Umgang mit psychischen KrisenTödliche Polizeieinsätze

Jedes Jahr erschießen Polizist*innen Menschen, die in einer psychischen Ausnahmesituation sind. Wir zeigen, wie wenig die Polizei auf solche Situationen vorbereitet ist – und veröffentlichen ein seit Jahren umstrittenes Geheimdokument der Polizei NRW.

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Es sind fünf Schüsse aus der Maschinenpistole eines Polizisten, die Mouhamed Lamine Dramé töten. Der 16-jährige Geflüchtete stirbt am Nachmittag des 8. August 2022 im Hof einer Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund. Ein Betreuer hatte ihn mit einem Messer in der Hand im Hof kauernd entdeckt und die Polizei gerufen. Bereits am Vortag hatte der Jugendliche Suizidgedanken geäußert. Mouhamed Dramé wurde von den Menschen getötet, die ihn davon abhalten sollten, sich umzubringen.

Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen Menschen von Polizist*innen erschossen werden, während sie in einer psychischen Ausnahmesituation sind. Sie drohen etwa, sich umzubringen oder leiden an einer Psychose. Allein aus den letzten drei Jahren gibt es Berichte über mehr als ein Dutzend solcher Fälle.

In einer Kooperation mit ZDF Die Spur sind wir der Frage nachgegangen: Wie gut sind Polizist*innen auf solche Situationen vorbereitet? Um das herauszufinden, haben wir 38 Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) an Innenministerien, Landespolizeien und Polizeischulen gestellt. Wir haben Schulungsunterlagen, Handlungsanweisungen und interne Vorgaben der Polizei angefordert.

Außerdem wollten wir ein genaues Bild davon bekommen, wie groß das Problem im Umgang der Polizei mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen ist. Weil es zwar etliche Berichte über solche Fälle, aber keine offizielle Statistik dazu gibt, haben wir alle Bundesländer um genaue Zahlen gebeten und versucht herauszufinden, welche Daten zu dieser Frage erhoben werden.

Erstmals können wir nun auch ein Geheimpapier der Polizei Nordrhein-Westfalen zugänglich machen. Das zuständige Innenministerium hat es mehr als fünf Jahre unter Verschluss gehalten und erst nach einer Klage von uns herausgegeben. Die Polizei NRW müsse „robuster” und „durchsetzungsfähiger” werden, steht in dem Dokument. Expert*innen sehen einen Zusammenhang zwischen solchen Forderungen und einer Entwicklung hin zu Polizeieinsätzen, die nicht mehr auf Deeskalation und Kommunikation ausgerichtet sind.

„Es gibt keine Kommunikationsstrategien”

Wie man mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen umgeht, dafür gibt es psychologische Konzepte. Aber schafft es dieses Wissen in die Ausbildung der Polizei? Um das herauszufinden, haben wir IFG-Anfragen an zahlreiche Behörden gestellt. Das Ergebnis ist ernüchternd: Viele Anträge wurden einfach abgelehnt und bei insgesamt 17 Anfragen warten wir nach mehr als zwei Monaten noch immer auf eine Antwort. Manche Behörden verwiesen schlicht darauf, dass sie zu diesem Thema keinerlei Unterlagen hätten. Die Hamburger Polizei teilte uns etwa mit, weder zum Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen, noch zu Einsätzen mit suizidgefährdeten Menschen lägen dort Schulungsunterlagen, Richtlinien oder Handlungsanweisungen vor.

Zur konkreten Einsatzpraxis, insbesondere mit Bedrohungssituationen, findet sich in den wenigen Unterlagen, die wir aus einzelnen Bundesländern erhalten haben, fast nichts. Auch Nordrhein-Westfalen, wo Mouhamed Dramé erschossen wurde, gab nur wenig Einblick in die polizeiliche Ausbildung. Die dortige Polizeihochschule schickte eine Liste von potentiell verwendeten Lehrtexten mit Titeln wie „Psychische Störungen – Erkennen, Verstehen, Intervenieren“ oder „Die Gefährlichkeit von Begegnungen der Polizei mit psychisch auffälligen Personen im Einsatz“. Darüber hinaus gebe es für den praktischen Ausbildungsteil auch „Konzepte zum insbesondere kommunikativen Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen“. Diese müssten als „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ jedoch geheim bleiben.

