Vorwort zur Wiederveröffentlichung der Ost-Studie

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Vorwort zur Wiedervorlage Selten hat in jüngerer Zeit eine politikwissenschaftliche Untersuchung so hohe publizistische und politische Wellen geschlagen wie die hier nun wiedervorgelegte Studie „Ursachen und Hintergründe für Rechtsextremismus,        Fremdenfeindlichkeit       und     fremdenfeindlich      motivierte    Übergriffe    in Ostdeutschland sowie die Ballung in einzelnen ostdeutschen Regionen“, die das Göttinger Institut für Demokratieforschung im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer durchgeführt und im Mai 2017 der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Für uns als AutorInnen der Studie war dies eine neue Erfahrung. Nicht nur, dass etliche Nachrichtensendungen, überdies nahezu alle großen und viele kleinere Tageszeitungen in einem Ausmaß über die zentralen Ergebnisse berichteten, wie man sich dies als ForscherIn wünscht, zumal in einem Feld, das nicht selten stiefmütterlich behandelt wird. Auch hat uns die Heftigkeit der in den folgenden Wochen und Monaten aufgeworfenen Kritiken überrascht. Überrascht deshalb, weil diese nicht in erster Linie die Befunde ins Visier nahmen, sondern vor allem die wissenschaftliche Redlichkeit der Autorinnen und Autoren generell infrage stellten. Sicherlich werden wir uns selbstkritisch fragen müssen – und dies haben wir in den vergangenen Monaten auch getan –, wo Fehler gemacht wurden, wo es zumindest an Eindeutigkeit gemangelt hat. Dazu später mehr. Den Anfang machte ein Artikel auf Welt online und in der Welt , der uns – im Anschluss an einen 1 neurechten Blog – vorwarf, wir hätten GesprächspartnerInnen frei erfunden. Ein Vorwurf, der 2 zweifelsfrei ausgeräumt wurde, aber dennoch von nun an im Raum stand. Als WissenschaftlerInnen hat uns schon erschüttert, dass ein solch infamer Vorwurf derart weite Kreise ziehen konnte, dass wir uns in allen großen Medien dagegen wehren mussten, wohingegen der wider journalistische Standards 3 operierende Journalist sich nicht rechtfertigen musste. Besonders hohe Wellen schlug dabei ein Zitat eines Mitarbeiters der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, den es laut dem Artikel nicht gebe, und auch die sächsische Landeszentrale konnte sich nicht vorstellen, wer der Stichwortgeber aus den eigenen Reihen gewesen sein könnte. Dabei erfolgten Anfrage und Terminvereinbarung für das zugrunde liegende Gespräch, das am 10. August 2016 von Michael Lühmann und Danny Michelsen 4 telefonisch geführt wurde, direkt über die Landeszentrale für politische Bildung. 1 Vgl. u.a. Leubecher 2017. 2 O.V. 2017. 3 Schließlich sind Herrn Leubecher im Vorfeld seines verleumderischen Artikels telefonisch alle seine Nachfragen beantwortet worden; dass er einen Teil der Antworten weglassen oder weitere Vorwürfe hinzuziehen würde, mit denen er uns nicht konfrontiert hatte, ist mit Sicherheit eine Frage, die presserechtlich oder juristisch geklärt werden sollte. Das Motiv indes wird uns wohl verschlossen bleiben. 4 Vgl. Anfrage per E-Mail an die Landeszentrale für politische Bildung vom 16. Juli 2016 sowie die Terminbestätigung per E-Mail vom 19. Juli 2016.
