Wahleinspruch_mit_Anlagen1-9
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Einspruch zu Berliner Wahlkreisen bei Bundestagswahl 2021“
Seite 11 / 20 Stimmzettel vor Eröffnung der Wahlhandlung vorlagen, bestanden auf Seiten der Wahlbehörden be- sondere Sorgfaltspflichten, um eine zeitlich durchgehende Ausstattung des Wahlvorstands mit Stimmzetteln während der Wahlhandlung im Wahlraum sicherzustellen. Diesen Sorgfaltsanforderun- gen ist nicht hinreichend Rechnung getragen worden. Dass am Tag der Bundestagswahl ein Mara- thon in Berlin stattfinden wird und daher mit erheblichen Verkehrsbehinderungen zu rechnen ist, die Auswirkungen auf die Nachlieferung von Stimmzetteln haben konnten, war lange vor dem Wahltag bekannt. Hierauf hätten sich die Wahlorgane und -behörden in Berlin einstellen und Vorsorge treffen müssen – auch durch Erarbeitung von Konzepten, um eine Versorgung der Wahlräume mit Stimmzet- teln in jedem Fall sicherzustellen. Im Übrigen hat der im Wahlbezirk 118 des Wahlkreises 75 tätige Wahlvorsteher Toni Frank mir davon berichtet, dass er am Wahltag, als Stimmzettel gegen 16:00 Uhr knapp wurden, auf telefonische Mit- teilung vom zuständigen Bezirksamt die Auskunft erhalten habe, dass das Bezirksamt keine Stimm- zettel liefern könne, sondern dass diese von den Wahlvorständen während der laufenden Wahlhand- lung selbst abgeholt werden müssten. Nach Presseberichten soll dies kein Einzelfall gewesen sein. Daraufhin hat der stellvertretende Wahlvorsteher mit einem Carsharing-Auto die Stimmzettel auch noch für die Wahlbezirke 117 und 119 persönlich im Rathaus Wedding abgeholt. b) Bildung von unzumutbaren Wartezeiten aa) Kurze Wartezeiten, die sich etwa bei zeitweisem Andrang zur Stoßzeit oder aufgrund unvorherge- sehener Zwischenfälle ergeben können, beeinträchtigen die Wahlberechtigten nicht in ihren verfas- sungsmäßigen Rechten und verstoßen auch nicht gegen einfachgesetzliches Wahlrecht. Sie sind grundsätzlich hinzunehmen. So hat der Deutsche Bundestag in der bereits zitierten Wahlprüfungsentscheidung ausgeführt, dass „vorübergehende Behinderungen im Wahlablauf, wie zum Beispiel auch Wartezeiten wegen großen Wählerandrangs oder anderweitige zeitliche Verzögerungen aufgrund von organisatorischen Proble- men […] im Rahmen des Zumutbaren hinzunehmen“ sind. Es sei „nicht unverhältnismäßig, wenn ein Wahlberechtigter zehn Minuten warten muss, um seine Stimme abzugeben. Es besteht kein An- spruch auf die Teilnahme an der Wahl zu einem bestimmten Zeitpunkt“ (Wahlprüfungsentscheidung, BT-Drs. 19/16350, Anlage 5, S. 21, 22). Statistisches Bundesamt Deutschland

Seite 12 / 20 Etwas anderes gilt aber, wenn die Ausübung des Wahlrechts durch lange Wartezeiten unverhältnis- mäßig erschwert wird. Aus dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl folgt das Recht, an der Bun- destagswahl teilzunehmen. Er gebietet, dass grundsätzlich jeder Deutsche sein Wahlrecht in mög- lichst gleicher Weise soll ausüben können. Darüber hinaus verbürgt der Grundsatz der Freiheit der Wahl die Freiheit der Wahlbetätigung. Dem Wähler muss es freistehen, zur Wahl zu gehen oder von der Wahl fernzubleiben (s. o.). Nicht nur unerhebliche Wahlerschwerungen