„Berliner Erpressung“Die Visa-Strategie des Auswärtigen Amts

Familiennachzug? Nur, wenn die Klage zurückgezogen wird. Ein großer Teil der Klagen in Bezug auf Familienzusammenführung führen zu keinem Urteil, sondern enden im „Berliner Vergleich“. Das Auswärtige Amt profitiert davon, dass Betroffene ihr Recht nicht von Verwaltungsgerichten feststellen lassen, zeigt eine interne Statistik der Behörde.

Vier Jahre lang lebte Tesfay Haile, der eigentlich anders heißt, bereits getrennt von seiner Familie. Er in Deutschland, seine Frau und die vier Kinder in Äthiopien. 2016 floh Haile alleine aus Eritrea über das Mittelmeer nach Europa. Nachdem sein Asylantrag in Deutschland genehmigt wurde, steht es ihm zu, seine Familie nachzuholen. Doch die deutsche Botschaft weist seinen Antrag auf eine Familienzusammenführung ab. Sie glaubt ihm nicht, dass er tatsächlich verheiratet ist. Haile klagt, kann während des Verfahrens die Ehe beweisen und darf seine Familie nach Deutschland holen. Das Auswärtige Amt stellt für die Bewilligung der Zusammenführung jedoch eine Bedingung: Er müsse die Klage zurückziehen und die Verfahrenskosten tragen.

„Berliner Vergleich“ oder „Berliner Erpressung“ wird diese Taktik des Auswärtigen Amtes unter Rechtsanwält:innen genannt. Weil Kläger in tausenden eigentlich erfolgsversprechenden Fällen ihre Klagen im Tausch für ein schnelleres Verfahren zurückziehen, vermeidet die Behörde, dass Urteile gesprochen und somit eine klare rechtliche Grundlage für ähnliche Fälle geschaffen wird. Das führt dazu, dass Menschen nicht nur lange auf eine Entscheidung warten – sie tragen auch die Rechtskosten für einen Streit, den sie eigentlich gewinnen würden. Das Auswärtige Amt kommt ohne Kosten davon.

Kläger müssen trotz Erfolg zahlen

Gemeinsam mit dem ARD-Politikmagazin Kontraste und Ippen Investigativ haben wir die interne Statistik des Auswärtigen Amtes zu den Gerichtsverfahren zum Familiennachzug von März 2007 bis September 2021 ausgewertet. In diesem Zeitraum wurden 20.246 Verfahren gegen das Auswärtige Amt geführt. Bei 6.174 wurde am Ende ein Visum ausgestellt. In 95 Prozent dieser Fälle aber nur nach einem Vergleich oder einer ähnlichen Einigung, die einen Rückzug einer Klage sowie die Übernahme der Kosten beinhaltet. Wir veröffentlichen die Statistik an dieser Stelle.

Trotz Visumserteilung zahlen meist die Klagenden

Die folgende Grafik zeigt die Verläufe der Visastreitverfahren zu Familiennachzügen. Obwohl viele Visa erteilt werden, sind Klagen selten erfolgreich. Stattdessen drängt das Auswärtige Amt auf Vergleiche und Klagerücknahmen mit der Aussicht, dann ein Visum auszustellen. Das bewirkt einerseits, dass es nur wenige erfolgreiche Klagen gibt, und andererseits, dass meist die Klagenden die Kosten der Verfahren tragen müssen.

