedenen Medien vor. Keines veröffentlichte das Dokument jedoch. Während tagesschau.de Handlungsanweisungen zum vermehrten Testen in den Mittelpunkt rückte, beschrieb der Spiegel zunächst das Worst-Case-Szenario aus dem Papier, nach dem es zu über einer Millionen Todesfällen kommen würde. Die taz erwähnte zudem Vorschläge zu einer Veränderung der Kommunikationsstrategie.

„Big Data“, Anarchie und Mobilisierungskampagne

Danach folgern die Autor:innen des Strategiepapiers, dass Behörden eine „Schockwirkung“ erzielen müssten, um Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die menschliche Gesellschaft zu verdeutlichen. Es solle klar gemacht werden, dass bei einer Infizierung mit dem COVID-19-Virus eine Todesart das „qualvolle“ Ersticken sein könne. Zudem seien auch Kinder Opfer des Virus und auch bleibende Folgeschäden bei einer Erkrankung seien nicht ausgeschlossen. Unter Bezug auf vorige Krisen solle zudem „historisch argumentiert“ werden. „2019 = 1919 + 1929“, heißt es in dem Papier. Im schlimmsten Fall drohe, „dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert“.

Um die verschiedenen Szenarien eines Krisenverlaufs darzustellen, nehmen die Autor:innen offenbar Bezug auf den vielzitierten Artikel „Hammer and Dance“ des Managers Tomas Pueyo. Er schlägt unter anderem eine massive Senkung von sozialen Kontakten vor – eine Maßnahme, die nur Wochen dauere. Vor allem dieser Teil des Artikels ist nicht ohne Kritik geblieben.

Zivilgesellschaft und „Online-Gemeinschaft“ stärken

Die Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise – eine Erhöhung der Tests und Sauerstoffkapazitäten sowie Verringerung von Sozialkontakten – müsse der Gesellschaft transparent kommuniziert werden. Zudem fordern die Autor:innen des Papiers, dass „längerfristig der Einsatz von Big Data und Location Tracking unumgänglich“ sei. Einen Beleg für diese These liefern sie allerdings nicht.

Zudem heben die Autor:innen hervor, dass neben einer Aufklärung durch Behörden zivilgesellschaftliche Solidarität notwendig sei. Sowohl Nachbarschaften als auch „die Online-Gemeinschaft“ solle weiter mobilisiert werden, um Personen zu versorgen und Risikogruppen zu unterstützen.

Das Innenministerium hatte sich bisher mit Verweis auf die angebliche Vertraulichkeit des Dokuments geweigert, es auf Basis des Pressegesetzes oder der Informationsfreiheitsgesetze herauszugeben. Es ist als „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. Aufgrund der Wichtigkeit der darin enthaltenen Strategien dokumentieren wir es dennoch vollständig, um eine öffentliche Diskussion darüber zu ermöglichen.

Updates, April und Juni: Laut Frankfurter Allgemeiner Zeitung wurde das Strategiepapier vom 19. bis 22. März von einer "Gruppe von rund zehn Fachleuten" verfasst, darunter Wissenschaftler des Instituts der deutschen Wirtschaft und vom RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. (Und nein, das Papier ist kein Aprilscherz, das Innenministerium hat es später selbst noch veröffentlicht.)

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→ zum Strategiepapier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“

