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Hauptteil Kapitel 2: Einleitung

An Lärm kann sich der Mensch unter Umständen psychisch gewöhnen, aber nicht biologisch
adaptieren. [u.a Richter 1969, 1971] (vgl. Anhang A, Kap. 5)

2.2 Lärm, Streß, Beanspruchung

Wie jeder andere Umwelteinfluß (physikalisch, chemisch, meteorologisch, sozial u.a.), der auf
den Menschen mit einer bestimmten Intensität einwirkt, so können auch akustische Ereignisse,
neben der spezifischen Reaktion (Wahrnehmung) auch unspezifische Reaktionen hervorrufen.
Diese äußern sich psychisch (im Erleben) u.a. als Anspannung, Aktivierung, erhöhte
Emotionalität und Vigilanz, gesteigerte Erregbarkeit, Gereiztheit, Aggressivität oder auch als
Depression und Lethargie. Biotisch (meßbar) drücken sie sich u.a. durch erhöhten Blutdruck,
beschleunigter Atem- und Herzfrequenz, durch gesteigerten Stoffwechsel, herabgesetzten
Hautwiderstand aus, sowie durch eine vermehrte Ausschüttung der Nebennierenhormone
Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol. Die Hormone des nervösgesteuerten Nebennierenmarks
haben eine Anstiegszeit von wenigen Sekunden bis zu einer Minute (Adrenalin) bzw.
7-12 Minuten (Noradrenalin). Das vom Hypothalamus und der Hypophyse hormonell
gesteuerte Kortisol hat eine Anstiegszeit von zirka einer Stunde.

Die Nebennierenmarkshormone halten die unspezifische Reaktion für kurze Zeit aufrecht, das
Nebennierenmarkhormon Kortisol bewirkt ihr längeres Bestehen.

Ziel der unspezifischen Reaktivität als Antwort auf Umwelteinflüsse ist es, Energiereserven
zu mobilisieren, um auf veränderte Anforderungen, Gefahren, Belastungen, Belästigungen,
Umweltbedingungen usw. im Interesse der Lebensexistenz reagieren zu können. Die
unspezifische Reaktion wird als Streß [Selye 1953, 1956] oder als Beanspruchung [Rohnerl
1972] bezeichnet.

Diese geht gewöhnlich mit einer Aktivierung einher.

Da die Regulation das funktionelle Grundprinzip des Lebens ist, definieren wir den Begriff
Streß unter einem regulationstheoretischem Aspekt:

Streß (Beanspruchung) ist die zeitweilige oder permanente Veränderung der
psychobiologischen Homöostase (Regulationsgleichgewicht des inneren
Funktionsmilieus).

Streß (Beanspruchung) ist die reaktive Körperfunktion; der Stressor oder die Belastung der
Einwirkungsfaktor. Streß und Beanspruchung betrachten (verwenden) wir als Synonyme. Der
Streß hat eine soziale, psychologische und biologische Komponente. Diese in Wechselwirkung
stehenden Komponenten können durch folgende Methoden erfaßt werden:

soziale Komponente: - Soziogramme
- Fragebogen über Lebensrhythmus
- umfassende Anamnese

psychologische Komponente: - durch psychodiagnostische Verfahren:
- Beschwerdefragebögen, Verhaltensfragebögen
- Streßfragebögen

- psychophysiologische Leistungstests

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biologische Komponente: - Biochemie:
- Katecholaminbestimmung im Urin

- Katecholaminbestimmung im Plasma
- ACTH-Bestimmung im Plasma

- Kortisolbestimmung im Plasma

- pH-Wert Messung

- arterielle pO,-, PCO,-Messung

- Physiologie

- Atemfrequenz

- Herzfrequenz

- Blutdruck

- Hauttemperatur

- EKG

- Messungen der elektrodermalen Aktivität

Entwicklungsgeschichtlich ist diese unspezifische Reaktion, der Streß, eine herausgebildete
Schutzfunktion. Sie dient der Sicherung der Leistungsfähigkeit, der Auseinandersetzung mit
Belastungen und mit vielfältigen Umwelteinflüssen, einschließlich der sozialen Belastungen.
Diese Form der Beanspruchung wird als Eustreß (eu = echt, real, gut), physiologischer oder
leistungsfördender Streß bezeichnet. Der Eusteß ist zeitweilig. Die kurzzeitige Überaktivierung
wird durch entsprechende Entspannung bzw. Erholung oder Ruhe wieder abgebaut.