Kein Thema seit 30 Jahren

Dass es jedoch in diesem Bereich massiv an Wissen fehle, schildert ein leitender Beamter der Polizei NRW. Zu seinem Schutz bleibt er anonym. „In den letzten dreißig Jahren fand der Umgang mit Personen in psychischen Ausnahmesituationen in der polizeilichen Aus- und Fortbildung quasi überhaupt nicht statt“, sagt er. Zwar seien vereinzelt psychologische Grundlagenkenntnisse Thema, allerdings nur für den gehobenen Dienst. Zudem kritisiert der Polizist: „Vor allem gibt es dazu keine abgestimmten Handlungsempfehlungen oder Kommunikationsstrategien.“

Einen Mangel an konkreten Handlungsanweisungen zum Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen legen auch die spärlichen Ergebnisse unserer Anfragen nahe. Besonders deutlich formuliert dies das Innenministerium Sachsen-Anhalt. Für die Bearbeitung von Sachverhalten mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen seien grundsätzlich die Rettungsdienste und sozialen Notfalldienste zuständig. „Darüberhinausgehende gesonderte polizeiliche Einsatzkonzepte, Erlasse etc. für diese Anlässe bestehen nicht“, lautet die Antwort auf unseren Antrag.

Offizielle Zahlen fehlen

Seit Jahren gibt es Berichte darüber, dass Menschen in einer psychischen Ausnahmesituation von Polizist*innen erschossen werden. Doch eine offizielle Zahl dazu, wie häufig dies vorkommt, findet sich nicht. Deshalb haben wir alle 16 Innenministerien der Länder um Daten zu dieser Frage gebeten. 

Die ernüchternde Erkenntnis lautet: Die Behörden wissen schlicht nicht, wie groß dieses Problem ist.

Nur drei Bundesländer konnten zumindest einige Zahlen liefern: in Rheinland-Pfalz, Bayern und Bremen waren mehr als ein Drittel der Menschen, die in den letzten zehn Jahren von Polizist*innen erschossen wurden in einer psychischen Ausnahmesituation oder psychisch erkrankt.

Die meisten Länder teilten uns jedoch mit, dass sie dazu keine Zahlen hätten. Eine gesonderte statistische Erfassung liege nicht vor (NRW), es bestehe keine technische Möglichkeit die polizeilichen Systeme entsprechend auszuwerten (Niedersachsen), oder es fehle an validen Daten (Hessen), lauteten die Begründungen. Das Innenministerium Thüringen erklärte, man könne die Frage allein deshalb schon nicht beantworten, weil auch Magersucht und Schlafstörungen unter psychische Erkrankungen fielen.

Klar ist: Es könnte valide Zahlen zu dieser Frage geben. Zumindest einzelne Länder erheben diese ja. Die Süddeutsche Zeitung kam 2022 in einer aufwändigen Recherche zu dem Ergebnis, dass seit 2010 insgesamt 133 Menschen von der Polizei erschossen wurden. Mehr als die Hälfte davon habe sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden.

Geheimpapier: „Die Polizei muss an Robustheit zulegen“

Der Polizeieinsatz, der im Tod des 16-jährigen Mouhamed Dramé endet, wirft auch grundsätzliche Fragen zur Ausrichtung und Entwicklung der Polizei auf. Insgesamt zwölf Polizist*innen rücken an, angesichts der Meldung eines suizidgefährdeten Jugendlichen, der mit einem Messer allein in einem Hof sitzt. Zwei Beamte führen Taser mit sich, eine Kollegin Pfefferspray. Ein Polizist postiert sich als Sicherungsschütze mit einer Maschinenpistole.

In den letzten Jahren hat die Polizei in Deutschland massiv aufgerüstet. Seit 2018 führen Streifenwagen Maschinenpistolen mit sich, aufgrund der „gegenwärtigen abstrakten Terrorgefahr in Deutschland.” Seit 2021 testet die Polizei in Nordrhein-Westfalen den Einsatz von Tasern.