stellen eine Beeinträchti- gung dieser Grundsätze dar. Lange Wartezeiten bei der Stimmabgabe sind solche Wahlerschwerun- gen. Jedenfalls Wartezeiten von mehr als 30 Minuten gehen über das Maß hinaus, das dem einzel- nen Wahlberechtigten zugemutet werden kann. Vor allem sind Personen in fortgeschrittenem Alter oder Personen mit körperlichen Einschränkungen oder Behinderungen außer Stande sein können, längere Zeit zu stehen. Solche Personen werden dann allein aufgrund ihrer körperlichen Konstitution faktisch von der Wahl ausgeschlossen. Das war in einer unbestimmten Zahl der Fall. Auch hier sind Wahlberechtigte, die aufgrund dieser Vorkommnisse nur unter Inkaufnahme unzu- mutbarer Erschwernisse von ihrem Stimmrecht hätten Gebrauch machen können und daher von ei- ner Stimmabgabe abgesehen haben oder ihre Stimme nicht abgeben konnten, außerdem in ihrem aktiven Wahlrecht aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 GG verletzt. bb) Nach § 49 BWO übergibt die Gemeindebehörde dem Wahlvorsteher eines jeden Wahlbezirks „vor Beginn der Wahlhandlung“ unter anderem „amtliche Stimmzettel in genügender Zahl“ (§ 49 Nr. 3 BWO) und richtet in jedem Wahlraum Wahlkabinen ein (§ 50 BWO). Dabei muss auch die Ausstat- tung des Wahlraums so erfolgen, dass eine ordnungsgemäße Wahldurchführung sichergestellt ist und sich keine Warteschlangen bilden. Insbesondere die Bezirksämter haben daher sicherzustellen, dass während der gesamten Wahlzeit bis zum Schluss der Wahlhandlung in dem Wahlraum eine ausreichende Zahl an Stimmzetteln für die Bundestagswahl in dem betreffenden Wahlkreis vorhan- den ist und ausreichend Wahlkabinen aufgestellt sind. Wenn nach dem Bericht der Landeswahlleite- rin aufgrund pandemiebedingter Hygieneregeln das Aufstellen weiterer Wahlkabinen zur Einhaltung von Mindestabständen nicht möglich war, hätten bereits im Vorfeld der Wahl ausreichend große Wahlräume ausgewählt werden müssen, die das Aufstellen einer ausreichenden Zahl an Wahlkabi- nen ermöglicht hätten. Bereits lange vor dem Wahltag war bekannt – ich habe als Bundeswahlleiter darauf in den Vorbesprechungen zur Bundestagswahl mit den Landeswahlleitungen auch wiederholt Statistisches Bundesamt Deutschland

Seite 13 / 20 hingewiesen, u.a. in der gemeinsamen Videokonferenz am 21.04.2021 sowie u.a. mit E-Mail vom 11.05.2021 –, dass aufgrund der COVID-19-Pandemie in den Wahlräumen Hygieneregeln einzuhal- ten sein werden und dass deshalb auf die Auswahl ausreichend großer oder einer größeren Anzahl von Wahlräumen zu achten ist, damit Mindestabstände eingehalten werden können. Das war offen- bar überwiegend nicht der Fall. Die Erklärung der Landeswahlleiterin, dass es schon pandemiebedingt und aufgrund von Hygiene- maßnahmen zu Wartezeiten von regelmäßig bis zu 30 Minuten gekommen sei, ist nicht nachvollzieh- bar. Im gesamten Bundesgebiet mussten aufgrund der anhaltenden COVID-19-Pandemie in den Wahlräumen Hygienemaßnahmen getroffen werden. Wahlorganisatorisch wäre es daher geboten ge- wesen, diese besonderen Umstände zu berücksichtigen und durch Vorkehrungen, die Bildung von Warteschlangen und damit verbundene Wartezeiten auch unter diesen Umständen soweit wie mög- lich zu vermeiden. Dass