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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekom- men 1. Lage und Strategie Das pandemische COVID-19-Virus ist für die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland und Europa die größte Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein Blick auf die Daten aus Asien und die Meldungen aus europäischen Nachbarländern zeigen, dass eine Unterschätzung der Größenordnung dieser Herausforderung zu immensen, irreversiblen Schäden führen wird. Die meisten Virologen, Epidemiologien, Mediziner, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler beantwor- ten die Frage «was passiert, wenn nichts getan wird» mit einem Worst-Case-Szenario von über einer Million Toten im Jahre 2020 – für Deutschland allein. Ein Expertenteam von RKI, RWI, IW, SWP, Uni- versität Bonn/University of Nottingham Ningbo China, Universität Lausanne und Universität Kassel bestätigt diese Zahlen mit einem für Deutschland entwickelten Gesamtmodell. Die Vermeidung dieses Worst Case hat deswegen oberste strategische Priorität und ist nach den Berechnungen und Empfehlungen dieses Expertenteams nicht nur zwingend notwendig, sondern auch immer noch möglich. Was ist zu tun? 1) Kommunikation: Der Worst Case ist mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland un- missverständlich, entschlossen und transparent zu verdeutlichen. 2) Geschlossenheit: Die Vermeidung des Worst Case ist als zentrales politisches und gesell- schaftliches Ziel zu definieren. Politik und Bürger müssen dabei als Einheit agieren. 3) Nachvollziehbarkeit: Die Bürger müssen nachvollziehen können, dass folgende Maßnahmen nur mit ihrer Mithilfe zu ihrem Wohl umgesetzt werden müssen und können. a. Soziale Kontakte sind für eine bestimmte Zeit auf ein Minimum zu reduzieren (soziale Distanzierung) und ein Ende dieser Maßnahmen ist von der nachvollziehbaren öf- fentlichen Wirkung dieser Maßnahmen abhängig zu machen. b. Die Wirkung der Maßnahmen lässt sich am besten durch Ausweiten des Testens für alle Bürger in Echtzeit nachvollziehbar machen. Konsequent getestet werden sollten Bürger mit Eigenverdacht und der gesamte Kreis der Kontaktpersonen von positiv getesteten Bürgern. Großflächiges Testen vermittelt den von Ausgangsbeschränkun- gen betroffenen Bürgern ein aktives Krisenhandeln des Staates. Wir müssen von der Methode «Wir testen, um die Lage zu bestätigen» zur Methode «Wir testen, um vor die Lage zu kommen» wechseln (das belegt Südkorea eindrucksvoll). Eine zentrale Erfassung aller durchgeführten und zukünftig erfolgenden Tests ist unabdingbar. Eine Bestimmung der nationalen Testkapazität (Kapazitäten an Tests, med. Personal zur Durchführung, Auswertung) und deren größtmögliche Erhöhung sind überfällig. Dies erlaubt eine mit allen Bürgern geteilte Beobachtung der Ausbreitung und Eindäm- mung. Ein der Lage angemessenes und schrittweises Eingreifen in wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe wird dadurch erst ermöglicht und die Akzeptanz und Sinn- haftigkeit von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen erhöht. 1
1

VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH c. Auch bei erfolgreichem Eindämmen der Epidemie muss die Kapazität für die nötige medizinische Betreuung erhöht werden. Die Lage wird sich dadurch verschlimmern, dass nicht nur intensiv-medizinische Betreuung von Schwerstkranken mit Beat- mungsgeräten, sondern auch für mittelschwer Erkrankte eine Sauerstoffversorgung ambulant und stationär notwendig werden wird (das belegt China). d. Die Bundesregierung muss eine umfassende Mobilisierungskampagne starten. Die gegenwärtige Krise durch COVID-19 ist ein harter Schlag für das Vertrauen in die In- stitutionen. Dem muss entgegengewirkt werden, weil die Regierung zu einem mobili- sierenden Faktor werden muss. Devise: «es kommt etwas sehr Bedrohliches auf uns zu, wir haben die Gefahr aber erkannt und handeln entschieden und überlegt. Wir brauchen ein Zusammenkommen und Wirken von allen Kräften in der Gesellschaft. Dann werden wir die Gefahr noch abwenden». Um die gesellschaftlichen Durchhal- tekräfte zu mobilisieren, ist das Verschweigen des Wort Case keine Option. Wer Gefahr abwenden will, muss sie kennen. 2
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH 2. Modellrechnung zur Strategiefindung Der wesentliche Grund, weshalb die große Gefahr, die durch COVID-19 ausgeht, bis vor kurzem nicht gesehen wurde, ist die Schwierigkeit, exponentielles Wachstum intuitiv zu verstehen. Eine Modellie- rung soll helfen, die Dynamik von COVID-19 zu verstehen. Hierzu müssen wir unter anderem die Ausbreitungsgeschwindigkeit und die Sterblichkeitsrate des Virus kennen. Seit Anfang des Ausbruchs in Wuhan (VR China) wurde die Sterblichkeitsrate des Virus immer wieder heruntergespielt mit dem Hinweis auf eine mögliche "Dunkelziffer". Asymptomatische und milde Fälle seien kaum getestet worden und würden daher die tatsächliche Sterblichkeitsrate noch verringern, wenn man diese un- bekannten Fälle mit einberechnen würde. Dieses und andere Argumente haben lange zu einer Unter- schätzung der Gefahr, die von dem Virus ausgeht, geführt. Erst die dramatische Lage in Italien hat teilweise zu einem Umdenken geführt, obwohl leider alle Indikatoren darauf hindeuten, dass dort der Höhepunkt der Neuansteckungen noch längst nicht erreicht ist. Falls nicht erfolgreiche Maßnah- men zum Eindämmen ergriffen werden, wird sich dort selbst in den jetzt schon am schwersten ge- troffenen Regionen die Lage voraussichtlich noch um mehr als eine Zehnerpotenz in Bezug auf die Anzahl Fälle und die Todesfälle verschlimmern. Die Abschätzung der Sterblichkeitsrate kann am besten mit den Daten aus Südkorea geschehen. Dort wurden mit minimalen Ausgangsbeschränkungen, vor allem durch effizientes Testen und Isolieren, die verschiedenen Ausbrüche erfolgreich unter Kontrolle gebracht. Bei einer erheblichen Dunkelziffer von nicht gefundenen Fällen wäre dies nicht möglich gewesen. Es erging nie ein Aufruf zur Selbstiso- lierung bei milden Symptomen, der in der Grippesaison und bei einem Virus, das sehr lange anste- ckend ist, auch nicht viel gebracht hätte. Auch wurden dort durch die systematische Kontaktsuche sehr viele Personen getestet, die überhaupt keine Symptome hatten. Daher ist in Südkorea mit einer sehr kleinen Dunkelziffer zu rechnen. Die Fallsterblichkeitsraten pro Altersgruppe können daher als gute Referenz betrachtet werden, die noch leicht hinaufzusetzen sind, da noch regelmäßig Todesfälle gemeldet werden, obwohl wenige neue Fälle hinzukommen. Diese Zahlen sind außerdem mit den Zahlen aus China außerhalb Hubei kohärent, wo noch viel intensiver getestet wurde. Für die Vertei- lung der Fälle auf die verschiedenen Altersgruppen und die Alterspyramide in Südkorea erhält man eine mittlere Fallsterblichkeitsrate von momentan 1,1%. Angepasst