Begleitet wird diese Entwicklung von einer Diskussion über ein robusteres Auftreten und eine mentale Aufrüstung der Polizei. Seit mehreren Jahren gibt es Berichte über ein Geheimpapier der Polizei NRW, das diesen Prozess zeigen soll.

Wir können dieses Geheimdokument hier nun erstmals allen Menschen zugänglich machen. Seit fünf Jahren wollen Menschen an dieses Papier kommen und fragen es immer wieder bei den Behörden an. Nach einer gemeinsamen Klage mit FragDenStaat-Nutzer Janik Besendorf hat das Innenministerium NRW das Dokument nun herausgegeben.

Es ist ein 26-seitiges Expertenpapier von 2017 aus dem Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW. Darin wird etwa empfohlen, die Polizei müsse „gewaltfähiger” werden. Handlungsleitende These, also die zentrale Idee, für die Zukunft der Polizei laut diesem Papier: „Die Polizei NRW muss an Konsequenz, Stabilität, Führungsstärke und Robustheit deutlich zulegen!” Der Grund für diese neue Härte: Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber Polizeibeamt*innen hätten zugenommen, darauf müsse man reagieren. Das zuständige Innenministerium teilt uns mit, dass noch geprüft werde, welche Inhalte aus dem Papier umgesetzt werden. 

Durchsetzung statt Kommunikation

Die Leitlinie „Kommunikation, so lange wie möglich“ sei in der Polizei mehr oder weniger unausgesprochen durch „Einschreiten, so konsequent wie möglich“ ersetzt worden, schreibt Dirk Heidemann in einem Aufsatz anlässlich des Tods von Dramé. Heidemann leitete bis 2022 den Bereich Polizeiliche Führungslehre an der Deutschen Hochschule der Polizei. In seinem Text verweist er auch auf das Geheimpapier über robusteres Auftreten und sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Überlegungen und dem tatsächlichen Verhalten von Polizeibeamt*innen im Einsatz: „Ein solcher Rahmen verändert die Annahmen, die einzelne Polizeibeamt/innen auf dem Weg in den Einsatz bilden und die für sie handlungsleitend werden.“ Die Folge: Durchsetzung statt Kommunikation und Verständigung.

Gerade einmal zwei Minuten Zeit nehmen sich die Polizeibeamt*innen, um Mouhamed Dramé anzusprechen, bevor sie gewaltsam gegen den bis dahin regungslosen Jugendlichen vorgehen. Wenige Sekunden später ist Dramé tot.

Eine ausführliche Rekonstruktion des Polizeieinsatzes, an dessen Ende der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé durch Polizisten erschossen wurde sowie weitere Ergebnisse aus unseren Recherchen zum Umgang der Polizei mit Menschen in psychischen Ausnahmesituation zeigt der ZDF Die Spur-Film „Tödlicher Polizeieinsatz – Warum musste Mouhamed sterben?“.

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Zu den Anfragen und Dokumenten

Zu Anfragen und Dokumenten aus Polizei(hoch)schulen

Zur Klage und zum Strategiepapier der Polizei NRW

Zum Film von ZDF Die Spur

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          Respektlosigkeit und Gewalt gegen PVB
     Polizei NRW - ProfessioneUe Einsatzbewälti-
                                     gung/LAFP NRW




Polizei NRW - Professionelle Einsatzbewältigung/LAFP NRW
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. Polizei NRW - Professionelle Einsatzbewältigung/LAFP NRW                                                                                   2




 Inhaltsverzeichnis

 1 Zusammenfassung ......................................................................................................... 4

 2 Ausgangssituation ..........................................................................................................5

 3 Maßnahmen ...................................................................................................................10

 4 Umsetzung .................................................................................................................... 11

    4.1 Personal ............................................................................... ..... .. .... ....... .......... ....... . 11

    4.2 Polizeiliches Erscheinungsbild .......................... ......................................................... 12

    4.3 Ausbildung ............................................................ ., ........... ...................... .. .... ...... .... 14

    4.4 Zentrale Fortbildung .......................................... ........ .............................................' .. 15

    4.4.1 Führungskräfte ............................................................... .. ......... ..... .... ....... ............. 15

