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Landtag von Baden-Württemberg                                                      Drucksache 17 /          1625 17. Wahlperiode                                                                    14.1.2022 Antrag der Abg. Silke Gericke und Daniela Evers u. a. GRÜNE und Stellungnahme des Ministeriums der Justiz und für Migration Straftat Schwarzfahren − Aufwand der baden-württember- gischen Justiz und des Strafvollzugs durch Verfahren und Haftstrafen in Folge von § 265a Strafgesetzbuch (StGB) Antrag Der Landtag wolle beschließen, die Landesregierung zu ersuchen zu berichten, 1.	wie sie die Einstufung des Erschleichens von Leistungen im ÖPNV nach § 265a StGB als Straftat einschätzt; 2.	welchen Sachstand die Initiative des Landes Thüringen zur Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit, Bundesratsdrucksache 424/19, im Bundesrat hat; 3.	wie viele Ermittlungs- bzw. Strafverfahren die baden-württembergischen Jus- tizbehörden wegen des Verdachts der Beförderungserschleichung im ÖPNV nach § 265a StGB im Zeitraum von 2011 bis dato beschäftigt haben; 4.	wie viele Menschen in Baden-Württemberg in Folge dieser Verfahren im Zeit- raum von 2011 bis dato in Untersuchungshaft waren, zu Haftstrafen verurteilt wurden und wie lange sie durchschnittlich inhaftiert waren; 5.	welche Kosten pro Tag und inhaftierter Person im Strafvollzug in Baden-Würt- temberg durchschnittlich entstehen; 6.	welche Gesamtsumme an Kosten und personellem Aufwand für Justiz und Strafvollzug durch Verfahren wegen des Erschleichens von Leistungen im ÖPNV nach § 265a StGB im Zeitraum von 2011 bis dato in Baden-Württem- berg angefallen sind; 7.	in welcher Gesamthöhe nicht bezahlte, erhöhte Beförderungsentgelte bei den Verkehrsbetrieben von 2011 bis dato in Baden-Württemberg angefallen sind; Eingegangen: 14.1.2022 / Ausgegeben: 22.2.2022                                                                 1 Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet        Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeich- abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente              net mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“.
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Landtag von Baden-Württemberg                                                           Drucksache 17 / 1625 8.	wie hoch von 2011 bis dato der Gesamtbetrag an Geldstrafen ist, die durch Er- satzfreiheitsstrafe in Haft abgegolten werden und wurden; 9. wie sie die konstruktive Wirkung einer Haftzeit für die Besserung der betroffe- nen Personen einschätzt und ob eine Haft möglicherweise sogar die Einbring- barkeit zivilrechtlicher Ersatzansprüche erschweren könnte. 14.1.2022 Gericke, Evers, Braun, Cataltepe, Hentschel, Häussler, Holmberg, Joukov, Katzenstein, Catherine Kern, Lede Abal, Marwein, Nüssle, Andrea Schwarz GRÜNE Begründung Das Erschleichen von Leistungen − umgangssprachlich Schwarzfahren − in öf- fentlichen Verkehrsmitteln wird, anders als andere Verkehrsverstöße ‒ wie bei- spielsweise Falschparken ‒ nicht als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat ge- ahndet (vgl. § 265a StGB). Die Strafverfolgung der Schwarzfahrenden ist mit einem erheblichen Ressourcen- aufwand verbunden. Darüber hinaus verschärft die Strafverfolgung soziale Pro- bleme und Ungleichheiten, da sie sich in vielen Fällen gegen sozial und gesell- schaftlich benachteiligte Personen richtet. Mitunter werden Leistungen erschli- chen, da sich Verkehrsteilnehmerinnen oder Verkehrsteilnehmer einen Fahrschein nicht leisten können. Dieses soziale Ungleichgewicht kann sich bei der Strafvoll- streckung fortsetzen, wenn die Schwarzfahrenden die Geldstrafen nicht bezahlen können und deshalb eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen. Obgleich Fahren ohne Fahrschein unsolidarisches Verhalten zulasten der Gemein- schaft ist, ist es ein Massendelikt mit einem im Einzelfall sehr geringen Scha- den, aber hohen Kosten bei der Strafverfolgung und -vollstreckung. Vor diesem Hintergrund scheint die Verhältnismäßigkeit der Einordnung des Tatbestands des „einfachen Schwarzfahrens“ – sofern nicht mit anderweitigen Straftaten wie Ur- kundenfälschung verbunden – im Strafgesetzbuch fragwürdig. Auch in der Bun- desregierung wird geprüft, ob das Strafrecht in diesem Aspekt u. a. zur Entlastung der Justiz modernisiert werden soll. Mit diesem Antrag soll aufgezeigt werden, welcher Aufwand durch Verfahren und Haftstrafen wegen des Erschleichens von Leistungen im öffentlichen Nahver- kehr für die baden-württembergischen Justiz und Strafvollzug entstehen. 2