dies möglich gewesen wäre, lässt sich schon daran erkennen, dass aus an- deren Ländern keine Berichte über die Bildung von Warteschlangen in entsprechender Häufung vor- liegen. Im Übrigen hat die Landeswahlleiterin nach Angabe in ihrer Stellungnahme wegen der gleichzeitigen Durchführung mehrerer Wahlen und eines Volksentscheids zwar gemeinsam mit den Bezirken eine Probeauszählung der Stimmzettel von 750 Wählenden mit jeweils 6 Stimmen vorgenommen. Dabei sei von einer durchschnittlichen Verweildauer der Wählerinnen und Wähler von jeweils 3 Minuten in den Wahlkabinen ausgegangen worden. Angesichts von insgesamt fünf Stimmzetteln bei drei gleich- zeitig stattfindenden Wahlen und eines Volksentscheids mit anspruchsvoller Fragestellung war diese Annahme von vornherein unrealistisch. Eine durchschnittliche Dauer von mindestens 5 Minuten bzw. 7 Minuten wäre wesentlich realitätsgerechter gewesen. 2. Mandatsrelevanz Die Wahlmängel können Einfluss auf die Gültigkeit der Bundestagswahl in den sechs Wahlkreisen haben, weil sie zu einer anderen, vom amtlichen Wahlergebnis abweichende Mandatsverteilung füh- ren können. Mandatsrelevanz liegt vor, wenn sich ein Wahlmangel möglicherweise auf die Mandats- verteilung im Deutschen Bundestag ausgewirkt haben kann, und setzt voraus, dass es sich nicht nur um eine theoretische Möglichkeit handelt; sie muss eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende sein (BVerfGE 89, 291, 304). Bloße Vermutungen oder rein Statistisches Bundesamt Deutschland

Seite 14 / 20 spekulative Annahmen genügen nicht (BVerfGE, 121, 266, 310). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn nach dem endgültigen Wahlergebnis angesichts der Stimmenverhältnisse mit mathe- matischer oder logischer Sicherheit oder mit einer Wahrscheinlichkeit, die an Sicherheit grenzt, ein Einfluss des Wahlmangels auf die parteipolitische und personelle Sitzverteilung im Deutschen Bun- destag ausgeschlossen werden kann (Austermann, in Schreiber a.a.O., § 49 Rn. 15). Hinsichtlich des Erststimmenergebnisses liegt Mandatsrelevanz vor, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein anderer Wahlkreisbewerber oder eine andere Wahlkreisbewerberin im Wahl- kreis gewonnen hätte, wenn der Wahlfehler nicht aufgetreten wäre. Hinsichtlich des Zweitstimmener- gebnisses liegt ein mandatsrelevanter Fehler insbesondere dann vor, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine abweichende Zahl an Sitzen auf jede Partei und/oder eine abweichende Zahl an Sitzen auf die einzelnen Landeslisten einer oder mehrerer Parteien entfallen würden, wenn sich der Wahlmangel nicht ereignet hätte. Die Landeswahlleiterin für Berlin hat mir in ihrem Bericht vom 11.10.2021 sowie später in einer Aktu- alisierung mitgeteilt, welche Wahlräume nach ihrer Kenntnis von welchen Vorkommnissen jeweils betroffen waren, wann die Wahlhandlung unterbrochen wurde bzw. wann die Wahlhandlung ge- schlossen wurde (Anlage 4). Die mir daraufhin vorliegenden Daten habe ich zusammengeführt und ausgewertet (Anlage 10). In den Fällen, in denen die Wahlhandlung temporär wegen fehlender Stimmzettel unterbrochen wurde und/oder sich Warteschlangen gebildet haben, konnte oder wollte