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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Lärmmedizinisches Gutachten Flughafen Hamburg“
Anhang A Kapitel 1: Stresskonzepte Diese vielfältigen Streßkonzepte haben teilweise zur Klärung, teilweise aber auch zur Verwirrung bezüglich des Streßbegriffs beigetragen. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß fachspezifische Standpunkte bei der Aufstellung der Konzepte vordergründig waren. Wir sind der Auffassung: Um Streßzustände erfassen und bewerten zu können, ist es notwendig, den Menschen in seiner bio-psycho-sozialen Einheit zu betrachten. soziale Komponente Pe si psychologische 4 ——— biologische Komponente Komponente Abb. 1.3: Schema der Bio-psycho-sozialen Einheit des Menschen Zum besseren Verständnis der Streßproblematik werden nachfolgend die persönlichkeits- psychologischen [Lazarus 1957, 1962, 1964] und psychosozialen [Levi 1967, 1974; Nitsch 1981] Konzepte ausführlicher dargestellt. 1.2.1 Das kognitionspsychologische Streßkonzept von Lazarus Die psychologische Streßforschung untersucht die Gesetzmäßigkeiten der psychischen Streßgenese. Sie verfolgt dabei das Ziel, Möglichkeiten zur psychologischen Streßkontrolle zu eröffnen. Lazarus vertritt die Auffassung, daß der Mensch den Umweltreizen nicht schlechthin passiv ausgeliefert ist, sondern diese unterliegen einer subjektiven Wahrnehmung und Bewertung (appraisal), also kognitiven Vermittlungsprozessen und bilden somit die entscheidende Grundlage für die Streßentstehung. Das Fehlen konkreter Streßreize kann entsprechende Reaktionen in Gang setzen, indem z.B. eine lediglich angekündigte mündliche Prüfung gedankliche Vorstellungen hervorrufen kann, die mit einem möglichen Nichtbestehen verbunden sind. Dieser antizipatorische Streß kann je nach Bewertung der zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen unterschiedlich Verhaltensweisen auslösen. Eine zu erwartende mündliche Prüfung löst mit Sicherheit bei dem zu Prüfenden nach Terminbekanntgabe negative Emotionen aus, und es erfolgt eine primäre Bewertung des zu erwartenden Ereignis. Das Ergebnis dieses "primary appraisal", kann als Bedrohung antizipiert werden. Nach Überprüfung der vorhandenen Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten, im Sinne der sekundären Bewertung ("coping resources and options"), kann, wenn diese positiv ausfällt, eine Neubewertung ("reappraisal") durchgeführt werden und die ursprünglich erlebte Bedrohung gemildert oder gänzlich beseitigt sein. Die Analyse anfordernder Situationen muß in der Bilanz nicht positiv sein. Fehlende erlernte Bewältigungsmuster führen eventuell zur Resignation und Vermeidung von Anstrengungsversuchen. Sind Personen von ihren Bewältigungsfähigkeiten überzeugt, so ist ihre Betrachtungsweise hinsichtlich der Anforderungssituation von herausforderndem Charakter. Es kann festgestellt werden, daß objektiv gleiche Reize zu interindividuell unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen führen. Die dann erlebte Streßreaktion ist unterschiedlich, sie muß es auch sein, da die individuelle 5 von 69