Die „Berliner Erpressung“Visum erteilt → Kläger trägt Kosten: ~90% der FälleVisum nicht erteilt → Kläger trägt Kosten: ~95% der FälleStreitverfahren → Einigung: rund ein Drittel der FälleEinigung → Visum erteiltStreitverfahren → Klage zurückgenommen: rund ein Drittel der FälleStreitverfahren → Klage abgewiesen: ~25% der FälleKlage abgewiesen → Visum nicht erteiltKlage zurückgenommen → Visum erteilt: ~60% - 80% der FälleKlage zurückgenommen → Visum nicht erteilt: ~20% - 40% der FälleStreitverfahren → anderer Ausgang: weniger als 10% der Fälleanderer Ausgang → Visum nicht erteiltVisum erteilt → Staat trägt Kosten: ~7% der FälleStreitverfahren → Klage erfolgreich: ~2% der FälleKlage erfolgreich → Visum erteiltVisum erteilt → Kosten werden geteilt: ~3% der FälleVisum nicht erteilt → Staat trägt Kosten: weniger als 3% der FälleVisum nicht erteilt → Kosten werden geteilt: ~1% der FälleKlage abgewiesenKlage abgewiesenanderer Ausganganderer AusgangKlage zurückgenommenKlage zurückgenommenEinigungEinigungKlage erfolgreichVisum erteiltVisum erteiltVisum nicht erteiltVisum nicht erteiltKläger:in trägt KostenStaat trägt KostenStreitverfahrenVisastreitverfahren zu FamiliennachzügenKläger:in trägt KostenStaat trägt KostenKosten werden geteiltKosten werden geteiltKlage erfolgreichNach Klagerücknahme häufigdennoch Visumserteilung

Datenquelle: Visastreitverfahren des Auswärtigen Amts

Der von uns ausgewertete Datensatz der Visastreitverfahren lässt offen, ob trotz Klagerücknahme dennoch eine Visumserteilung erfolgt. Nach Angaben eines Mitarbeiters des zuständigen Referats sei dies „in 60% bis 80% der Fälle“ so. Damit ist nicht nur der Vergleich, sondern auch die Klagerücknahme Teil des Systems der „Berliner Erpressung“.

Meist werden die Anträge auf Familiennachzug anfangs von den Botschaften abgelehnt, da Dokumente fehlen. Bei Haile war es eine Heiratsurkunde, die vom eritreischen Staat ausgestellt wurde. Eine solche wird bei traditionellen Feiern jedoch nicht verfasst. Das Auswärtige Amt besteht darauf, dass eine staatliche Beglaubigung nachgereicht wird – nicht einfach in einem Staat wie Eritrea, wo den Menschen Repression droht. Ein Gericht in Den Haag hat aber beispielsweise entschieden, dass die traditionellen Heiratsurkunden ebenso anerkannt werden müssen.

Jahrelanges Warten

Die Verfahren dauern in der Regel etwa 300 bis 400 Tage. Diesem rund einjährigen Prozess gehen viele weitere Jahre voraus, in denen die Familien getrennt voneinander leben und auf ein Wiedersehen an einem unbestimmten Zeitpunkt warten. Im Fall von Haile, sagt sein Rechtsanwalt, wären die Voraussetzungen für den Nachzug seiner Frau und seiner Kinder bereits 2017 gegeben gewesen. Die Familie ist mittlerweile vereint – nach über drei Jahren.

Welche Nationalitäten von den „Berliner Vergleichen“ primär betroffen sind, lässt sich aus der Statistik nicht erkennen, da nur die Botschaften gelistet werden, in denen der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wurde. Die meisten Anträge wurden danach in der Türkei gestellt – was meist ein Transitland für Flüchtende aus arabischen Staaten und dem afrikanischen Kontinent ist.

Auf Anfrage erklärt das Auswärtige Amt, die Klagen machten nur einen Bruchteil aller Visa-Verfahren aus. Es würden etwa 100.000 Visa pro Jahr für Familienangehörige im Ausland erteilt und nur in „wenigen Fällen“ käme es zu einer Klage. Es sei in der Verantwortung  der Antragstellenden, dass alle Unterlagen vollständig vorgelegt werden.

Update, 12.12.2022: Wie die aktualisierten Daten aus dem Auswärtigen Amt zeigen, die wir veröffentlichen, hat sich die Praxis weiterhin nicht geändert. Eine signifikante Veränderung der Verfahrensausgänge ist nicht zu beobachten. Nach wie vor enden die meisten Verfahren in Vergleichen.

Bericht bei tagesschau.de, Beitrag bei ARD Kontraste

Bericht bei buzzfeed.de

CSV-Rohdaten, gesäuberte Daten und Daten-Notebook

Erläuterungen zur Statistik

Korrektur, 21.01.2022: Nicht wie ursprünglich angegeben der Internationale Gerichtshof, sondern ein normales Gericht in Den Haag hat entschieden, dass traditionelle Heiratsurkunden anerkannt werden müssen.

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