eine nicht ermittelbare Zahl Wahlberechtigter nicht mehr warten und hat sich wieder entfernt, ohne die Stimme abgeben zu können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Dokumentation von Vorfällen in den Wahlbezirken stellen- weise äußerst lückenhaft ist, so beispielsweise für den Wahlkreis 75. In einigen Fällen ist beispiels- weise nicht bekannt, in welchem Zeitraum bzw. wie lange Wahlräume geschlossen waren oder wann die Wahlhandlung beendet wurde. Darüber hinaus sind die Informationen der Wahlorgane in Berlin teils widersprüchlich. So hat mir die Landeswahlleiterin zwar mitgeteilt, welche Wahlbezirke in wel- cher Form nach letztem Kenntnisstand betroffen waren. In den Niederschriften der Kreiswahlaus- schüsse sind jedoch weitere Wahlbezirke genannt, in denen es nach Kenntnis der Kreiswahlaus- schüsse entweder bekanntermaßen zu Vorkommnissen bei der Bundestagswahl gekommen ist oder in denen sich nachträglich nicht mehr ermitteln ließ, welche der zeitgleich in Berlin durchgeführten Statistisches Bundesamt Deutschland

Seite 15 / 20 Wahlen davon betroffen waren. Damit ist auch die Bundestagswahl betroffen. Die anliegend beige- fügte Tabelle (Anlage 7b) zeigt auf, dass sich aus den Niederschriften der Kreiswahlausschüsse der drei Wahlkreise 76, 80 und 83 nach meiner Gegenüberstellung 30 Fälle ergeben, in denen in den aufgeführten Wahlbezirken schon in der Mittagszeit und dann während sowie gegen Ende der Wahl- zeit zeitweise und zwar bis zu 1 1/2 Stunden lang Stimmzettel nicht vorhanden waren. Diese 30 Fälle sind indessen - aus mir unbekannten Gründen - in den Berichten der Landeswahlleite- rin nicht aufgeführt worden. Deshalb halte ich es für wahrscheinlich, dass es über die von der Lan- deswahlleiterin mitgeteilten Zahlen weitere Vorfälle gab, die nicht berücksichtigt sind, die jedoch für die Feststellung der Mandatsrelevanz bedeutsam sind. a) Mandatsrelevanz der Wahlmängel hinsichtlich des Zweitstimmenergebnisses Anlage 8 enthält die für das Zweitstimmenergebnis relevanten Angaben. Hätte die SPD bundesweit 802 Zweitstimmen mehr erhalten als sie nach dem endgültigen Wahlergebnis erhalten hat, hätte sie bei der bundesweiten Sitzverteilung statt 206 Sitzen insgesamt 207 Sitze erhalten. Der auf die SPD zusätzlich entfallende Sitz hätte dabei der Landesliste der SPD in Niedersachsen zugestanden. Statt 25 Sitzen hätte die SPD dort 26 Sitze errungen. Wenn unterstellt wird, dass sämtliche Nichtwähler/-innen in den jeweiligen Wahlbezirken in den in Anlage 9, Tabelle 1 , Spalte 5 angegebenen sechs Wahlkreisen von den Wahlmängeln betroffen wa- ren und ihre Zweitstimme abgeben wollten, wird die für eine mandatsrelevante Änderung des Wahl- ergebnisses erforderliche Zahl von 802 Zweitstimmen für jeden Wahlkreis weit übertroffen. Das ist selbst dann der Fall, wenn als Näherungswert ermittelt wird, wie viele Wähler/-innen während der Schließung der betreffenden Wahlräume in den Wahlkreisen 76, 80 und 83 ihre Zweitstimme theoretisch abgegeben hätten, wenn angenommen wird, dass jeder Wähler/jede Wählerin durch- schnittlich 3, 5 bzw. 7 Minuten für die Stimmabgabe benötigt hätte und je Wahlraum 2 Wahlkabinen errichtet wurden. Die Summe der Zahl der Nichtwähler für alle sechs Wahlkreise ist mit 31.605 so hoch, dass jeweils auch DIE GRÜNEN (mit 8.879 Stimmen), DIE LINKE (mit 16.123 Stimmen) und die AfD (mit 30.702 Stimmen) einen zusätzlichen Sitz hätte erhalten können, s. Anlage 8. Statistisches Bundesamt Deutschland