Anhang A Kapitel 1: Stresskonzepte Bewertung den Grad der erlebten Emotion auslöst. Im Gegensatz zur biologischen Unspezifitätshypothese ist eine stereotype Streßreaktion auf unterschiedliche Stressoren im psychologischen Zusammenhang nicht zu erwarten. Die erlernten subjektiven Bewertungsprozesse können den Streßzustand und die Streßfolgen ständig ändern. Durch diesen dynamischen Prozeß besteht auch die Möglichkeit, daß die Streßfolgen zu neuen Steßreizen werden. 1.2.2 Das sozialpsychologisch-soziologische Streßkonzept Nach Levi [Levi 1967, 1974] existiert eine Wechselwirkung zwischen den psychobiologischen und den psychologischen Eigenschaften des Individuums, die das Wesen und die Art der Reaktion auf Stimuli bestimmen. Levi geht davon aus, daß psychosoziale Stimuli von sozialen Interaktionen sowie von zwischenmenschlichen Beziehungen herrühren und imstande sind, emotionale Reaktionen hervorzurufen. Die Reaktionsweise wird teils genetisch und teils durch die individuellen frühkindlichen Erfahrungen bestimmt. Ungünstige sozial-umweltbedingte Faktoren einerseits und mangelnde intrapsychische Verarbeitungsfähigkeit dieser andererseits können zur Auslösung somatischer Krankheiten führen oder deren Verlauf negativ beeinflussen. Innere oder äußere psychische oder somatische Faktoren sind dazu in der Lage, den zur Krankheit führenden Prozeß zu beschleunigen oder zu verzögern. Levi bezeichnet diese als "interagierende Variablen". Nach Nitsch [Nitsch 1981] wird sozialer Streß durch gesellschaftlich vorgeformte Einflüsse ausgelöst und die jeweilige Gesellschaft, die den Streß ihrer Mitglieder produziert, ist dafür grundverantwortlich. Die individuelle Streßreaktion hängt nicht nur von der persönlichen Bewertung der auslösenden Stimuli ab, sondern sie wird in Wirklichkeit sozial vermittelt. Der Mensch als physio-psycho-soziales Wesen ist integriert in einen sozialen Lernprozeß, der während des Lebens ständig anhält und sich in qualitativer und quantitativer Hinsicht unabänderlich wandelt. Die in dieser Gesellschaft existierenden Prinzipien, Werte, Normen und sittlichen Anschauungen bestimmen die Verhaltensqualität der Menschen zueinander. In diesem Zusammenhang ist nicht alleinentscheidend, was objektiv bedrohlich ist, sondern was nach gängiger Anschauung dafür gehalten wird. Wird innerhalb einer Schulklasse bekannt, daß die Prüfungsanforderungen in dem abzuschließenden Fach zu schwer und kaum erfüllbar sind, kann die von einzelnen Schülern als bedrohlich antizipierte Prüfungssituation umbewertet werden. Erfolgt die Einflußnahme durch andere im gleichen sozialen Kontext stehende Personen in einer die Selbstfindung schädigenden Art und Weise, ist bei der betroffenen Person mit einem Verlust der sozialen Kompetenz und Identität zu rechnen. Soziale Interaktionen sind nicht generell nur streßauslösend, sie besitzen auch die Fähigkeit, als Streßmoderatoren zu wirken. Nach Nitsch [Nitsch 1981] beruhen solche streßreduzierenden Effekte sozialer Beziehungen auf folgenden Faktoren: - instrumentelle Unterstützung - emotionale Unterstützung - Streßrelativierung durch sozialen Vergleich Die Art der bestehenden sozialen Beziehung bestimmt folglich das Sozialverhalten unter Streß. a nn 6 von 69