an die Altersstruktur für Eu- ropa erhält man eine mittlere Fallsterblichkeitsrate von 1,8% bei bester Krankenhausversorgung. Die Daten aus Südkorea sollten daher als Mindestwerte für die endgültige Fallsterblichkeitsrate ange- sehen werden, wenn ein Ausbruch abgeklungen und alle Infizierten geheilt oder tot sind. Während der exponentiellen Ausbreitung kann man von einer vorläufigen (englisch: naive) Fallsterblichkeits- rate von circa 1% ausgehen. Das RKI geht in einem sehr moderaten Szenario derzeit von einer Letali- 1 tät von 0,56% aus. In der weiteren Modellierung wird mit einer Fallsterblichkeit von 1,2% gearbeitet. Wir gehen davon aus, dass 5% der infizierten Personen hospitalisiert werden müssen und davon wie- derum 30% eine intensivmedizinische Betreuung und weitere 20% mindestens eine Beatmung mit- tels entsprechenden Gerätschaften benötigen. Das RKI geht von einer Hospitalisierungsrate von 4,5% 2 aus, wovon 25% intensivpflichtig werden. Darüber hinaus nehmen wir an, dass die Verweildauer auf der Intensivstation bei zehn Tagen liegt, wenn die Patienten so schnell wie möglich verlegt werden, um diese extrem knappe Ressource für die nächsten Patienten nutzen zu können. Für die Beatmung an einem Beatmungsgerät setzen wir neun Tage an und für Patienten, die einen Krankenhausaufen- thalt ohne solche Unterstützungen benötigen, acht Tage. Die Mortalitätsraten werden je nach Be- 1 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Modellierung_Deutschland.html 2 ebd 3
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH handlungsart differenziert. Bezogen auf die Gesamtzahl der Infizierten beträgt sie bei guter Kranken- hausversorgung im Modell 1,2% und bei Rationierung wegen nicht ausreichender Krankenhausver- sorgung 2,0% – jeweils bezogen auf die Grundgesamtheit aller Infizierter. Was die Kapazitäten der Krankenhausversorgung angeht, gehen wir davon aus, dass derzeit 14.000 Intensivbetten für mit COVID-19 infizierte Menschen zur Verfügung stehen. Weitere 14.000 stehen für Patienten mit anderen Krankheiten bereit. Diese könnten jedoch eventuell nicht ausreichen, um Notfälle (z.B. Herzinfarkte, Schlaganfälle, etc.) ausreichend zu versorgen. Ferner nehmen wir an, dass 18.000 Beatmungsgeräte für mit COVID-19 infizierte Menschen vorhanden sind und fast 300.000 Bet- ten in Krankenhäusern und Reha-Kliniken. Außerdem unterstellen wir, dass es gelingt, diese Zahlen in den nächsten Wochen sukzessive zu erhöhen – auf dann 24.000 „freie“ Intensivbetten, 28.000 Beatmungsgeräte und zusätzlich 60.000 Betten in Hotels und Messehallen. Hinsichtlich der Ausbreitungsgeschwindigkeit scheint sich in Deutschland derzeit die Zahl der ge- meldeten infizierten Fälle etwa alle drei Tage zu verdoppeln. Erste Maßnahmen zur Reduktion physis- cher Kontakte, wie zum Beispiel das Verbot von großen Veranstaltungen und die Minimierung der Reisetätigkeit, sollten dazu führen, die Zeitspanne bis zur Verdopplung der Zahl Infizierter zu verlängern. Im Worst Case Szenario gehen wir davon aus, dass sich die Verdopplungszeit bis zum 14. April von drei auf dann sechs Tage erhöht – und bis Ende April auf neun Tage. Unter diesen Worst Case Annahmen wird die Zahl der Infizierten trotzdem rasant zunehmen und schon relativ bald 70% der Bevölkerung ausmachen. Es ist daher mit einer massiven Überlastung des Gesundheitssystems zu rechnen (Abbildung 1). Über 80% der intensivpflichtigen Patienten müssten von den Krankenhäusern mangels Kapazitäten abgewiesen werden. Dabei ist berücksichtigt, dass in der nächsten Zeit zusät- zliche Intensivbetten und Beatmungsgeräte zur Verfügung gestellt werden. Die Phase der Rationie- rung könnte zwei Monate andauern. In diesem Szenario wäre mit mehr als einer Million Todesfällen zu rechnen. 4
4

VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH

Abbildung 1: Szenario „Worst Case“

Intensiv: Belegungen

    
   
  

    
 
 

350.000
300.000 BEE Bedarf
250.000 ——intensivbetten
200.000 14.000 auf 24.000
150.000 steigendt?)
100.000
50.000
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Beatmung: Belegungen
350.000
300.000 MiMBedarf
250.000 B z
200.000 _———Beatmungsgeräte
150.000 18.000 auf 28.000
100.000 steigend!
50.000
0

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AN cd Andıu {41
ISRAAR anarR

Anteil Anteil
Anzahl Bevölk. Infizierte
57.411.181

411. 69,3%
1.159.441 1,40%
Abklingen: unter 1.000 Neu-Infizierte ab 115

Anzahl Todesfälle
1.200.000

1.000.000

800.000
600.000
400.000
200.000 |
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mn

Höchste Rationierung Abzu-
Auslastung Dauer (d) weisen

 

 

Gesamtdauer ab 16 3. in Tage 56
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH

Um diesen Worst Case zu vermeiden und zu einem positiveren Dehnung Case zu gelangen, müssen
die Maßnahmen zur Reduktion physischer Kontakte viel weitreichender sein. Wenn es gelingt, schon
bis Anfang April die Zeitspanne bis zur Verdopplung auf sechs Tage zu verlängern und in diesem
Tempo weiter bis Mitte April auf neun Tage, kann es gelingen, die Kapazitäten des Ge-
sundheitswesens deutlich weniger stark zu strapazieren. Gleichwohl erwarten wir hier eine tempo-
räre Überauslastung der Intensivkapazitäten. Es müssten aber in der Summe „nur“ rund 15% der
intensivpflichtigen Patienten abgelehnt werden (Abbildung 2). Beatmungsgeräte stünden indessen
stets ausreichend zur Verfügung. Diese Aussage gilt unter der Prämisse, dass weitere Geräte und In-
tensivbetten in den nächsten Tagen und Wochen zur Verfügung gestellt werden. Durch diese zei-
tliche Dehnung wird jedoch der Ausnahmezustand deutlich länger anhalten als im oben genannten
Worst Case, im Modell sieben Monate. Nur etwa 20% der Bevölkerung wäre dann mit dem Virus infi-
ziert. Die Zahl der Todesfälle würde sich auf etwa 220.000 belaufen. Die makroökonomischen Nega-
tiveffekte des Dehnung Case wären indessen von einem gewaltigen Ausmaß (siehe unten).

Abbildung 2: Szenario „Dehnung“

 

as Belegungen Anzahl Todesfälle
BEE Bedarf 1.200.000
100.000 ——Intensivbetten
1.000.000
50.000 14.000 auf 24.000 steigend'!)
t 800.000
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SRÄSTRTERIAFSTARSG 600.000
Beatmung: Belegungen
150.000 400.000
mu Bedarf
100.000 —— Beatmungsgeräte 200.000
50.000 18.000 auf 28.000 steigend(!) I]
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Anteil Anteil Rationierung Abzu-

Anzahl Bevölk. Infizierte Auslastung 2) Dauer (d) weisen

Insgesamt Infizierte 17.437.760 21,1% Nur Hospital 11% Nie 0%
Todesfälle 221914 0,27% 5 83% Nie 0%

Abklingen: unter 1.000 Neu-Infizierte ab 9.10 ü 158% 17.4 16%
Gesamtdauer ab 16 3. in Tage 207
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH

Schließlich betrachten wir das weiter unten geschilderte und international unter Experten meist dis-
kutierte Szenario „Hammer and Dance“ (Abbildung 3). Wenn es gelingen sollte, durch umfangreiches
Testen und Isolieren die Ausbreitung des Virus effektiv zu kontrollieren, wären die Auswirkungen
weitaus milder. Im vorliegenden Modell würden sich rund eine Million Menschen infizieren, aber nur
etwa 12.000 versterben. Die Mortalität läge also bei 1,2%. Insgesamt könnte dieser Zustand circa
zwei Monate andauern. Da jedoch nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung zumindest gegen das ak-
tuell vorherrschenden Virus immunisiert wäre, müsste danach weiterhin kontinuierlich hohe Wach-

samkeit bestehen bleiben.
Abbildung 3: Szenario „Hammer and Dance“

Intensiv: Belegungen

50.000
Em Bedarf
—— Intensivbetten
14.000 auf 24.000 steigend!)
o una ÄNLLÄNNNUNNNINNIÄHKABJÜR12B01004 01
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Beatmung: Belegungen
50.000
Em Bedarf
—— Beatmungsgeräte 18.000 auf 28.000 steigend(!)
25.000
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Anteil Anteil
Anzahl Bevölk. Infizierte
Insgesamt Infizierte 1003300 1,2%

Todesfälle 11.777 0,01% 1,17%
Abklingen: unter 1.000 Neu-Infizierte ab 275
Gesamtdauer ab 16 3. in Tage 72