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Eine andere Flanke eröffnete die Politik, allen voran der damalige Generalsekretär der sächsischen Union, Michael Kretschmer, der die Ergebnisse und die Situationsbeschreibung für den sächsischen Fall 5 entschieden zurückwies. Bestürzt hat uns, mit welcher Chuzpe Kretschmer und in der Folge andere, vor allem CDU-Politiker, der Studie ihre Wissenschaftlichkeit absprachen. Schockiert hat uns aber auch, dass die Behauptung Kretschmers, wir hätten alle Ostdeutschen diffamiert, im Diskurs solches Gewicht erlangte. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Berichts hieß es nun, wir hätten alle Ostdeutschen über einen Kamm geschoren. Dies ist ausweislich der Langfassung der Studie, aber auch der Kurzfassung und des Inhalts der Pressekonferenz zur Vorstellung der Studie am 18. Mai 2017 nicht richtig. Zweifellos sollten wir, Auftraggeber wie WissenschaftlerInnen, uns fragen, ob der Obertitel „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Ursachen – Hintergründe – regionale Kontextfaktoren“ glücklich gewählt war, weil er suggerieren kann, dass Aussagen über ganz Ostdeutschland getroffen werden. Deshalb ist er bei der Wiederveröffentlichung ergänzt worden um den Zusatz „im regionalen Kontext“. Aber aus dem zentralen Ergebnis – „dass, wohlgemerkt nicht in Ostdeutschland in toto, wohl aber in gewissen Regionen und politisch-kulturellen Umfeldern eine historisch gewachsene Neigung zu Fremdenfeindlichkeit und rechtsextremem Denken virulent ist, die in der politischen Debatte nicht einfach beiseite gewischt werden kann, nur weil die Diagnose einer ostdeutschen Spezifität eine politisch unangenehme Schwere in die öffentliche Auseinandersetzung bringt“ – die Behauptung 6 abzuleiten, wir hätten „ein Urteil über 16 Millionen Menschen“ gefällt, bleibt für uns nicht 7 nachvollziehbar. Es ist schade, dass dieses politische Urteil den Diskurs derart vergiftet hat, zumal wir mit Michael Kretschmer übereinstimmen, wenn er sagt, dass „wir die Menschen stark machen“ müssen und: „[P]auschale Unterstellungen, Stereotypen, die schaden dabei“. Genau das haben wir in der 8 Zusammenfassung der Studie, in der konkrete Handlungsempfehlungen gegeben wurden, auch geschrieben: „Es ist bereits vielfach angedeutet worden: Die Problemstellung Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und fremdenfeindlich motivierte Übergriffe mag ausweislich der untersuchten besonders belasteten Regionen und auch darüber hinaus eine gewisse ostdeutsche Schlagseite haben. Die Lösung des Problems haben, das zeigen andere ostdeutsche Regionen und Städte, die ostdeutschen Regionen, die ostdeutschen Kommunen, die ostdeutsche Politik, der ostdeutsche Bürger aber auch selbst in der Hand.“ In Anbetracht der erdrutschartigen Erfolge der AfD gerade in Sachsen bedauern wir sehr, 9 dass die sächsische Landesregierung darauf verzichtet hat, mit uns über diese Perspektiven zu diskutieren, und stattdessen unsere Redlichkeit als WissenschaftlerInnen angegriffen hat. Selbstkritisch müssen wir hier eingestehen, dass wir diesen Konflikt in dieser Härte nicht haben kommen sehen, obwohl wir im Rahmen der Studie auf ebendieses Reaktionsmuster der sächsischen Union 5 Vgl. Kretschmer 2017. 6 Vgl. Michelsen et al. 2017a: 17. 7 Kretschmer 2017. 8 Ebd. 9 Michelsen et al. 2017a: 19.