    4.4.1.1 Laufbahngruppe 2.1 ........................................................................................... 15

    4.4.1.2 Laufbahngruppe 2.2 .......................................... .... ........ ........................ ...... ....... 15

    4.4.2 Operative Kräfte, insbesondere Wachdienst.. ............................ .... ................... .... 15

    4.4.2.1 Einsatztrainerinnen und Einsatztrainer (ET) .. ... : ...................... .. ...... .............. ..... 16

    4.4.2.2 Polizeisport ................................................. ....................................................... 18

    4.4.2.3 Stressbewältigungskompetenz .......................... , ......... ...................................... 18

    4.4.3 Ermittlungsdienststellen .................................................. ........................... ........... 19

    4.4.4 Spezialeinheiten ................................................................................................ .... 19

    4.4.5 Bereitschaftspolizei .................................._........................... .... .. ......... ·······.- · .......... 19

    4.5.1 Erweiterung des ET NRW/Strukturänderung Dienstsport ................... .............. .... 20

    4.5.2 Didaktische Aspekte .......................................................................................... .... 21

    4.5.3 Führungskräfte ................... ·............................................................................... .... 21

    4. 7 Ethische Aspekte ....................................................... :......... ........ ......... ... ........ ... ..... 22

 5 Begleitende Maßnahmen ..............................................................................................22

    5.1 Supervisionsangebote ............................................................................................... 22

    5.2 Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) ........ .-.............................................. 22
2

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   5.3 Sicherheitsprogramme der KPB ................................................................... ... ......... 23

   5.4 Beschwerdebearbeitung ..................... .-....... .... ..... ........ ............. ............ ................. .. 23

   5.5 Beamtenrechtliche Anpassungen .................... .......... ...... ...................... ... ........ ..: .... 23

   5.6 Versorgungsrechtliche Anpassungen .... .......... .................... ....... ................ .... ......... 24

   5.7 Institutionalisierter Austausch ....... ...... ........................... ...... ... ............. ............. ... .... 24

   5.8 Begleitende Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ............. ................................... .. ....... 24

6 Ausblick.-.........................................._.............................................................................. 25
3

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    1 Zusammenfassung
    Der Schlussbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV (PUA IV - 16.
    Legislaturperiode) 1 beinhaltet u.a. die Frage

            ,, .. ./.. .ob die Polizei, die ja selbst befugt ist, ihre Handlungen notfalls mit Gewalt
           durchzusetzen und dadurch regelmäßig konfliktreichen Situationen ausgesetzt ist,
           nicht auch aus einem professionellen Rollenverständnis heraus souverän mit „robus-
           ten" Reaktionen des polizeilichen Gegenübers umgehen muss?"

    Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte (PVB) ist immer zugleich ein Angriff
auf den Staat- im Besonderen auf sein Gewaltmonopol. Das Gewaltmonopol ist die unver-
zichtbare Grundlage zur Gewährleistung der Inneren Sicherheit und damit die Basis für ein
friedliches Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger in einem demokratischen Rechts-
staat.

Die aktuellen Erfahrungen mit steigender Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber der Poli-
zei erfordern daher u.a., dass die Polizei NRW und ihre Polizeibeamtinnen und Polizeibe-
amten die Kompetenz zur „Professionellen Einsatzbewältigung" weiterentwickeln.

Die „Leitlinie für den bürgernahen Einsatz der Polizei - nordrhein-westfälische Linie (NRW-
Unie)" beinhaltet schon immer das konsequente Einschreiten bei Gewalttätigkeiten und die
Verfolgung von Straftaten.

Es gilt, diese in der „NRW-Linie" verankerten Grundsätze polizeilicher Arbeit konsequent
fortzuentwickeln.

Entscheidend ist hierbei, die international und national anerkannte hervorragende Arbeit der
Polizei NRW als „Bürgernahe Polizei" uneingeschränkt zu erhalten, aber die Elemente der ·
,,Professionellen Einsatzbewältigung" zu präzisieren und anzupassen.