Anhang A Kapitel 1: Stresskonzepte 1.3 Streßdefinitionen unter regelungstheoretischem Aspekt Basierend auf den vorgestellten Streßkonzepten, unter Berücksichtigung der Betrachtung des Menschen als einer biopsychosozialen Einheit, unter Bezugnahme verschiedener regulationstheoretischer Auffassungen [Virchow 1868, Anochin 1935, von Uexküll 1936, Wiener 1948, von Holst 1950] und unter Einbeziehung des Aspektes, daß Belastungssituationen Regulationsveränderungen hervorrufen, formulierten Balzer und Hecht [Balzer 1989] ihre Streßdefinition. Danach ist Streß "Eine zeitwelige oder permanente Veränderung der individuellen psychophysiologischen Homöostase. Streß stellt eine Körperfunktion dar, in die Prozesse aller Regulationsebenen einbezogen werden können, molekulare, zelluläre, organsystemische und ganzeitliche". Als Stressor wird der streßauslösende Stimulus bezeichnet, der sowohl dem exogenen als auch dem endogenen Milieu entstammen kann. Diese Definition zeigt, daß zwischen zustands- und reaktionsbezogenen Definitionen des Streßgeschehens keine Trennung vorgenommen werden kann. 1.3.1 Eustreß und Disstreß Bereits Selye stellte fest, daß sowohl durch schädliche als auch durch angenehm erlebte Ereignisse die typischen Streßreaktionen ausgelöst werden. Er unterscheidet zwei Arten von Streßwirkungen, den Eustreß (vom griechischen eu = echt oder gut) und den Disstreß (vom (=) lateinischen dis = gestört, entartet, Unordnung). | 5 Eustress Bigstress —a Leistungsfähigkeit gute Selbstregulation Leistungsminderung Fehlleistungen Fitness erbaieamne AHA Gedächtnisschwäche Relaxatlon Konzentrationsschwäche Optimismus Immunschwäche innere Uhr geht richtig Stress-Sensibilität Kreativität Aktivität Regulations- (+) Verbesserung der Fählgkeit störungen im Umgang mit Stress en mm (=) der Gesundheit inadäquate Regulationskrankheit ) Lebensweise - Umweltfaktoren Abb. 1.4: Charakteristik von Eustreß und Disstreß (Quelle: Balzer 1996) In Abhängigkeit von den jeweils vorliegenden Bedingungen ist Streß mit erwünschten oder unerwünschten Folgen verbunden. [Selye 1974] Balzer und Hecht [Balzer 1989] unterscheiden ebenfalls hinsichtlich der Wirkung auf das Individuum zwischen einer adaptiven Form des Eustreß und einer maladaptiven Form des Distresses. Um Leistungen zu vollbringen, ist ein bestimmtes Maß an psychischer Anstrengung notwendig, verbunden mit einem mittleren Aktivierungsniveau des Nervensystems. Dieser Zustand, der "Eustreß", fördert die Gesundheit, indem er die Leistungsmotivation und Anpassungsfähigkeit des Organismus erhöht. 7 von 69
Anhang A Kapitel 1: Stresskonzepte Die Beziehungen, die zwischen Streß und Leistung bestehen, bringt das von Hecht und Balzer modifizierte Yerkes-Dondsonsche-Gestz zum Ausdruck. (Abb. 1.5) [Yerkes 1908] hohe ! ' | geringe Leistung 1 Leistungsfähigkeit | Leistungsabfall Disstross Eustress Disstross Selbst- beherrschung N Stress- beherrschung Untererregung Übererregung DAUERBELASTUNG Willensschwäche , Willenskraft i Unbehersschtheit Motivationsdefizit ! Motivation Konflikt Antriebsschwäche | Aktivität ı Angst/Panik ‘ ' Abb. 1.5: Beziehung zwischen Streß und Leistung Es besagt, daß eine bestimmte Erregung (Aktivierung) vorhanden sein muß, um eine hohe Leistung zu erzielen. Der Kurvengipfel kennzeichnet den leistungsfördernden Eustreß. Leistungsminderung tritt entweder bei Untererreung z.B. durch Motivationsdefizit oder bei Übererregung z.B. bei Reizüberflutung auf. Dieser Zustand, der Disstreß, kann bei längerem Andauern ohne ausreichende psychische Relaxationsphasen zu krankhaften psychosomatischen Reaktionen führen. So gilt psychosozialer Disstreß in der medizinischen Praxis als Ursache vieler vegetativer Störungen wie Schlafstörungen, psycho-vegetativer Kopfschmerzen, Herzrhythmus- und Kreislaufstörungen, Störungen im Magen-Darm-Trakt. [ILO 1995] Gemäß der gegebenen Definition ist Lärm als ein Stressor zu deklarieren. Belege dafür werden in nachfolgenden Abschnitten gebracht. 