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verschiedentlich hingewiesen haben. Tragisch ist in diesem Zusammenhang aber, dass ab einem gewissen Zeitpunkt das ursprüngliche Vorhaben nicht mehr darstellbar war, nämlich ostdeutsche Positivbeispiele zu erforschen, um das zu unterfüttern, was unsere KritikerInnen nicht sehen wollten: dass die helle Seite der Zivilgesellschaft auch in Ostdeutschland existiert, dass es ostdeutsche Modi des Umgangs mit Rechtsextremismus gibt, von denen selbst der Westen der Republik, der zweifellos nicht frei von Rechtsextremismus ist, lernen könnte. Die vorletzte Flanke eröffnete dann ein Teil der Wissenschaft: Untersuchungsdesign und -methode seien falsch gewählt, es gebe Ungenauigkeiten im Bericht, zudem einen eklatanten Verzicht auf eine westdeutsche Vergleichsfolie, es seien nur Befragte aus dem linken Spektrum zu Wort gekommen und wir würden LinksextremistInnen als Quelle unserer Erkenntnisse zitieren, was die ganze Studie unredlich mache u.v.m. Es wäre ein Leichtes, die Kritik damit zu kontern, dass es kaum namhafte 10 RechtsextremismusforscherInnen gibt, die uns diese oder ähnliche Vorwürfe gemacht haben. Dennoch halten wir es für nötig, auf eigene Versäumnisse ebenso einzugehen wie auf haltlose Unterstellungen, die als solche auch bezeichnet werden müssen. Natürlich sind uns bei einer Projektlaufzeit von 13 Monaten und einem Bericht von fast 250 Seiten Fehler unterlaufen. Das soll nicht vorkommen – ist es aber. Da sind aus dem Solidaritätskomitee der DDR „Solidaritätskomitees“ geworden; diese aber gab es im Plural eher im Westen der Bundesrepublik denn im Osten. An einer anderen Stelle heißt es, viele ausländische Studierende hätten nach einem Jahr die DDR wieder verlassen müssen – dabei hätte dort stehen müssen: im Anschluss an ihr Studium. Da ist aus einem stellvertretenden Ministerpräsidenten ein ordentlicher Ministerpräsident geworden. Viele Augen haben den Bericht in unterschiedlichen Phasen gesehen und dennoch sind uns, was wir sehr bedauern, solche Fehler unterlaufen, die wir in dem hier wiedervorgelegten Bericht korrigiert haben. Andere, schwerwiegendere Behauptungen jedoch sind nicht haltbar und bedürfen einer Erwiderung. Zur 11 Anonymisierung haben wir uns umfangreich geäußert und haben auch in der vorliegenden Fassung unser Vorgehen nochmals verdeutlicht, wohl wissend, dass es den einen wissenschaftlichen Standard 12 hierfür nicht gibt.     Gleiches gilt für die Kritik am Aufbau und an der Methodik der Studie, den 10 Eine Ausnahme ist Werner Patzelt, der indes gerade nicht die Wissenschaftlichkeit der Arbeit anzweifelt, sondern dessen Hauptkritikpunkt – neben den wissenschaftsinhärenten Deutungs- und Theoriedifferenzen – der fehlende Vergleich zu Westdeutschland ist, den wir im Folgenden aufzuklären versuchen; vgl. Ders. 2017. Die Kritik von David Begrich, wir hätten die Literatur der 1990er Jahre bloß holzschnittartig verwendet, ist dem Umstand geschuldet, dass nur ein Blick in die letzten zehn Jahre Rechtsextremismusforschung beauftragt war; wo es notwendig erschien, haben wir dennoch die ältere Literatur gesichtet und einbezogen. Auf die so vielgestaltige wie wenig nachvollziehbare Kritik von Mannewitz/Thieme 2017 gehen wir gesondert ein. 11 Vgl. etwa Michelsen et al. 2017b. 12 Die Bandbreite zwischen formaler, faktischer und absoluter Anonymisierung (vgl. zur Unterscheidung Höhne 2010) steht dabei immer in einem Spannungsverhältnis zwischen der Möglichkeit der Reidentifizierung auf der einen und einer nicht mehr nachvollziehbaren Nähe oder Ferne zum Forschungsfeld auf der anderen Seite. Dies gilt umso mehr für konkrete kleinräumige Untersuchungsgebiete, deren Anonymisierung eine mögliche Reidentifizierung zwar nahezu unmöglich machen würde (vgl. Häder 2009: 21f.), aber damit zugleich den Ansatz der regionalen politischen Kulturforschung ad absurdum führen würde, der erst von der Kenntnis lokaler Bedingungen seinen Ausgang nehmen kann. Das daraus folgende, scheinbar unauflösbare Dilemma beschreiben etwa auch Gläser/Laudel 2010: 48ff. und 279ff., wonach die Anonymisierungserfordernisse so weit