Diese Elemente sind insbesondere:

      •    Konsequentes Einschreiten und Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen unter strik-
          ter Beachtung des Verfass!,-Jngsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit
      •   Qualifizierte Einleitung und Durchführung von Strafverfahren, einschließlich Opfer-
          schutz
      •   Verantwortungsvolle Führung
      •   Mentale Stabilität und Resilienz



1
    Landtagsdrucksache 16/14450; S. 694
4

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       •   Körperliche Robustheit, Präsenz und Durchsetzungsfähigkeit2

Erforderlich sind Maßnahmen insbesondere in folgenden Bereichen:

       •   Personal
       •   Ausbildung
                                      .
       •   Zentrale Fortbildung (Führungskräfte, op'erative Kräfte, insbesondere Wachdienst,
           Einsatztrainerinnen und ~insatztrainer sowie kriminalpolizeiliche Sachbearbeit~ng)
       •   Beweissicherung und Verfahrensführung bei Straftaten
       •   Stressbewältigungskompetenz
       •   Örtliche Fortbildung (Einsatztraining NRW - Erweiterung/Strukturveränderung
           Dienstsport)
       •   Ethische Bildung
       •   Polizeisport
       •   Behördliches Gesundheitsmanagement
       •   Supervision
       •   Sicherheitsprogramme der KPB
      •    BeamtenrechWersorgungsrecht

Zu einer umfassenden Umsetzung und Vermittlung der Maßnahmen bedarf es eines breiten
gesellschaftlichen und politischen Konsenses, eines von der politischen und polizeilichen
Führung und den Mitarbeitern getragenen Leitbildes und eines umfassenden Kommunikati-
onskonzeptes nach Innen und Außen.




2 Ausgangssituation
Seit Mitte der 2000er Jahre rückt das Phänomen „Gewalt gegen PVB", verbunden mit einer
zunehmenden Respektlosigkeit gegenüber PVB, verstärkt jn den Fokus der Polizei in den
Ländern und dern Bund. Vielfältige Einsatzanlässe - in Teilen mit gravierenden (auch ge-
sundheitlichen) Folgen bei den beteiligten PVB - führten unter anderem zu einer intensiven
öffentlichen und politischen Debatte über mögliche Ursachen und Konsequenzen, zu einer
wissenschaftlichen Befassung mit dem Thema und zu umfangreichen Maßnahmenpaketen,
insbesondere in den Bereichen Gesetzgebung, Ausrüstung, Aus- und Fortbildung sowie
Führung der Polizei.




2   OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss v, 29,09,2017, Az. 1 M 92/17
5

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    Hinzu kommt eine völlig veränderte Medienlandschaft und die zunehmende „Berichterstat-
    tung" in Sozialen Medien, in der Regel „unterstützt" durch Handyvideografien, die sofort -
    regelmäßig ohne jegliche weitere Überprüfung und ausschnitthaft veröffentlicht und ganz
    überwiegend Grundlage einer negativen Bewertung der Polizeiarbeit werden.

    Die Polizei NRW hat mit einer 2008 beauftragten Projektgruppe ein klares Ziel vorgegeben,
    dem oben genannten Phänomen entgegenzutreten und Strateg_ien anzupassen.

    Ziel ist hierbei durchgängig, PVB bestmöglich zu schützen und durch fortlaufende Anpas-
    sung und Modernisierung der Ausstattung die Sicherheit im Einsatz zu verbessern und die
    Beamten auf die aktuellen Entwicklungen umfassend vorzubereiten.

Videosicherungssystem der Funkstreifenwagen, neue Dienstwaffe und Munition, Einfüh-
rung EMS-A, Sicherheitsholster für die Schusswaffe, persönliche ballistische Schutzweste,
neue Überziehschutzweste, Pfefferspray RSG 3 und RSG 8, Body-Cam, ballistischer
Schutzhelm für Wachdienst und Bereitschaftspolizei haben zu einer deutlich verbesserten
Ausstattung geführt.

           ,,Dieser Prozess muss fortgeführt werden, damit die Ausstattung mit den ständig wan-
           delnden Anforderungen Schritt hält. "3

Einen vollständigen Schutz wird es gleichwohl nicht geben; es muss aber weiterhin alles
getan werden was sinnvoll und erforderlich ist, urri die jeweils bestmögliche Ausstattung zu
gewährleisten.