I 1

Bissiress
a —— m

Ze a a ee Die
agesmüdigkeit j Schlafstörungen j

 
 

 

  
   

     
   

Eustress

     

 

Leistungsfäbigkeit
gute Selbstregulation
Fitness
erholsamer Schlaf

 
   
  
   
  
  
 
 

 
 
  
   
    
  
  
 

   
  
   
  
  
   
   

Leistungsminderung
Fehlleistungen
Gedächtnisschwäche

Relaxatlon Konzentrationsschwäche
Optimismus Immunschwäche

innere Uhr geht richtig Stress-Sensibllität
Kreativität

Aktivität

   
 

Regulations-

(+) Verbesserung der Fähigkeit störungen
im Umgang mit Stress RSS Er),
{#3 der Gesundheit Inadäquate Regulationskrankheit j

Lebensweise - Umweltfaktoren

 

Abb. 2.1: Beziehungen zwischen Eustreß und und Disstreß und die entsprechenden Charakteristiken
(Quelle: Balzer 1996)

Im Gegensatz zum Eustreß kann bei permanenter und intensiver Überaktivierung Disstreß (dis
= gestört, entartet) entstehen, vor allem dann, wenn keine Erholung erfolgt bzw. erfolgen kann.
In diesem Falle besteht physisch eine dauerhafte Anspannungs-, Erregungs- und
Vigilanzsteigerung und psychisch ein überaktiviertes Erleben. Biotisch laufen alle Prozesse auf
Hochtouren und erschöpfen mit der Zeit. Hierbei bleibt auch das Kortisol auf einem hohen
Blutspiegelniveau und schwächt auf diese Weise das Immunsystem, stört den Schlaf und
schränkt die Erholungsfähigkeit ein. Auf diese Weise wird der Streß, sofern er über lange Zeit
anhält, zu einem krankmachenden Faktor.

Negative Erlebnisse, Angst, Aversionen gegenüber Umwelteinflüssen, Aggressivität und die
Zerstörung der funktionellen Zeitstruktur bzw. der Zeitregulation (sogenannte innere Uhr)

 

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können ebenfalls zu einem Dauerstreß und somit zu einer Erhöhung des Kortisolspiegels bzw.
einer negativen Dauerbeanspruchung führen.

Nach einer repräsentativen Studie der ILO [Internationale Arbeitsorganisation der UNO 1993]
sind etwa zwei Drittel aller Krankheiten auf Disstreß zurückzuführen. Die Hauptursache des
Disstreß ist in der modernen Lebensweise der Non-Stop-Gesellschaft [Moore-Ede 1993] zu
sehen, die kaum noch Zeit zur Entspannung, Erholung und Ruhe zuläßt. Hierbei spielt der
Verkehrslärm keine unbedeutende Rolle.

2.3 Akustische Wahrnehmung in Beziehung zur Aktivierung

Wie bereits beschrieben, ist mit dem Wahrnehmungsprozeß eine unspezifische “Aktivierung”
des Organismus verbunden, um ihn auf mögliche außergewöhnliche Erfordernisse
vorzubereiten. Der Begriff der Aktivierung wurde 1957 von Duffy [Duffy 1957] eingeführt
und von Schönpflug [Schönpflug 1962] auch auf akustische Reize angewandt.

Wir verstehen heute unter dem Begriff Aktivierung eine komplexe Variable, auf die sich jeder
aktuelle, funktionelle Zustand eines psychophysiologischen Systems abbilden läßt.