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Landtag von Baden-Württemberg                                                          Drucksache 17 / 1625 Stellungnahme Mit Schreiben vom 10. Februar 2022 nimmt das Ministerium der Justiz und für Migration im Einvernehmen mit dem Ministerium für Verkehr zu dem Antrag wie folgt Stellung: Der Landtag wolle beschließen, die Landesregierung zu ersuchen zu berichten, 1.	wie sie die Einstufung des Erschleichens von Leistungen im ÖPNV nach § 265a StGB als Straftat einschätzt? Zu 1.: Das Erschleichen von Leistungen im öffentlichen Personenverkehr („Schwarzfah- ren“) ist als einer von vier Unterfällen des Erschleichens von Leistungen gemäß § 265a Strafgesetzbuch (StGB) strafbewehrt. Eine fahrlässige Begehung ist nicht strafbar, § 265a StGB setzt mindestens bedingt vorsätzliches Handeln voraus. Das Fallaufkommen in diesem Deliktsfeld ist in den vergangenen Jahren konstant hoch. Bürgerinnen und Bürger sowie die Verkehrsbetriebe haben die berechtigte Erwartung, dass der Staat ihre Rechtsgüter schützt. 2.	welchen Sachstand die Initiative des Landes Thüringen zur Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit, Bundesratsdrucksache 424/19, im Bundesrat hat; Zu 2.: Die Initiative Thüringens und Berlins wurde am 20. September 2019 im Plenum des Bundesrats vorgestellt und anschließend unter anderem dem federführenden Rechtsausschuss überwiesen. Dort erhielt er nicht die erforderliche Mehrheit. Der Rechtsausschuss empfahl dem Bundesrat mit Beschluss vom 25. September 2019, den Gesetzentwurf beim Deutschen Bundestag nicht einzubringen. 3.	wie viele Ermittlungs- bzw. Strafverfahren die baden-württembergischen Justiz- behörden wegen des Verdachts der Beförderungserschleichung im ÖPNV nach § 265a StGB im Zeitraum von 2011 bis dato beschäftigt haben; 4.	wie viele Menschen in Baden-Württemberg in Folge dieser Verfahren im Zeit- raum von 2011 bis dato in Untersuchungshaft waren, zu Haftstrafen verurteilt wurden und wie lange sie durchschnittlich inhaftiert waren; Zu 3. und 4.: Statistisch erfasst wird der Tatbestand des Erschleichens von Leistungen gem. § 265a StGB nur insgesamt, ohne dass dabei zwischen den einzelnen Tatmoda- litäten unterschieden würde. Auch bei Verurteilungen wegen Betruges und/oder Urkundenfälschung wird statistisch nicht danach unterschieden, ob die Tat bei- spielsweise im Zusammenhang mit einer Beförderungserschleichung im ÖPNV stand. Gleiches gilt im Hinblick auf die Haftdaten. Es kann daher lediglich die in der Strafverfolgungsstatistik Baden-Württemberg erfasste Zahl der im Land wegen § 265a StGB insgesamt abge- und verurteilten Personen mitgeteilt werden: 3
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Landtag von Baden-Württemberg                                                          Drucksache 17 / 1625 -DKU             $EJHXUWHLOWH         GDYRQ9HUXUWHLOWH                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Ausschließlich wegen Erschleichens von Leistungen gemäß § 265a StGB ver- büßten nach dem Ergebnis einer Stichtagserhebung (Stand: 21. Januar 2022) 20 Gefangene eine gerichtlich festgesetzte Freiheits- beziehungsweise Jugendstra- fe im Justizvollzug. Im Untersuchungshaftvollzug war kein Gefangener wegen des ausschließlichen Verdachts der Leistungserschleichung untergebracht. 5.	welche Kosten pro Tag und inhaftierter Person im Strafvollzug in Baden-Würt- temberg durchschnittlich entstehen; Zu 5.: Nach bundeseinheitlicher Berechnung wurden die Tageshaftkosten in Baden- Württemberg für das Jahr 2020 mit 130,38 Euro festgestellt. Hinzu kommen die Investitionsausgaben in sächliche Ausstattung mit 2,44 Euro und für bauliche Maßnahmen mit 8,31 Euro. Eine getrennte Berechnung nach Haftarten und Grün- den der Haft erfolgt nicht. 