Seite 16 / 20 b) Mandatsrelevanz der Wahlmangel hinsichtlich des Erststimmenergebnisses Anlage 9, Tabelle 2 enthält die für die Bestimmung der Mandatsrelevanz in Bezug auf das Erststim- menergebnis relevanten Angaben. In Spalte 9 ist angegeben, mit welchem Stimmenabstand der je- weilige Wahlkreisgewinner das Direktmandat gewonnen hat, Spalte 5 gibt die Anzahl der Nichtwäh- ler unter den zur Urnenwahl wahlberechtigten Personen in den jeweils betroffenen Wahlbezirken wieder, Spalte 6 einen rechnerischen Näherungswert, wie viele Wahlberechtigte im Zeitraum der Schließung der Wahlräume im jeweiligen Wahlkreis hätten abstimmen können, wenn man unter- stellt, dass in jedem Wahlraum 2 Wahlkabinen aufgestellt waren und jeder Wähler/jede Wählerin durchschnittlich 3 Minuten für die Stimmabgabe benötigte. Dieselbe Berechnung wurde in Spalte 7 vorgenommen unter der Prämisse, dass jeder Wähler/jede Wählerin durchschnittlich 5 Minuten für die Stimmabgabe benötigte und in Spalte 8 unter der Prämisse, dass jeder Wähler/jede Wählerin durchschnittlich 7 Minuten für die Stimmabgabe benötigte. Danach waren die Wahlmängel hinsicht- lich des Erststimmenergebnisses nach allgemeiner Lebenserfahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mandatsrelevant. Dies kann im Wahlkreis 77 (Berlin-Reinickendorf) nicht ausgeschlossen wer- den. Im Wahlkreis 77 wurde in insgesamt 33 Wahlbezirken die Wahlhandlung gemäß § 60 Satz 2 BWO erst nach 18:30 Uhr beendet. In diesen Wahlbezirken waren insgesamt 25.870 Wahlberechtigte ohne Sperrvermerk in das Wählerverzeichnis eingetragen (A1). Dabei handelt es sich um diejenigen Wahlberechtigten, die keinen Wahlschein beantragt haben. Personen, die einen Wahlschein bean- tragen, nehmen ganz überwiegend per Briefwahl an der Bundestagswahl teil. Bei A1-Wahlberechtig- ten handelt sich also um potentielle Urnenwähler/-innen. Zieht man von diesem Wert die Zahl aller Wähler-/innen in den von den späten Schließungen betroffenen Wahlbezirken (B = 16.010) ohne die Zahl der Wähler/-innen mit Wahlschein (B1 = 134) ab, ergibt sich die Zahl der wahlberechtigten Per- sonen, die per Urnenwahl ausschließlich in ihrem Wahlbezirk an der Wahl teilnehmen konnten, die jedoch nicht an der Wahl teilgenommen haben (Nichtwähler/-innen ohne Wahlschein in den betref- fenden Wahlbezirken). Diese Zahl beläuft sich in den betroffenen Wahlbezirken des Wahlkreises 77 auf 9.994. Im Wahlkreis 77 fehlten dem Erstunterlegenen 1.788 Erststimmen für den Gewinn des Direktman- dats. Hätten von den 9.994 Nichtwähler-/innen in den betroffenen Wahlbezirken nur 17,9 % vom Statistisches Bundesamt Deutschland