In Anlehnung an die ”klassische” Aktivierungstheorie gehen wir davon aus, daß
Aktivierungsprozesse auf allen Ebenen des Steuerungs-Regulationssystems (zentrales
Nervensystem, ZNS; peripheres Nervensystem, PNS) gleichberechtigt und nebeneinander

verlaufen können.

externe Signale

  
  

Y
Bewuftes Erleben
Neokortex „‚ Feinjusfierung des vegelalven Nervansyslems anı

 

“ ‚aktuelle Umweltsituation und individuelle Autoregulation
f antizjpatorische Anpassung an Umwelt, Emotionen,

efferent

     
 
  

„/ Koordination und Integration von somal.‚veget.,endokr.
Ni i elementaren Vi isen
Ei Ion der segmental-spinalen en zu
- einheitlichen Funktionen
< segmental- spinale Reflexe
„Modulation des Impulsstromes von prä- nach
: U lionär
{ Autoregulation

 

 

interne Signale

Abb. 2.2: Regulationsebenen des vegetativen Nervensystems (Quelle: nach Jänig 1977, modifiziert nach
Balzer 1996)

Daraus leitet sich ab, daß sich ein bestimmter Aktivierungsprozeß in vegetativen Parametern
(z.B. Blutdruck, Herzfrequenz, Hautwiderstand), Verhaltensparametern
(z.B. Reaktionszeiten, Häufigkeit von Bewegungen), im Erleben (z.B. subjektive Aussagen,
Befinden), in ZNS-Parametern (z.B. EEG) und in Abhängigkeit chronobiologischer Kriterien
(z.B. biologische Rhythmen) widerspiegelt und durch sie beschrieben werden kann.

Das strukturelle Substrat für die Aktivierungsfunktion ist das Aszendierende Retikuläre
Aktivierungssystem (ARAS) [Morizzi 1949, Starzl 1951]. Das ARAS nimmt auch in der
Organisation des Schlaf-Wach-Zyklus eine führende Rolle ein [Koella 1988].

 

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Hanptisil
2.3.1 Grundlagen der Aktivierungstheorie

Die Aktivierungstheorie beruht auf der These, daß die Reizung eines Individiums zwei
unspezifischeWirkungen zeige:

a. verändere sie Verhaltensweisen oder löse diese aus. Damit besitzt sie eine
Steuerungsfunktion.
b. verursache sie einen Vorgang, in dessen Folge der Organismus mit Energie

versorgt wird, die er zur Ausführung von Handlungen benötige. In diesem
Sinn besitzt die Reizung eine Mobilisierungssfunktion.

Bezogen auf einen akustischen Reiz lassen sich diese Aussagen folgendermaßen interpretieren.
Durch ein Hörereignis erhält ein Individuum Informationen über seine Umwelt. Diese
Informationen ermöglichen eine Entscheidung darüber, welches Verhalten in der gegebenen
Situation angemessen ist.

Dieser Vorgang wird als Steuerung bezeichnet.

Die Steuerung reicht aber keinesfalls aus, um ein Verhalten (z.B. Flucht oder Kampf) zu real-

isieren. Dem Organismus muß vielmehr Energie zur Verfügung gestellt werden. Diese Energie .

wird unter dem Einfluß der Reizung humoral mobilisiert.

Unter dem Prozeß der Aktivierung wird demzufolge sowohl eine Änderung des Verhaltens als
auch eine physiologische Energiemobilisierung verstanden.

Der Aktivierungstheorie liegt ebenso wie dem Streßkonzept Selyes [Selye 1936] die
Unspezifitätsannahme zugrunde. Unabhängig von der Art des Reizes erfolgt eine immer
gleiche Reaktion des Organismus.

Bislang läßt sich die Aktivierung eines Individuums noch nicht direkt bestimmen, sondern muß
über Indikatoren erfaßt werden, die physiologisch meßbar sind und in enger Verbindung zur
Aktivierung stehen. Als Indikatoren bieten sich insbesondere die Parameter der
Energiemobilisierung an. Als typische Meßgrößen sind z.B. der Hautwiderstand, die
Streßhormone der Nebenniere (Kortisol, Adrenalin, Noradrenalin), die Pulsfrequenz oder der
Blutdruck zu nennen.

Die Aktivierung ist nicht nur von den akustischen Reizgrößen abhängig, sondern wird deutlich
durch subjektive Einflußgrößen moderiert.