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13 generellen Angriff auf die Auswahl der Untersuchungsorte             und der GesprächspartnerInnen, deren Anzahl und die Ableitbarkeit von Ergebnissen. Man könnte es sich leicht machen und darauf verweisen, dass eines der einflussreichsten Bücher über den Geisteshaushalt der Republik, Heinz Budes „Altern einer Generation“ , auf lediglich 21 Interviews basiert, von denen der Autor gerade einmal sechs Stück 14 porträtiert hat, um auf dieser Grundlage das Bild einer Generation zu entwerfen, das bis heute hoch anerkannt ist. Man könnte ebenso kurzerhand auf den umfangreichen Fußnotenapparat verweisen, auf die fast dreißig Seiten Literaturverzeichnis, auf über 450 wissenschaftliche Standardwerke, Quellen und Dokumente, auf denen der Bericht fußt. Man könnte es sich zuletzt mit dem Hinweis einfach machen, dass Umfang und Herangehensweise ganz üblich sind in der Rechtsextremismusforschung, welche mit ihrem qualitativen Forschungsdesign die quantitativen Analysen Bielefelder oder Leipziger Provenienz, die allesamt in den Bericht eingeflossen sind, ergänzen kann und soll. Aber in einem medial aufgewirbelten Umfeld, in dem mancher Vorwurf absurd, mancher verkürzt und mancher viel zu pauschal war, in dem KritikerInnen wie Kritisierte gezwungen waren, auf wenig Raum und bisweilen in ein bis zwei Sätzen einen ebenso alten wie komplizierten Methodenstreit der Wissenschaft zu vermitteln, der für die Wissenschaft selbst unlösbar erscheint, war die Gemengelage unübersichtlich und die Erhellung der Vorwürfe schwierig. Insbesondere dann, wenn die KritikerInnen die Aufgabenstellung der Auftragsforschung selbst nicht kannten. Denn auch hier lag eines der größten Missverständnisse: So gibt es einen substanziellen Unterschied zwischen langfristig angelegter Grundlagenforschung, die inzwischen aus finanziellen Gründen kaum mehr möglich ist, und der deutlich kurzfristigeren Auftragsforschung, die dazu dient, Problemfelder zu beschreiben und anzureißen, und dabei notwendigerweise auch Auslassungen in Kauf nehmen muss. Insofern können und müssen auch wir versuchen, einige Vorwürfe zu beantworten. Und ja, es mag lästig und kleinteilig erscheinen, aber es ist ebendies: kleinteilig und nicht frei von Anstrengung, sich mit einer medial verkürzenden Kampagne, mit heftigen politischen und wissenschaftlichen Vorwürfen auseinanderzusetzen, die mit falschen Annahmen, Behauptungen und Missverständnissen operierten, auf die wir immer nur reagieren konnten und mussten. Das gilt erstens für den Vorwurf einer fehlenden Vergleichsgruppe West. Zweifellos wäre ein Vergleich ost- und westdeutscher Städte mit jeweils ähnlichen Strukturprofilen durchaus geeignet, um ostdeutsche Spezifika herauszuarbeiten. Ein solcher Vergleich entsprach jedoch nicht dem vom Ministerium an uns gerichteten Forschungsauftrag, der explizit einen intraregionalen Vergleich innerhalb Ostdeutschlands und eine Fokussierung auf lokale Besonderheiten forderte. Abgesehen davon, dass ein Ost-West- gehen können, dass „Ergebnisse nicht in nachvollziehbarer Art und Weise präsentiert werden können. Wann immer gerade das, was [die] wissenschaftliche Argumentation ausmacht, die Identifizierung der Untersuchten gestattete, stehen [wir] vor einem Dilemma.“ Ebd.: 281. 13 Der Vorwurf einer gewissen Willkür ist bei der Auswahl der Untersuchungsorte absurd. Schon in der Einleitung haben wir die Auswahl der Untersuchungsorte erklärt, bei denen es sich den jeweiligen Landesverfassungsschutzberichten folgend um Zentren politisch motivierter Gewaltkriminalität von rechts handelt, deren Erforschung die Studie dienen soll. 14 Bude 1997.