Seite 17 / 20 Stimmrecht Gebrauch gemacht, kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass das Wahlkreis- mandat durch den Erstunterlegenen gewonnen worden wäre. Damit ist hier Mandatsrelevanz herge- stellt. Demgegenüber kann in den übrigen Wahlkreisen ausgeschlossen werden, dass sich der Wahlfehler auf das Ergebnis der Wahl in den Wahlkreisen ausgewirkt hat. Selbst wenn man unterstellt, dass sämtliche wahlberechtigten Personen ohne Wahlschein, die nicht an der Bundestagswahl teilgenom- men haben, in den betreffenden Wahlbezirken ihre Stimme abgegeben hätten, hätten die Erststim- men keinen Einfluss auf das Wahlkreisergebnis haben können (Anlage 9, Tab. 1 Spalte 5 und 9). III. Ergebnis 1. Insbesondere in sechs Wahlkreisen in Berlin (Wahlkreis 75 (Berlin-Mitte), Wahlkreis 76 (Berlin- Pankow), Wahlkreis 77 (Berlin-Reinickendorf), Wahlkreis 79 (Berlin-Steglitz-Zehlendorf), Wahlkreis 80 (Berlin-Charlottenburg-Wilmersdorf) und Wahlkreis 83 (Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg – Prenz- lauer Berg Ost)) haben sich bei der Bundestagswahl am 26.09.2021 aus wahlorganisatorischen Gründen Wahlmängel ereignet, die Auswirkungen auf die Mandatsverteilung im Deutschen Bundes- tag gehabt haben können: a) In zahlreichen Wahlräumen in diesen Wahlkreisen wurde die Wahlhandlung während der Wahlzeit bis zu rund 2 Stunden vorübergehend unterbrochen beziehungsweise Wahlräume geschlossen. Grund für die Unterbrechung war nach Stellungnahme der Landeswahlleiterin insbesondere, dass in den betroffenen Wahlräumen zeitweise keine Stimmzettel mehr vorhanden gewesen waren: In den Wahlräumen hat aufgrund logistischer Mängel zu Beginn der Wahlhandlung nur ein Teil der am Wahl- tag benötigten Stimmzettel vorgelegen. Unter anderem aufgrund des am Tag der Bundestagswahl in Berlin stattfindenden Marathons sowie weiterer organisatorischer Fehler wurden Stimmzettel nicht oder nicht rechtzeitig nachgeliefert. b) Darüber hinaus mussten Wahlberechtigte in diesen Wahlkreisen bis zu zwei Stunden und länger warten, bevor sie ihre Stimme abgeben konnten. Ursache für die Warteschlangen und die damit ver- bundene Wartezeit soll das Fehlen von Stimmzetteln sowie die Anlieferung nicht für den Wahlkreis bestimmte und damit falscher Stimmzettel gewesen sein. Darüber hinaus dürften auch andere Statistisches Bundesamt Deutschland

Seite 18 / 20 Gründe – etwa zu wenige Wahlkabinen in den Wahlräumen bzw. zu kleine Wahlräume – zur Bildung von Warteschlangen und damit unzumutbaren Wartezeiten beigetragen haben. 2. Die Vorfälle verletzen wahlrechtliche Vorschriften, insbesondere den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl und den Grundsatz der Freiheit der Wahl aus Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Es handelt sich um Wahlmängel, die den zuständigen Wahlorganen und -behörden zurechenbar sind. Sie sind insbe- sondere auf schwerwiegende organisatorische Mängel bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen in Berlin zurückzuführen und hätten durch hinreichende Vorkehrungen weitgehend verhin- dert werden können. 