Die Einführung dieser neuen Führungs- und Einsatzmittel wurde im Rahmen abgestimmter
Aus- und Fortbildung teilweise als Landesthema im überarbeiteten Einsatztraining NRW be-
gleitet.

Darüber hinaus wurde bei der Universität Kiel die NRW-Studie „Gewalt gegen PVB" .in Auf-
trag gegeben. Im Rahmen dieser 2013 vorgelegten Studie wurde das Phänomen umfassend
beleuchtet und 25 Handlung~empfehlungen entwickelt. Diese Handlungsempfehlungen sind
als Leitlinie für das Vorgehen der Polizei NRW grundsätzlich verbindlich.

Das LAFP NRW hat die Empfehlungen für die Ausbildung und die Fortbildung aufgenom-
men und neben Inhalten auch Abläufe fortentwickelt, um die Handlungskompetenz der Stu-
dierenden und der Fortbildungsteilnehmer zu verbessern und persönliche Fähigkeiten, wie
z. B. Stressverarbeitungskompetenz, zu optimieren.




3   Staatssekretär im Ministerium des Innern NRW Jürgen Mathies am 07.07.2017 (lntrapol NRW)
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    Die Notwendigkeit, weitergehende ÜberlE:gungen anzustellen, zeigte sich unter anderem
    durch die Konzentration von Ereignissen im November 2016.

    Die Attacke von 30 vermummten Personen auf ein Fußballspiel in Jülich vom 06.11.2016,
    die Eskalation des Einsatzes eines Mitarbeiters des Ordnungsamtes der Stadt Düren am
    12.11.2016, bei dem zehn PVB teils schwer verletzt wurden sowie Ereignisse in der Dort-
    munder Nordstadt und im Duisburger Norden, wo sich anlässlich von alltäglichen Einsatz-
    anlässen eine große Zahl von Personen zusammenrotteten und versuchten, PVB einzu-
    schüchtern, zu bedrohen, um polizeiliche Maßnahmen zu unterbinden, lösten die bereits im
Sommer 2016 begonnene Diskussion zum Thema „No-Go-Areas" und einer ausgeprägten
Respektlosigkeit und Gewaltbereitschaft gegenüber der Polizei erneut aus.

Binnen kurzer Zeit lösten diese und andere polizeiliche Einsätze; zuletzt im Zusammenhang
mit verschiedenen Sylvesterereignissen 2017/2018, ein sehr starkes_mediales Interesse
und eine Vielzahl politischer Diskussionen aus. In dieser Berichterstattung wurde teilweise
das unzutreffende Bild einer dem Einsatzanlass nicht mehr in vollem Umfang gewachsenen
- teilweise sogar unterlegenen - Polizei NRW gezeichnet

Angriffe und Respektlosigkeiten sind jedoch nur bei vordergründiger Betrachtung individu-
elle Angriffe auf die Beamtinnen und Beamten.

Sie sind tatsächlich ein Angriff auf den Staat, auf das Land NRW. Das Gewaltmonopol des
Staates nach Art. 20 III und Art. 281 GG wird in Frage gestellt, eigene Regeln über staatliche
Gesetze gestellt. Begünstigt werden solche Straftaten. durch den Umstand, dass viele Taten
im Vorfeld sanktionslos geblieben sind und damit eine abschreckende Wirkung fehlt. 4 Die
Polizei ist von dieser Entwicklung als sichtbarste und öffentlich wahrnehmbarste staatliche
Verwaltung im besonderen Maße betroffen, daneben jedoch auch zunehmend andere Insti-
tutionen (Feuerwehr, Ordnungsämter, Rettungsdienst- und Krankenhauspersonal).