Die Aktivierung ist ein physiko-psychophysiologischer Prozeß.

2.3.2 Schallereignis und Aktivierung

Wie bei der Wahrnehmung stellt sich auch bei der Aktivierung die Frage nach der Abhängigkeit
von den Reizgrößen. Es ist nicht verwunderlich, daß ein ähnlicher Zusammenhang zu
beobachten ist, wie er bei der Schallwahrnehmung (Hörereignis) besteht. Wie die
Wahrnehmungsgrößen hängt das Aktivierungsniveau von dem Schalldruckpegel, der Frequenz
(bzw. der Frequenzzusammensetzung) und der zeitlichen Struktur des Schallereignisses ab.

Die Abhängigkeit vom Schalldruckpegel läßt sich qualitativ angeben und ist in der folgenden
Abbildung dargestellt.

 

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Bei gleicher Frequenzzusammensetzung

—

Aktivierungsniveau

 

Schalldruckpegel Z———

Abb. 2.3: Qualitativer Verlauf des Aktivierungsniveaus in Abhängigkeit vom Schalldruckpegel für
akustische Reize der gleichen Frequenzzusammensetzung (Quelle: Maschke 1995)

Die Höhe des Aktivierungsniveaus steigt mit dem Schalldruckpegel und strebt in einen
»Sättigungsbereich”. Der Kurvenverlauf entspricht dem einer einfachen logistischen F unktion.
Wird der asymptotische Endwert einer logistischen Funktion als ”Kapazität des Systems” in-
terpretiert, so gibt der Kurvenverlauf die jeweils erreichte Ausnutzung dieser Kapazität
wieder. Die Differenz zwischen der ”erreichten Ausnutzung” und der Endkapazität kann als
"verfügbare Kapazität” betrachtet werden. Eine logistische Funktion entsteht, sofern für die
Steigung der abhängigen Variable eine lineare Abhängigkeit von der "verfügbaren Kapazität”
besteht. Die Zunahme der Aktivierung ist demzufolge sowohl von der Reizdifferenz, als auch
von der jeweils noch verfügbaren Aktivierungskapazität abhängig.

Über der Frequenz ist ein leicht U-förmiger Verlauf des Aktivierungsniveaus zu verzeichnen.
Bei gleichem Lautstärkepegel ist das Aktivierungsniveau bei tiefen und insbesondere bei hohen
Tönen gegenüber Tönen mit mittleren Frequenzen erhöht. Daraus leitet sich ab, daß für
Warnsignale das Maximum der Schallenergie bei höheren Frequenzen liegt. Der qualitative
Zusammenhang ist in der Abbildung 2.4 dargestellt.

>

Bei gleichem Lautstärkepegel

Aktivierungsniveau

tiefe Töne hohe Töne
Frequenz .—_———

 

Abb. 2.4: Qualitativer Verlauf des Aktivierungsniveaus in Abhängigkeit von der Frequenz für Töne
mit gleichem Lautstärkepegel (Quelle: Schönpflug 1962)

Zusätzlich ist eine Abhängigkeit von der zeitlichen Struktur des Schalls zu beobachten.
Werden Personen z.B. mit verschiedenen Arten von Musik (Schlager, Operettenmusik, Jazz,
klassische Musik) bei gleichem Mittelungspegel beschallt, so zeigt sich, daß bei Jazzmusik die
stärkste Aktivierung beobachtet werden kann. Die Jazzmusik verdankt diese Spitzenstellung
dem zeitlichen Verlauf der Reizung.
N

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Diese Beobachtung basiert auf folgender Grundregel:

Das Aktivierungsniveau steigt um so höher, je häufiger sich der Schalldruckpegel ändert, je
größer die Anderungsgeschwindigkeit ist und je stärker sich die Frequenzzusammensetzung
mit der Zeit ändert.

Aber auch der Informationsgehalt des Schallereignisses darf nicht außer Acht gelassen werden.
Nahezu jede Wahrnehmung besitzt einen Informationsgehalt, der in den Steuerungs- und
Aktivierungsprozeß einbezogen wird.