Anzahl Todesfälle

1.200.000
1.000.000
800.000
600.000
400.000
200.000
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Höchste Rationierung Abzu-
Auslastung Dauer (d) weisen
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH 3. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen Die deutsche Volkswirtschaft ist eine Hochleistungsmaschine, die Jahr um Jahr ein hohes Maß an ma- teriellem Wohlstand und allen Bürgern zugänglichen öffentlichen Gütern wie einer umfassenden Ge- sundheitsversorgung und öffentlicher Sicherheit bereitstellt. Ihre Leistungsfähigkeit wird von einem hohen Maß an Arbeitsteilung innerhalb und außerhalb des Landes getragen. Die Voraussetzung dafür ist, dass der überwiegende Teil aller bestehenden Unternehmen und Arbeitnehmer einsatzfähig ist und die Integrität des Gesamtsystems nicht in Frage gestellt wird. Genau dies macht die Volkswirtschaft auch so anfällig wie einen Hochleistungsmotor, denn nur das gleichzeitige Funktionieren all seiner Bestandteile wahrt die Funktionsfähigkeit des gesamten Sys- tems. Man kann zwar im Normalbetrieb moderate konjunkturelle Schwankungen wirksam über die Zeit glätten, vor allem durch Systeme der sozialen Sicherung. So lange die Maschine mehr oder weni- ger auf Hochtouren läuft, sind kleine Störungen des Systems also kein ernsthaftes Problem. Jeder Ar- beitstag mehr oder weniger übersetzt sich dann in der Endabrechnung in ein etwas größeres bzw. kleineres BIP. Diese „normale Welt“ ist jetzt aber außer Kraft gesetzt, wir sind auf unbekanntem Ter- rain. Sollten die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie nicht greifen, könnten im Sinne einer „Kernschmelze“ das gesamte System in Frage gestellt werden. Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie ver- ändert. Dementsprechend wäre es naiv, davon auszugehen, dass ein Rückgang des BIP um eine zwei- stellige Prozentzahl, etwa jenseits der 20%, eine lineare Fortschreibung der Verluste aus dem Fehlen einiger Arbeitstage bedeuten und ansonsten das Gesamtsystem nicht in Frage stellen würde. Aus die- sem Grund ist die – alle anderen Überlegungen dominierende – Strategie der Eindämmung mit Vor- kehrungen zu verbinden, um die ökonomischen Konsequenzen so gering wie möglich zu halten. Unbedingte Voraussetzung dafür ist, dass die Strategie zur Eindämmung und Kontrolle von Covid-19 auch tatsächlich konsequent durchgesetzt wird. Denn ginge man zu zaghaft vor, würde ebenso die Überlastung der Kapazitäten der Gesundheitsversorgung drohen wie bei einer anfänglich erfolgrei- chen, dann aber zu früh gelockerten Strategie. Die einzige gangbare Möglichkeit dürfte daher die Ein- richtung einer zweistufigen Strategie sein: Sie erfordert (i) die schnellstmöglich umgesetzte, strikte Unterdrückung der Neuansteckungen setzt, bis die Reproduktionsrate in der Nähe von 1 ist, und (ii) schließt ein umfassendes und konsequentes System des individuellen Testens und Isolierens der identifizierten Fälle an. Das würde dem Rest der Volkswirtschaft wieder eine rasche Rückkehr in annähernden Normalbetrieb erlauben und die Aussicht eröffnen, dass diese Krise nicht größer wird als die Wirtschafts- und Fi- nanzkrise 2009. Es wäre natürlich am besten, könnte man diese zweite Stufe sofort einleiten und so volkswirtschaftliche Verluste vermeiden. Aber das ist nicht möglich, die Testkapazitäten müssen erst aufgebaut werden. So lange das nicht geschehen ist, bleibt nur der „Holzhammer“ („The Hammer“) der starken sozialen Distanzierung, ungeachtet des genauen Infektionszustands aller Betroffenen. Die Zeit, die mit dieser ersten Stufe gekauft wird, muss rigoros für die Entwicklung der Teststrategie für die zweite Stufe verknüpft werden. Aus ökonomischer Sicht gilt es, während dieser Zeit Haushal- ten und Unternehmen akute Unterstützungsleistungen zu gewähren und die Basis dafür zu schaffen, dass beim Einstieg in die zweite Stufe die Voraussetzungen für einen Neustart der wirtschaftlichen Aktivitäten vorhanden sind. 8