3. Die Wahlmängel sind mandatsrelevant. Nach den mir vorliegenden Erkenntnissen können sich die Fehler auf das Ergebnis der Wahl der Wahlkreisabgeordneten im Wahlkreis 77 (Berlin-Reinickendorf) ausgewirkt haben. Auch nach dem endgültigen Ergebnis der Zweitstimmen kann nicht ausgeschlos- sen werden, dass sich eine andere Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag ergeben hätte, wenn die Wahlmängel nicht aufgetreten wären. IV. Gesamtbetrachtung In der Gesamtbetrachtung ist festzustellen, dass aufgrund – hier nur teilweise wiedergegebener – grundlegender verwaltungsorganisatorischer Missstände sowie verschiedener wahlorganisatorischer Mängel bei der Vorbereitung und Durchführung der Bundestagswahl in Berlin insbesondere in den genannten Wahlkreisen gravierende Wahlmängel aufgetreten sind. Aufgrund ihrer Schwere und Häu- fung sowie der unzureichenden Dokumentation von besonderen Vorfällen, die eine vollständige Sachverhaltsaufklärung in der für die Einlegung eines Einspruchs zur Verfügung stehenden Zeit un- möglich gemacht hat, halte ich eine Prüfung durch den Deutschen Bundestag für geboten, ob die Wahl in den genannten Wahlkreisen nach den wahlrechtlichen Vorschriften durchgeführt worden ist. Ferner ist bisher auch – nicht ansatzweise zu erkennen – wie künftig solche Fehler und organisatori- sche Mängel beseitigt werden sollen. Die Vorkommnisse in Berlin schaden dem Ansehen des deut- schen Wahlsystems in Deutschland und der Welt. Ferner beeinträchtigen sie die Legitimation der ge- wählten Volksvertreter. Schon alleine daraus gebietet sich eine Überprüfung und dringende Optimie- rung der Wahlorganisation seitens Berlins. Statistisches Bundesamt Deutschland

eti Der Bundeswahlleiter Seite 19 / 20 V. Schlussbemerkung Abschließend bleibt festzustellen, dass es der Landeswahlleiterin nicht möglich war, einen vollstän- digen Bericht zu erstellen, zu welchen Fehlern es am Wahltag in Berlin mit Blick auf die Bundestags- wahl in welchem Wahlbezirk im Einzelnen gekommen ist. Mindestens genauso schwer wiegt, dass nicht absehbar ist, wie künftig solche Fehler vermieden werden können. In der derzeitigen Struktur, Vorbereitung und Durchführung droht, dass dies kein Einzelfall bleiben wird. Die Gesamtbetrachtung aller einzelnen Fehler weckt bei den Wahlberechtigten und Dritten erhebli- che Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung und dem Ergebnis der Bundestagswahl in den genannten sechs Wahlkreisen. Ich bitte darum, den Wahleinspruch dem Wahlprüfungsausschuss zur weiteren Veranlassung weiter- zuleiten. Mit vorzüglicher Hochachtung Dr. Georg Thi,el Anlagen Bericht der Landeswahlleiterin für Berlin über Vorkommnisse am Wahltag in Berlin vom 11.10.2021 Auswertung der Landeswahlleiterin für Berlin zu Schlangenbildung vom 12.10.2021 Auswertung der Landeswahlleiterin für Berlin zu Schließzeiten vom 13.10.2021 Auswertung der Landeswahlleiterin für Berlin zu temporär geschlossenen Wahlräumen vom 19.10.2021 Auswertung der Landeswahlleiterin für Berlin zu Wahlkabinen vom 17.11.2021 Übersicht zur Anzahl der Wahlräume mit Schließzeiten nach 18:30 Uhr Übersicht zu unzumutbarer Wartezeit und Verzicht auf Stimmabgabe Abweichungen der Auswertung der Landeswahlleiterin für Berlin zu den Kreiswahlausschussnieder- schriften Statistisches Bundesamt Deutschland

Seite 20 / 20 Auszug Sitzberechnung bei Annahme eines abweichendem Zweitstimmenergebnisses Tabellen zur Mandatsrelevanz der Wahlfehler Datenzusammenführung und Auswertung der Wahlbezirksergebnisse für Berlin mit Angabe beson- derer Vorkommnisse (nur elektronisch) Statistisches Bundesamt Deutschland