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Vergleich innerhalb des gewährten Untersuchungszeitraums auch nicht hätte umgesetzt werden können, ist jedoch der Vorwurf, dass ein auf ostdeutsche Regionen beschränktes komparatives Design für unsere Fragestellung keine belastbaren Ergebnisse liefern könne, unhaltbar: Da es nicht darum ging, generalisierbare Aussagen über den ostdeutschen Rechtsextremismus zu treffen, sondern gesellschaftlichen Kontextfaktoren für rechtsextreme Geländegewinne am Beispiel von Regionen nachzuspüren,      die   durch   rechtsextreme  Mobilisierungserfolge      aufgefallen   sind, ist  nicht nachvollziehbar, warum die Untersuchung von Kontrollgruppen in den neuen Bundesländern zwingend notwendig gewesen sein sollte. Im Übrigen ist diese Eingrenzung des Untersuchungsdesigns auf den Vergleich zwischen ostdeutschen Regionen eine mittlerweile gängige Vorgehensweise: So hat z.B. ein Forschungsteam um Hubertus Buchstein und Gudrun Heinrich in einer hervorragenden Studie mit dem Titel „Rechtsextremismus in Ostdeutschland – Demokratie und Rechtsextremismus im ländlichen Raum“ aus einem auf Mecklenburg-Vorpommern beschränkten Vergleich der Regionen Anklam, Ueckermünde und Lübtheen wichtige Erkenntnisse zu strategischen Mustern der rechtsextremen Szene 15 gewonnen. Zweitens verwahren wir uns entschieden gegen den Vorwurf, wir hätten unsere Befragten dergestalt ausgesucht, dass die Ergebnisse schon präjudiziert gewesen seien – wie sich aus der Übersicht der von uns Befragten eine Dominanz linker GesprächspartnerInnen ableiten lässt, bleibt uns ein Rätsel. Drittens ist uns vorgeworfen worden, wir hätten statt nachprüfbarer Analysen eine erzählende Beschreibung geliefert. Da es sich um eine explorativ angelegte Studie handelt, die sich qualitativer Methoden bedient und den Schwerpunkt auf die politische Kultur der beiden Regionen legt, ist ein gewisser narrativer Stil unumgänglich und auch gewünscht gewesen. Nochmals: Es handelte sich um Auftragsforschung, die dann im politischen und politisch-bildnerischen Diskurs wirken sollte; insofern hielten und halten wir eine lesbare Beschreibung der Gegebenheiten für notwendig. Zudem haben wir bei der Interpretation der Interviewpassagen dort, wo dies sinnvoll war, eine tiefenhermeneutische Vorgehensweise gewählt, also nachprüfbar analysiert. Auch der Vorwurf, es sei nicht nachvollziehbar dargelegt worden, ob Expertinnen und Experten zu den relevanten Faktoren aus eigenem Erleben Auskunft geben könnten, ist nachgerade absurd: Bei all unseren ExpertInnen – seien es AkteurInnen aus der schulischen und politischen Bildung, seien es mit dem Themenfeld befasste VerfassungsschützerInnen, seien es von RechtsextremistInnen bedrohte StadträtInnen, seien es KommunalpolitikerInnen usw. – ist doch offensichtlich, dass diese aus eigenem Erleben, aus eigener Betroffenheit oder Expertise Auskunft geben können. Viertens verwundert uns der Vorwurf, wir hätten uns linksextremer Quellen bedient, während die Nutzung von eindeutig dem Rechtsextremismus zuzuordnenden Quellen keine Kritik hervorrief. Auch falsch ist der damit verbundene Vorwurf, wir hätten versucht, Linksextremismus als Problemlösung gegen Rechtsextremismus in Stellung zu bringen. Vielmehr haben wir wertungsfrei darauf hingewiesen, 15 Vgl. Buchstein/Heinrich 2010.