1.3.2 Die Operationalisierung der Lärmstreßreaktion Die Operationalisierung der Lärmstreßreaktion geht folgendermaßen vor sich: Erreicht ein Geräusch das menschliche Ohr, wird es genau dann zum adäquaten Reiz, wenn das Spektrum des Geräusches nach Frequenz und Intensität hörbare Werte aufweist. Die durch adäquate Schallreize ausgelösten Nervenimpulse gelangen über die Hörnerven zur Hörrinde und zur Formatio reticularis. Lärm kann den Körper so zu einer "Alarmreaktion" veranlassen, bei der einerseits psychische und Muskel-Anspannungen, erhöhte Aufmerksamkeit und Vigilanz durch Aktivierung ausgelöst und andererseits das biologische Regelsystem der Streßreaktion, vor allem das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenmark-und-rinden-System stimuliert wird. Der Hypothalamus beeinflußt das endokrine System einerseits über die Hypophyse (Freisetzung von Kortisol), andererseits auf neuralem Wege über den Sympathikus (Freisetzung von Katecholaminen). So sind zwei "Regelkreise" zu beschreiben, die bei der Untersuchung von Streßreaktionen besondere Aufmerksamkeit verdienen. 8 von 69
Anhang A Kapitel 1: Stresskonzepte —— 777777700000 Aapıtel I: viresskonzepte a) Der Hypothalmus - Hyphophysen - Nebennierenrinden - Regelkreis Die hormonelle Streßreaktion beginnt mit der Produktion von sogenannten Releasing factors im Hypothalmus, die zur Adenohypophyse (dem Hypophysenvorderlappen) transportiert werden, wo sie die Hormonbildungszellen stimulieren. Neben anderen wird hier das ACTH (adrenocorticotropes Hormon) gebildet und ausgeschüttet. Dieses Hormon wiederum löst eine Kette von Reaktionen aus, die eine Streßreaktion kennzeichnen, u.a. wird dabei die Funktion der Nebennierenrinde aktiviert. Die Nebennierenrinde produziert ihrerseits verstärkt Hormone, die Glukokortikoide, deren wichtigstes in diesem Zusammenhang das Kortisol ist. Diese Glukokortikoide wirken auf verschiedene Organe ein, zusätzlich beeinflussen sie Hypothalmus und Adenohypophyse im Sinne der beschriebenen negativen Rückkopplung. Durch ACTH können auch Endorphine freigesetzt werden. b) Der Hypothalmus - Nebennierenmark - Regelkreis Das zentrale endokrine Organ dieses Regelkreises ist das Nebennierenmark. Dieses wird durch den Sympathikus aktiviert und produziert die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin, die meist sofort ins Blut freigesetzt werden. Die Katecholamine ermöglichen beispielsweise eine flexible Reaktion des Organismus auf emotionale Streßsituationen, wie Ärger, Angst oder Freude, und wirken insbesondere auf das Herz-Kreislauf-System, die Atmung, die Darmtätigkeit, den Stoffwechsel, das Pupillenspiel und das zentrale Nervensystem (ZNS) ein, wobei letzteres besonders durch Adrenalin beeinflußt wird. Da die Glucokortikoide und Katecholamine sowie andere Anteile des humoral-hormonellen Systems bei Streß im Überschuß ins Blut ausgeschüttet werden, erfolgt zur Wiederherstellung der Homöostase die Ausscheidung dieser Stoffe über den Urin. Die primäre Operationalisierung einer Lärmstreßreaktion ist demzufolge über die Ausscheidungsmengen der Katecholamine bzw. des Kortisols im Sammelurin nachweisbar, und die Stärke der Streßreaktion kann aus deren Konzentrationen abgelesen werden. Die Änderung von vegetativen Reaktionen, z.B. der