Auch hier kann eine Grundregel formuliert werden:

Das Aktivierungsniveau nimmt grundsätzlich mit dem Informationsgehalt des akustischen
Reizes zu.

Je höher die Anforderungen an den Organismus sind, die aufgrund des Schallereignisses vom
Individuum erwartet werden, um so höher ist auch die Aktivierung.

2.3.3 Aktivierung und Leistung

Leistung ist ein Ausdruck von Verlaufs- und Ergebnisbesonderheiten materieller und geistiger
Tätigkeitsprozesse. Die Leistung steht in enger Beziehung zur Aktivierung aber auch zur
Motivation und zu Emotionen. Die Auswirkung einer Aktivierung läßt sich besonders gut in
Zusammenhang mit der Leistung diskutieren. Die Abhängigkeit der Leistung von der
Motivation und von den Emotionen wird im folgenden Abschnitt nicht näher betrachtet.

Nach den bisherigen Ausführungen liegt die folgende Erwartung nahe:

Je höher die Aktivierung ist, d.h. je mehr Energie dem Körper zur Verfügung steht, desto mehr
kann geleistet werden.

Bei dieser im Grundsatz richtigen These muß beachtet werden, daß die mobilisierte Energie
ungerichtet ist und zum zielgerichteten Einsatz einer Steuerung bedarf. Je mehr Energie zur
Verfügung steht, desto schwieriger ist es, sie zielgerichtet einzusetzen, d.h. zu kontrollieren.
Mit steigender Aktivierung treten also zwei Tendenzen auf, welche die Leistung gegenläufig
beeinflussen:

Die mobilisierte Energie kommt einerseits der Schnelligkeit und Nachhaltigkeit einer Leistung
zugute, andererseits stellt sie erhöhte Anforderungen an die Steuerung.

Ein Beispiel:

Ein Sportler sei noch wenig aktiviert. Er wird in diesem Zustand weniger leisten als im
Zustand höherer Aktivierung. Er wird sensorisch und motorisch relativ langsam reagieren.
Erreicht er einen Zustand höherer Aktivierung, z.B. durch die Anfeuerungsrufe der Zuschauer,
so wird er schneller reagieren, mit einer Geschwindigkeit, die seiner Steuerung noch keine
Schwierigkeiten bereitet. Ist der Sportler aber zu hoch aktiviert, wir können diesen Zustand
auch als erregt bezeichnen, so wird er zwar eine besonders schnelle Reaktion zeigen, seine
Handlungen werden aber im Detail zu unkontrolliert sein, so daß seine Leistung gegenüber dem
Zustand mittlerer Aktivierung wieder abfällt.

Auf diese Weise erhalten wir den vielfach publizierten Zusammenhang zwischen Leistung und
Aktivierung (Streß), wie er in der folgenden Abbildung verzeichnet ist.

 

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Leistung

Aktivierungsniveau ———

Abb. 2.5: Qualitativer Zusammenhang zwischen Leistung und Aktivierung (Quelle: Schönpflug 1962)

Der qualitative Verlauf der Leistung in Abhängigkeit vom Aktivierungsniveau kann als
Zusammenspiel einer leistungsfördernden Komponente und einer leistungsmindernden
Komponente der Aktivierung interpretiert werden. Die leistungsfördernde Komponente
beruht auf der zunehmenden Energiemobilisierung, die leistungsmindernde Komponente
beinhaltet die Steuerungsschwierigkeiten, die sich bei der Kontrolle der mobilisierten Energie

ergeben.

—>

Förderung

leistungsmindemde Komp

Minderung

 

Aktivierungsniveau ——m

Abb. 2.6: Qualitative Darstellung der Leistungskomponenten in Abhängigkeit vom Aktivierungsniveau

Das Aktivierungsniveau kann anhand der erbrachten Leistung in drei Bereiche eingeteilt wer-
den, die mit den Begriffen "geringe Aktivierung”, ”gute Aktivierung” und ”Überaktivierung”
charakterisiert werden können.