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dass der Zusammenhang von Zurückdrängung des Rechtsextremismus im lokalen Raum mit der Existenz lokaler linker, zum Teil institutionalisierter Strukturen korrelieren könnte und dass dieser Zusammenhang weiterer Erforschung bedarf. Andere Vorwürfe, wie jener, wir würden den Unterschied zwischen den DDR-Strafrechtsparagraphen § 215 („Rowdytum“) und § 92 („Faschistische Propaganda, Völker- und Rassenhetze“) nicht kennen, sind nicht nachvollziehbar; Gleiches gilt für die Kritik an der 16 Begrifflichkeit „Völkertreffen“, die es in der DDR nachweislich gegeben hat. Und wer aus der geschätzten Existenz 5.000 mosambikanisch-deutscher Kinder den Vorwurf ableitet, so segregiert könnten VertragsarbeiterInnen und Ostdeutsche nicht gewesen sein, der ignoriert mindestens den oftmals paradoxen Zusammenhang zwischen öffentlicher Norm und Realität. Aber auch die Bewertung mancher Aussage des Berichtes hat uns verwundert. So werfen uns KritikerInnen vor, wir hätten einen Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung interviewt, der 17 das Kaiserreich und die Mauer verherrlicht haben soll.                Hierbei handelt es sich um eine völlig missverständliche Auslegung eines Ausschnitts aus dem oben bereits erwähnten Interview mit einem Mitarbeiter der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, in welchem dieser den Sachsen ein harmonistisches Politikverständnis und eine versteckte Sehnsucht nach den vergangenen Zeiten der Monarchie unterstellt. Wörtlich heißt es in der Passage: Ein „Mitarbeiter der Landeszentrale für politische     Bildung     spricht    von    einem    ‚monarchieähnlichen       Zusammengehörigkeits-        und Harmoniebedürfnis […]. Die offene Streitkultur, […] die ist schwach ausgeprägt. Sondern wenn man streitet: aber bitte nicht so schlimm und immer gucken, […] ob [der König] noch geneigt ist, das sich anzuhören. Das entspricht ja auch der Erfahrung. Die Monarchiezeiten waren nicht die schlechtesten.‘“          18 Wer hier eine „Diktaturverherrlichung“ hineininterpretiert, beweist, dass er die entsprechende Textstelle entweder nicht richtig gelesen hat oder erschreckend geringe hermeneutische Fähigkeiten (geschweige denn einen Sinn für Ironie) besitzt. Auch verwundert haben uns, im Anschluss an die vorgeblich fehlende Vergleichsfolie West, wissenschaftliche Nachfragen, die den inzwischen von vielen AutorInnen hergestellten Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus in Sachsen und einer spezifischen politischen Kultur in Sachsen unter Verweis auf Bayern negieren. Abgesehen davon, dass die Behauptung, Bayern sei konservativer als Sachsen, nicht einmal von konservativen PolitologInnen 19 wie Eckhard Jesse geteilt wird, kann man es an dieser Stelle kurz machen: In Bayern gab es eine andere Migrationspolitik, eine andere Kultur der Vergangenheitsbewältigung, in Bayern wehrt sich die 16 Auf diesen Unterschied ist in Kapitel 3.2 hingewiesen worden. Weitere Forschungen zeigen, dass bei den Sicherheitsorganen der DDR eine diesbezügliche Unterscheidung bisweilen politisch konnotiert war, die Staatssicherheit Zahlen fälschte und generell relativ machtlos war gegen die Ausbreitung der Neonazis etwa beim Vorzeigeklub BFC Dynamo Berlin. Bezüglich des Zeigens des Hitlergrußes oder antisemitischer Gesänge wurden „Täter nur selten identifiziert bzw. strafrechtlich verfolgt“, wohingegen „die meisten Strafen […] für das Delikt Körperverletzung verhängt [wurden]; zudem finden sich Taten, bei denen ‚Rowdytum‘ (§ 215 StGB der DDR), ‚Widerstand gegen staatliche Maßnahmen‘, ‚Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit‘ und ‚Öffentliche Herabwürdigung‘ geahndet wurden“. Vgl. Lorke 2012. 17 Mannewitz/Thieme 2017. 18 Siehe S. 92 im vorliegenden Bericht. 19 Vgl. Jesse 2016: 204f.