6.	welche Gesamtsumme an Kosten und personellem Aufwand für Justiz und Strafvollzug durch Verfahren wegen des Erschleichens von Leistungen im ÖPNV nach § 265a StGB im Zeitraum von 2011 bis dato in Baden-Württem- berg angefallen sind; Zu 6.: Da für die Ermittlungs- und Strafverfahren der Leistungserschleichung nach § 265a StGB nach den bundeseinheitlichen Geschäftsstatistiken (StA- und StP/ OWi-Statistik) keine statistischen Einzelmerkmale erhoben werden, stehen auch aus der Kosten- und Leistungsrechnung (KLR) keine Daten zur Berechnung der Gesamtsumme der Kosten und des personellen Aufwands für die Verfahren der Leistungserschleichung zur Verfügung. 7.	in welcher Gesamthöhe nicht bezahlte, erhöhte Beförderungsentgelte bei den Verkehrsbetrieben von 2011 bis dato in Baden-Württemberg angefallen sind; Zu 7.: Diese Daten liegen weder dem Ministerium für Verkehr noch dem Verband Deut- scher Verkehrsunternehmen vor. 4
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Landtag von Baden-Württemberg                                                            Drucksache 17 / 1625 8.	wie hoch von 2011 bis dato der Gesamtbetrag an Geldstrafen ist, die durch Er- satzfreiheitsstrafe in Haft abgegolten werden und wurden; Zu 8.: Hierzu liegen der Landesregierung keine Erkenntnisse vor, da zu Geldstrafen, die durch Ersatzfreiheitsstrafe in Haft abgegolten werden, in den Geschäftsstatistiken keine Einzelmerkmale erhoben werden. 9. wie sie die konstruktive Wirkung einer Haftzeit für die Besserung der betroffe- nen Personen einschätzt und ob eine Haft möglicherweise sogar die Einbring- barkeit zivilrechtlicher Ersatzansprüche erschweren könnte. Zu 9.: Mit Strafhaft infolge der Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe wegen Beförderungserschleichung müssen allenfalls sehr hartnäckige Wiederholungstä- ter rechnen. Nach § 47 Abs. 1 StGB sind kurze Freiheitsstrafen nur unter beson- deren Voraussetzungen zu verhängen, insbesondere wenn es zur Einwirkung auf den Täter unerlässlich ist. Einer Ersatzfreiheitsstrafe wiederum geht zunächst eine rechtskräftige Geldstrafe voraus. Diese berücksichtigt etwaige einschlägige Vorstrafen und auch die indi- viduellen finanziellen Möglichkeiten des Täters. Bei sehr niedrigem Einkommen sind in der Folge die Geldstrafen entsprechend niedrig. Die daran als ultima ratio anknüpfende Ersatzfreiheitsstrafe ist dabei ein unerlässliches Mittel, um den Voll- streckungsanspruch des Staates gegen zahlungsunwillige Verurteilte durchzuset- zen. Die Möglichkeiten, die Ersatzfreiheitsstrafe zu vermeiden oder eine Inhaf- tierung sofort zu beenden, sind dabei vielfältig. Das Gesetz ermöglicht beispiels- weise die Gewährung von Ratenzahlungen oder Umwandlung in gemeinnützige Arbeit („Schwitzen statt Sitzen“). Der Strafvollzug ist am gesetzlich vorgegebenen Vollzugsziel der Resozialisie- rung ausgerichtet. Die Schuldenregulierung ist dabei grundsätzlich ein wesent- licher Bestandteil der im Justizvollzug zu gewährenden sozialen Hilfe. Welche Problemlagen bei den einzelnen Strafgefangenen vorliegen und inwieweit diese im Rahmen der Haftzeit bearbeitet werden können, obliegt der jeweils individuell zu bestimmenden Vollzugsplanung. Strafhaft, Ersatzfreiheitsstrafe und Erzwingungshaft stehen mit der Durchsetzung zivilrechtlicher Ersatzansprüche ebenso wenig in einem voneinander abhängigen Zusammenhang wie eine Geldstrafe oder ein Bußgeld. Das eine ist die tat- und schuldangemessene Strafe für individuell begangenes, strafbewehrtes Unrecht. Das andere sind zivilrechtliche Konsequenzen aufgrund zugleich begangener ver- traglicher Pflichtverletzungen. Strafrechtliche Sanktionierung neben zivilrecht­ licher Vertragsstrafe sind Konsequenz dessen, dass ein Verhalten sowohl zivil- rechtliche als auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Gentges Ministerin der Justiz und für Migration 5
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