         „Die Innere Sicherheit ist eine Frage, von der abhängt, ob der Staat noch glaubwürdig
         bleibt. Viele Menschen seien angesichts steigender Kriminalitätsraten beunruhigt und
         das beunruhigt mich, .. ./... , weil sie [die Menschen]5 am Staat zu verzweifeln dro-
         hen. "6

Im Zusammenhang mit den Geschehnissen zur Silvesternacht 2015 formuliert der Schluss-
bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV (PUA IV - 16:Legislaturperi-
ode)7


4 Siehe auch Landtagsdrucksache 16/14450, S.690
5 Zusatz der Verfasser
6 Innenminister
                Herbert Reul gegenüber den Lüdenscheider Nachrichten (29.08 .2017)
7 Landtagsdrucksache
                        16/14450; S.694
7

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          ,, .. ./... ob die Polizei, die ja selbst befugt ist, ihre Handlungen notfalls mit Gewalt
          durchzusetzen und dadurch regelmäßig konfliktreichen Situationen ausgesetzt ist,
          nicht auch aus einem professionellen Rollenverständnis heraus souverän mit „robus-
          ten" Reaktionen des polizeilichen Gegenübers umgehen muss." ·

    Keinesfalls darf es dazu kommen, dass die Polizei NRW in der Öffentlichkeit in eine „Opfer-
    rolle" gedrängt wird oder als „Opfer" wahrgenommen wird. Damit wäre das fatale Signal
    verbunden, dass die Polizei nicht mehr in der Lage ist, ihren Schutzauftrag umfassend zu
    erfüllen.

    Die Polizei im Allgemeinen und die PVB im Besonderen genießen seit Jahren durch die
    Bevölkerung besondere Wertschätzung und hohes Vertrauen. Dies ist aus Sicht des Landes
NRW sowohl bestärkend als auch mahnend, weil ein Verlust der Autorität des „Aushänge-
schildes des Rechtsstaates" eine ent.sprechend negative Wirkung für das friedliche Zusam-
menleben der Bürgerinnen und Bürger des Landes NRW, auf ihre Haltung zum Staat und
ihr Sicherheitsgefühl hätte,

Die lnfragestellung des Gewaltmonopols bedroht die Grundfesten unseres Staates. Weicht
der Staat hier zurück, führt dies zu einem Recht des Stärkeren und letztlich zur Aufgabe
unseres Gemeinwesens.

Die Landesregierung NRW hat sich hierzu eindeutig positioniert und unter anderem erklärt,
dass sie bereit ist,

          „Straftätern nachhaltig zu verdeutlichen, dass das Gewaltmonopol ausschließlich
          beim Staat und seiner Polizei /iegt"8 und „dass die Vermittlung des universellen Gel-
          tungsanspruchs unserer Rechtsordnung gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern,
          .. ./. .. , ein besonders wichtiges Anliegen ist. "9

Dies wird auch vom PUA IV des Landtages NRW bekräftigt: 10

          „Selbstbewusste Kommunikation in Konfliktsituationen und das unmissverständliche
          Beharren auf das durch die PVB vertretene staatliche Gewaltmonopol erscheint .. ./. ..
          erfolgversprechend. "

Darüber hinaus erklärt die Landesregierung, ,,dass der Rechtsstaat in jedem Winkel unseres
Landes gelten und handlungsfähig sein muss".11




8
   Landtagsdrucksache 16/13169            .
9  Koalitionsvertrag für Nordrhein-Westfalen 2017-2022- NRWKoalition - Seite 68
10 Landtagsdrucksache 16/14450;
                                   S.695
11 Koalitionsvertrag für Nordrhein-Westfalen
                                             2017-2022- NRWKoalition - Seite 61
8

Polizei NRW - Professionelle Einsatzbewältigun·g/LAFP NRW                                 9




 Zur Umsetzung dieses bestehenden politischen Konsenses in NRW, bedarf es, neben der
 Anpassung polizeilichen Auftretens in der Öffentlichkeit, einer deutlichen Fortentwicklung
 polizeilicher Aus- und Fortbildung in NRW.

 Die „Leitlinie für den bürgernahen Einsatz der Polizei - nordrhein-westfälische Linie (NRW-
 Linie )" beinhaltet schon immer das konsequente ~inschreiten bei Gewalttätigkeiten und die
Verfolgung von Straftaten.