 

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—>

Leistung

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Aktivierungsniveau — >

Abb. 2.7: Qualitative Darstellung der Aktivierungsbereiche „geringe Aktivierung“, „gute Aktivierung“
und „Überaktivierung“

Im Bereich der ”geringen Aktivierung” steigt die Leistung monoton mit zunehmender
Aktivierung. Der Tätigkeit kommt die Energiemobilisierung zugute. Die Steuerung bereitet
keine Schwierigkeiten.

Im Bereich der ”guten Aktivierung” entspricht das erreichte Aktivierungniveau den
Anforderungen der Tätigkeit. Es ist zu beachten, daß der Leistung im allgemeinen durch den
Arbeitsablauf Grenzen gesetzt sind. Die Aktivierungsunterschiede in diesem Bereich bleiben
daher ohne Auswirkung, da nicht schneller gearbeitet werden kann als es der Arbeitsablauf
zuläßt.

Im Bereich der ”Überaktivierung’ nimmt die Leistung aufgrund erhöhter
Steuerungsanforderung mit zunehmender Aktivierung deutlich ab. Die Arbeitsschritte werden
zunehmend unkontrolliert und überhastet.

2.3.4 Erwünschte und unerwünschte Aktivierung

Es liegt nahe, daß es eine Aufgabe von Richtwerten sein sollte, die jeweilige Schallexposition
so zu gestalten, daß sich das Aktivierungsniveau der Hörer mehrheitlich im Bereich der ”guten
Aktivierung” befindet und gleichzeitig positive Emotionen erzeugt werden.

Im Bereich der Überaktivierung, in dem die leistungsmindernde Steuerungskomponente
überwiegt, werden negative Emotionen hervorgerufen und die Wirkung des Schalls wird zur
Lärmwirkung.

Bei der Formulierung von Richtwerten, muß die qualitative Aktivierungs-Leistungsbeziehung
differenzierter betrachtet werden. Eine wünschenswerte quantitative Angabe gestaltet sich
jedoch außerordentlich schwierig, da die optimale Aktivierung bei verschiedenen Personen und
verschiedenen Tätigkeiten mit unterschiedlichen Aktivierungsniveaus verbunden ist. (z.B.
[Sust 1989])

Das Stempeln von Briefmarken verlangt weniger Steuerung als das Führen eines
Kraftfahrzeuges. Im ersten Fall wird eine Störung der Steuerung erst bei höherer Aktivierung
auftreten als im zweiten Fall.

 

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—io

schwierigere Aufgabe leichtere Aufgabe

Leistung

 

Aktivierungsniveau —>

Abb. 2.8: Qualitative Abhängigkeit der Leistung vom Aktivierungsniveau bei unterschiedlich schwierigen
Aufgaben (Quelle: Schönpflug 1964)

Es kann folgender Grundsatz festgehalten werden:

Je differenzierter, bzw. schwieriger eine Tätigkeit ist, desto niedriger liegt der
Bereich optimaler Aktivierung.

An dieser Stelle sollen die bisherigen Ausführungen zur Aktivierung zusammengefaßt werden.

. Durch ein Schallereignis kann das vorherrschende Aktivierungsniveau erhöht werden und
damit jene Zustände hervorgerufen werden, die mit guter Aktivierung bzw. Überaktivierung
bezeichnet wurden. Welches Ausmaß der Aktivierung im Einzelfall zustande kommt, hängt
nicht nur vom Schallereignis ab, sondern ebenfalls vom Aktivierungsniveau, welches ohne
Einfluß der Reizung bereits vorhanden war. Für die resultierende Leistung muß ferner die
Tätigkeit bzw. die tätigkeitsstrukturelle Anforderung berücksichtigt werden. (z.B. [Schönpflug
1979, Battmann 1986]) Deshalb kann das gleiche Schallereignis dem einen zur optimalen
Leistungsbereitschaft verhelfen, den anderen in einen Zustand allzu hoher Aktiviertheit
versetzen.

2.3.5 Unerwünschte Aktivierung und Regulation

Was geschieht, wenn eine Person bemerkt, daß ihr Aktivierungsniveau der momentanen
Tätigkeit nicht angemessen ist?

Die Antwort läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Sobald das Aktivierungsniveau die optimale Höhe zu überschreiten droht, versucht das
Individuum gegenzuregeln.