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH Die Bereitstellung umfangreicher finanzieller Mittel für den Finanzsektor kann dabei nur ein Teil der wirtschaftspolitischen Weichenstellungen sein. Denn verschiedene Faktoren machen die aktuelle Krise (auch bei vergleichbaren Schrumpfungsraten) gravierender als die Wirtschaftskrise 2009. Die damalige Krise ging vom Finanzsektor aus und traf insbesondere die Industrie. Die COVID-19-Krise greift breiter in das Wirtschaftsleben ein, trifft ebenso Dienstleister und wird damit stärker auf den Arbeitsmarkt wirken. Gleichzeitig konnten die Stabilisierungsmaßnahmen 2009 auf den Finanzsektor als systemrelevantes Schlüsselelement konzentriert werden. Eine solche „Quarantäne“ eines Sektors ist bei COVID-19 unmöglich. Selbst bei vergleichbaren Schrumpfungsraten wird die COVID-19 -Krise breiter, tiefgreifender und länger sein als die Finanzkrise. Szenarien wirtschaftlicher Entwicklungen Diese Schlussfolgerung lässt sich bereits anhand grober Überschlagsrechnungen illustrieren, die viel- fältige Anpassungsprozesse und Komplikationen außer Acht lassen. Die hier vorgelegten Abschätzun- gen beruhen auf VGR-basierten Bottom-up-Schätzungen zur Bedeutung der Krise für die unterschied- lichen Wirtschaftsbereiche. Es wird hier bewusst keine makroökonomische Modellierung angestrebt, da deren Funktionalität angesichts der erheblichen und vor allem dynamischen Veränderungen zahl- reicher Variablen für die gegenwärtige Situation zweifelhaft ist. Die ermittelten Werte für die Ent- wicklung von BIP und Wertschöpfung der Industrie basieren auf zahlreichen Setzungen und Annah- men. Jede für sich ist angreifbar, aber sie dienen zur Ermittlung eines ersten Gesamtbildes in ver- schiedenen Szenarien. Die Setzungen sind eher konservativ, bilden also eher die obere Mitte der möglichen Entwicklungen ab und sind keine Worst-Case-Szenarien. Entscheidend ist: Die Szenarien unterscheiden sich nicht oder nur mittelbar nach der Ausbreitung der Virusinfektion in Deutschland, sondern nach den politisch durchgesetzten und medizinisch notwendi- gen Reaktionen darauf. Die Dauer der Unterbrechung normaler Arbeitsteilung und Marktprozesse (hier national) ist dafür die maßgebliche Einflussgröße. Szenario 1: „Schnelle Kontrolle“ Das erste Szenario geht davon aus, dass die Ausbreitung der Epidemie nach einer ersten Periode der Ausgangsbeschränkungen gebremst werden kann und die Fallzahlen innerhalb von sechs Wochen deutlich heruntergehen. Dies entspricht einem Zeitraum bis zum Ende der Osterferien und gleicht damit weitgehend dem gegenwärtigen Status-Quo, ggf. ergänzt um die Durchsetzung von Versamm- lungsverboten. Eine weitere Einschränkung durch Ausgangsbeschränkungen ist hier nicht unterstellt. Mit Blick auf die wirtschaftlichen Konsequenzen aber auch die sozialen Ungleichheitsfolgen eines län- ger anhaltenden Homeschooling erscheint dringend geboten, nach den Osterferien die Kindergärten und Schulen wieder in den Normalbetrieb zu überführen. Im weiteren Verlauf wird die Infektion durch intensives Testen, Nachverfolgung und Isolation, ggf. Verbot von Großveranstaltungen oder punktuellen Eingriffen kontrolliert. Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben kehrt weitgehend zurück zur Normalität. Dieses Szenario entspricht den positiven Erfahrungen aus Ostasien. Nach der Phase der Ausgangsbeschränkungen von 1,5 Monaten wird für wesentliche Industriebran- chen mit einem weiteren Monat massiver Störungen durch geschlossene Grenzen und damit verbun- den unterbrochene Lieferketten ausgegangen. Damit wird unterstellt, dass die Pandemie zumindest in Europa ein vergleichbares Zeitprofil aufweist; besondere Unsicherheiten begründet die Entwick- lung in USA, dorthin sind aber die Vorleistungsabhängigkeiten geringer. Auf die Phasen des Einbruchs folgen zwei Monate mit verminderten Störungen, in denen die wirt- schaftliche Tätigkeit schrittweise wieder zur Normalität übergeht. Für weitere drei Monate werden 9