Es gilt, diese - neben den bereits umgesetzten und angestrebten Gesetzesveränderungen
- in der „NRW-Linie" verankerten Grundsätze polizeilicher Arbeit fortzuentwickeln: 12

       •   Strikte Neutralität
       •   Ständige Gesprächsbereitschaft
       •   Qualifizierte Beweissicherung
       •   Bereitschaft, Gewalttätigkeiten konsequent entgegenzutreten

Entscheidend ist hierbei, die hervorragende Arbeit der Polizei NRW als "Bürgernahe Polizei"
uneingeschränkt zu erhalten, aber die Komponente „Professionelle Einsatzbewältigung" im
vorgenannten Sinne fortzuentwickeln.

Dabei ist zu bedenken, dass der Prozess der Vermittlung und faktischen Umsetzung verän-
derter Aus- und Fortbildungsinhalte, insbesondere bei sehr großen Zielgruppen wie dem
Wachdienst, sehr lange dauert. Beispielhaft sei angeführt, dass die Fortbildµng zum Thema
                                                                           1
AMOK-TE trotz maximaler Priorisierung mindestens drei Jahre benötigt, ~uni alle PVB des
erweiterten Wachdienstes zu erreichen.

Dies kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten sich uneingeschränkt diesem Ziel verpflichtet
fühlen und dies übereinstimmend nach Innen und Außen deutlich machen. Dieser Prozess
muss vom Kopf her eingeleitet werden. Hierzu müssen sowohl von der politischen wie der
fachlichen Führung der Polizei klare Signale und Botschaften ausgehen. Alle Verantwortli-
chen in Politik und Gesellschaft müssen beteiligt und gewonnen werden, dazu bedarf es
eines umfassenden Kommunikationskonzeptes.

Diese klare Zielsetzung sollte auch in den „Grundsätzen der Polizeiarbeit (Erl. IM _NRW vom
17.05.2006 - 4-59.01) verankert werden.




12   Landtagsdrucksache 16/6245
9

Polizei NRW - Professionelle Einsatzbewältigung/LAFP NRW                                    10




3 Maßnahmen
Die bisherigen Maßnahmen zur Probleml_ösung müssen konsequent fortgeführt und erwei-
tert werden.

Folgende These ist dabei handlungsleitend:

               Die Polizei NRW muss an Konsequenz, Stabilität, Führungsstärke

                                        und Robustheit deutlich zulegen!

Erfolgskritische Elemente sind insbesondere:

       •   Stressresistente, kommunikativ kompetente, taktisch, körperlich und mental gut aus-
           und fortgebildete PVB mit schneller Anpassurigsfähig'keit an sich plötzlich verän-
           dernde Situationen
       •   Emotional stabile, fürsorgerische und gut ausgewählte und fortgebildete Führungs-
           kräfte, 13 die für nachgeordnete Mitarbeiter präsent und wahrnehmbar sind (im beson-
           deren Laufbahngruppe 2.2)
       •   Eine ausreichende Zahl von Einsatzkräften in den Polizeibehörden, insbesondere im
           Wachdienst und Ermittlungsdienst 14
       •   Eine ausreichende Zahl an Bereitschaftspolizeieinheiten (auch BFE) und Spezialein-
           heiten
       •   Konsequentes Einschreiten und Durch~etzung der polizeilichen Maßnahmen unter
           strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes - auch bei scheinbaren Ba-
           gatell- und Alltagssachverhalten
       •   Ausschöpfen aller rechtlichen Möglichkeiten zur Stärkung der Institution Polizei bei
           Delikten gegenüber PVB (z.B. Strafantragstellung und Rechtschutz) 15
       •   Konsequente Anzeigeherstattung und qualifizierte Sachbearbeitung
       •   Fähigkeit, öffentliche Kritik auszuhalten und losgelöst davon, nach Innen fürsorge-
           risch zu reagieren ·(Lob, Anerkennung, Supervision) 16
       •   Kompetente einsatzbegleitende Kommunikation und
       •   eine schnelle, breite und offensive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere
           auch in Sozialen Medien




13   NRW-Studie „Gewalt    gegen   PVB" Handlungsempfehlungen 3 und 6
14   NRW0 Studie „Gewalt   gegen   PVB" Handlungsempfehlung 23
15   NRW-Studie „Gewalt    gegen   PVB" Handlungsempfehlung 1
16   NRW-Studie „Gewalt    gegen   PVB "Handlungsempfehlung 5
10

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