Regulationstheoretisch bedeutet dies, daß in der Regulation eine Verkürzung der
Periodenlängen(vgl. Anhang A, Kap. 2) ausgelöst wird, um mehr Energie bereitzustellen
[Hecht 1993].

Dieser Regelungsprozeß kann eine Erniedrigung des Aktivierungsniveaus bewirken oder auch
eine qualitativ höhere Stufe der Steuerung hervorrufen. In beiden Fällen muß der Organismus
eine zusätzliche Belastung bewältigen, die nur kurzfristig erbracht werden kann und ihren
Tribut” fordert. Der Regulierungsfähigkeit des Organismus sind Grenzen gesetzt: Es gibt ho-
he Pegelbereiche, in denen eine Gegenregulation nicht mehr möglich ist.

Zusätzlich ist zu beachten, daß die Aktivierung auch die Tätigkeit beeinflußt. So hat sich
schon manch einer des nachts entschlossen, einen Brief zu schreiben, weil Lärm ihn am
Schlafen hinderte. Ebenso kennt jeder die Situation, eine geistige Tätigkeit abzubrechen, weil

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Lärm das Aktivierungsniveau derart erhöht hat, daß eine sinnvolle geistige Tätigkeit nicht mehr
möglich ist.

Auch in diesem Fall gilt wieder, daß es nicht nur von den physikalischen Komponenten des
Schallereignisses abhängt, ob eine Aktivierung unerwünscht ist, sondern u.a. von den Plänen,
den Zielen und der Regulationsfähigkeit der schallexponierten Person.

2.4 Betrachtung zur Beziehung zwischen Streß und Aktivierung

Betrachtet man die beschriebenen Modelle der Streßreaktion und der Aktivierung unter einem
ganzheitlichen (biopsychosoziale Einheit des Menschen) und regulationstheoretischen
Aspekt, dann sind große Ähnlichkeiten zu erkennen:

Aktivierung
+

unspezifische Reaktion

Erhöhung der Vigilanz, Aufmerksamkeit usw.
Stimulierung der Betawellen im EEG

Störung des Schlafs
Leistungs-Erregungs-Beziehung

Beziehungen zu den Emotionen

Bereitstellung von biologischen
Energiestoffen im Überschuß

 

Tab. 2.1: Beziehung zwischen Streß und Aktivierung

Unterschiede bestehen lediglich darin, daß beim Streß (hier ist nicht der umgangssprachliche
Streßbegriff gemeint) die hypothalamischen-hypophysären-Nebennieren-Regelkreise und bei
der Aktivierung der ARAS-Regelkreis in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden.

Beide Funktionen sind faktisch zwei Seiten “derselben Medaille”, d.h. zwei Regelkreissysteme
eines ganzheitlichen offenen Regulationssystems, die der Gewährleistung der Adaptation eines
Individuums an veränderte Umfeld- oder Umweltbedingungen bzw. an Anforderungen dienen.
Dabei sind beide Regelkreissysteme funktionell miteinander eng verwoben. Dieses wird allein
schon durch den Fakt bestätigt, daß das Aktivierungsniveau und die Intensität der Emotionen
gewöhnlich straff miteinander korrelieren [Ax 1953, Schachter 1971].

Unter einem regulationstheoretischen Ansatz lassen sich beide Modelle zusammenführen:

- Unter Eustreß ist ein Regulationszustand für eine begrenzte Zeit zu verstehen, dessen
dominierende Funktion die Energiemobilisierung ist.

- Die dominierende Funktion der Aktivierung ist die Steuerung, welche die notwendige
Voraussetzung schafft, um einen Regulationszustand zu erreichen und entsprechend der
Anforderung relativ stabil zu halten.

Beide Funktionen bedingen sich gegenseitig. Die bisherige konträre Gegenüberstellung dieser

Funktionssysteme ist lediglich durch eine unterschiedliche Position der Betrachtung bedingt.

Der Begriff Streß hat seinen Ursprung in einem biologischen Konzept; der Begriff Aktivierung
entstand im Kreis der Psychologie. Beide Regelkreissysteme sind für die Bewertung von

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