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH Nachholeffekte berücksichtigt, die in jedem dieser Monate ein Drittel der in einem Krisenmonat ver- lorenen Wirtschaftsleitung ausgleichen. Dieses Szenario kommt zu einem Einbruch des BIP um 4 Prozent gegenüber dem Referenzszenario und ist als wirtschaftlicher Best-Case anzusehen. Für die Industrie bedeutet dies ein Minus von 9 Pro- zent. Zum Vergleich: In der Weltwirtschaftskrise 2009 ist das BIP um 6 Prozent gefallen, die Wert- schöpfung der Industrie um 19 Prozent. Auf den Staatshaushalt kämen Mehrausgaben und Minder- einnahmen in einer Größenordnung von 80 Mrd. Euro zu. Die hier unterstellten Entwicklungen füh- ren also zu einem etwas schwächeren Rückgang des BIP als 2009, der Dienstleistungssektor wäre hin- gegen stärker betroffen. Die darin enthaltenen Abwärtsrisiken machen aber plausibel, von einer im Großen und Ganzen mit der Weltwirtschaftskrise vergleichbaren Abwärtsdynamik auszugehen. Szenario 2: „Rückkehr der Krise“ Das zweite Szenario unterstellt, dass es mit Ausgangsbeschränkungen von zwei Monaten gelingt, die Verbreitung der Infektion massiv einzudämmen. Anschließend ist ein weitgehend normales Wirt- schaftsleben möglich. Allerdings kommt es in der zweiten Jahreshälfte zu einer Wiederkehr der Epi- demie in nicht weniger dramatischen Dimensionen. Auch für das folgende Jahr ist mit solch einer Ent- wicklung zu rechnen. Die wirtschaftliche Aktivität würde in den Monaten der Ausgangsbeschränkungen erheblich reduziert sein, sich in den beiden Folgemonaten schrittweise wieder auf Normalmaß zurückbewegen. Auf- grund des erwarteten erneuten Ausbruchs der Krankheit kommt es nicht zu Nachholeffekten. Im Herbst werden ebenfalls zwei Monate mit Ausgangsbeschränkungen und zwei der Erholung unter- stellt. Für die Gesamtwirtschaft bedeutet dieses Szenario einen Rückgang von 11 Prozent, für die Industrie ein Minus von 19 Prozent. In der Industrie ähnelt dies damit der Krise von 2009, im Service-Sektor ist der Rückgang erheblich ausgeprägter. Allerdings ist dieses Szenario deshalb deutlich kritischer als die Krise von 2009, weil hier auch für das nächste Jahr mit einer doppelten Infektionswelle zu rechnen wäre. Die Krise würde also doppelt so lange dauern, was nicht vergleichbar mit 2009 und dem folgen- den Aufschwungsjahr 2010 wäre. Szenario 3: „langes Leiden “ Das dritte Szenario geht davon aus, dass ein schnelles Eindämmen der Epidemie nicht gelingt. Aus- gangsbeschränkungen von vier Monaten sind notwendig, also bis zu den Sommerferien Mitte Juli. Anschließend werden keine nennenswerten Einschränkungen für das wirtschaftliche Leben vorge- nommen. Entsprechend wird eine deutlich gedämpfte wirtschaftliche Aktivität für vier Monate und eine Rückkehr zur Normalität in weiteren zwei Monaten unterstellt. In drei weiteren Monaten gibt es Nachholeffekte, aber aufgrund der Krisenerfahrung und der hohen Unsicherheit nur in geringerem Ausmaß. Für die Gesamtwirtschaft ist hier ein Rückgang von 9 Prozent zu erwarten, für die Industrie von 15 Prozent. Dabei dürfte dies eher eine optimistische Annahme sein. Nicht berücksichtigt sind hier mög- liche sich selbst verstärkende Effekte, die mit der langen Zeit der Krise auftreten. Wenn eine syste- matische Abwärtsspirale entsteht, nicht nur ein Einbruch auf ein dann vier Monate stabiles niedrige- res Niveau, sind hier tiefere Einschnitte zu befürchten, dies gilt auch bei einer weiteren Verlänge- rung. 10
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