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Landeshauptstadt München gegen „PEGIDA“-Ableger, oder ganz kurz: Bayern war nach 1945 keine Diktatur, die DDR aber schon. Das ist im Bericht so umfänglich zusammengetragen, dass man den Transferverlust zwischen dem Lesen der Studie und einer solchen Frage nur schwerlich nachzuvollziehen bereit ist. Auch die Forderung nach Beweisen für die These, dass die „sächsische Identität“ rechtsextreme Einstellungen und Handlungsmuster befördere, irritiert insofern, als Beweise zwar Bestandteil kriminologischer Fallbearbeitung sind, nicht aber im Zentrum sozialwissenschaftlicher oder historischer Forschung stehen sollten. Und Hinweise auf einen solchen Zusammenhang gibt es sehr wohl; verwiesen sei hier ganz deutlich auf die Arbeiten von Jesse zur regionalen politischen Kultur (der diesen Konnex allerdings in letzter Konsequenz verneint) oder auf die Arbeiten von Steinhaus et al., die diesen Konnex besonders starkmachen. Es wird weiter eine Auseinandersetzung über diese Frage geben (müssen), glaubwürdige „Beweise“ wird es aber nicht geben können. Wenn aber WissenschaftlerInnen öffentlich KollegInnen in einer solch apodiktischen Art und Weise auf die Anklagebank setzen und damit öffentlich die Streitbarkeit von Wissenschaft zugunsten eines „Richtig“ und „Falsch“ negieren, dann ist es wahrlich nicht gut bestellt um die akademische Debatte. Eine letzte Flanke in der Debatte kann nicht unerwähnt bleiben, da sie diese Wiederveröffentlichung erst notwendig gemacht hat: die Distanzierung der Ostbeauftragten Iris Gleicke, die uns als AutorInnen überrascht hat, sowohl in ihrem Inhalt als auch bezüglich der Kenntnisnahme der Vorwürfe, welche uns 20 aus den Medien erreicht und zu denen wir bereits Stellung genommen hatten. Nun ist es sicherlich so, dass es weiterhin unterschiedliche Bewertungen der Vorgänge gibt und geben wird. Aber ebenso wie das Bundeswirtschaftsministerium im Nachhinein wieder auf uns zugegangen ist, haben wir uns bewegt, haben in vertrauensvollen Sitzungen sondiert, wie man das Beste und Notwendige aus der Situation machen kann, die für alle Seiten eine durchaus schmerzhafte Erfahrung war – zumal deshalb, weil die Deutungshoheit über den Bericht zunehmend in rechte Kreise abdriftete. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist der hier vorliegende Bericht, der in Abwägung aller Interessen neben einer nochmaligen gründlichen orthografischen und grammatikalischen Überarbeitung einige, kleinere Änderungen erfahren musste, gleichwohl sich keine seiner Kernaussagen oder Thesen verändert hat. Die wichtigsten Änderungen sind: 1. Zusammenhänge personeller Art sind so weit anonymisiert, dass sie hoffentlich nicht mehr Zielscheibe juristischer Auseinandersetzungen sein können. Wir bedauern dies sehr, weil damit inhaltlich einiges verloren geht, was doch so wichtig für die wissenschaftliche Erforschung des Rechtsextremismus in Ostdeutschland ist. 20 Vgl. Göttinger Institut für Demokratieforschung 2017.
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2. Zudem haben wir im Methodenteil einen spezifischen Unterabschnitt zum Thema Anonymisierung eingefügt, in dem wir das Verfahren nochmals ausführlich und unter Einbezug der geäußerten Kritik erläutert haben. 3. Bezüglich der Auswahl der GesprächspartnerInnen haben wir ebenfalls Ergänzungen vorgenommen, nochmals verdeutlicht, wo Gesprächsbarrieren lagen – und dies ausführlich unter Verweis auf die Kommunikationswege dargelegt. 4. Wir haben dort, wo die Kritik zutreffend war, wie bereits angesprochen, kleinere inhaltliche Details geändert. 5. Wir haben, um Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden, den Obertitel ergänzt; er lautet nun „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland im regionalen Kontext“. Wir sind zuversichtlich, dass die wiedervorgelegte Studie nun die inhaltliche Auseinandersetzung erfährt, die das Thema braucht, und wünschen in der Hoffnung auf eine Versachlichung der Debatte eine erkenntnisreiche Lektüre. Die AutorInnen der Studie Göttingen, im November 2017
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