peripheren Durchblutung und des Stoffwechsels stellen in diesem Modell Folgeerscheinungen der Streßreaktion dar und können als sekundäre Operationalisierung der Streßreaktion betrachtet werden. Sowohl bei primärer wie sekundärer Operationalisierung ist zu beachten, daß die Streßreaktion eine reizunspezifische Reaktion darstellt. Die Methodik zur Untersuchung von Lärm-Streß- Reaktionen ist so auszulegen, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen appliziertem Reiz und nachgewiesener Streßreaktion unter Berücksichtigung der dabei ablaufenden vermaschten Regelkreise der Komplexität bzw. der Ganzheit belegbar ist. N 9 von 69
2 Akustische Wahrnehmung in Beziehung zur Aktivierung Die akustische Wahrnehmung des Menschen vermittelt ein hörbares Schallereignis im wesent- lichen durch Lautstärke, Tonhöhe, Klangfarbe und Zeitstruktur. Das Schallereignis wird durch die Wahrnehmung bewußt erlebt, wodurch die Orientierung in Raum und Zeit (Entfernung, Bewegung, Geschwindigkeit) und somit eine Warnung vor Gefahren sowie eine Informationsvermittlung ermöglicht wird. Die akustische Wahrnehmung dient darüber hinaus der Verständigung durch Sprache zum Zweck der interpersonellen Kommunikation sowie dem Musik- und Naturerleben. Jede Einwirkung eines akustischen Reizes ist ein physiko-psychophysiologischer Prozeß, in dessen Folge eine Vielzahl von Regelkreisen des Organismus in Gang gesetzt werden, die das bewußte Wahrnehmen gewährleisten und die eine Aktivierung, Emotionen, Denk-, Lern- und Gedächtnisprozesse auslösen. Mit dem Wahrnehmungsprozeß ist eine unspezifische Aktivierung des Organismus verbunden, um ihn auf mögliche außergewöhnliche Erfordernisse vorzubereiten. Unter dem Begriff Aktivierung verstehen wir eine komplexe Variable, auf die sich jeder ak- tuelle, funktionelle Zustand eines psychophysiologischen Systems abbilden läßt. Der Begriff der Aktivierung wurde 1957 von Duffy [Duffy 1957] eingeführt und von Schönpflug [Schönpflug 1962] auf akustische Reize angewandt. In Anlehnung an die ”klassische” Aktivierungstheorie wird davon ausgegangen, daß Aktivierungsprozesse auf allen Ebenen des Steuerungs-Regulationssystems (zentrales Nervensystem, ZNS; peripheres Nervensystem, PNS) gleichberechtigt und nebeneinander verlaufen können. externe Signale Bewußtes Erleben R) Feinjustierung des vegelalven Nervensyslemsan — * ‚aktuelle Umweltsituation und individuelle Autoregulation „“ entizipatorische Anpassung an Umwelt, Emotionen, x Neokortex efferent \ ‚/ Koordination und Integration von somal.,veget.,endokr. "immun, Reakti elementaren ensweisen „ Ion der sagmenlal-spinalan en zu » einheillichen Funktionen £ segmental- spinale Reflexe ." Modulation des Impulsstromes von prä- nach “ al onär { Autoregulation interne Signale Abb. 2.1: Regulationsebenen des vegetativen Nervensystems (Quelle: Jänig 1977, modifiziert nach Balzer 1996) Daraus leitet sich ab, daß ein bestimmter Aktivierungsprozeß sich in vegetativen Parametern (z.B. Blutdruck, Herzfrequenz, Hautwiderstand), Verhaltensparameten (z.B. Reaktionszeiten, Häufigkeit von Bewegungen), im Erleben (z.B. subjektive Aussagen, Befinden), in ZNS-Parametern (z.B. EEG) und in Abhängigkeit chronobiologischer Kriterien (z.B. biologische Rhythmen) reflektiert und durch sie beschrieben werden kann. en 5 10 von 69
Anhang A Kapitel 2: Akustische Wahrnehmung Das strukturelle Substrat für die Aktivierungsfunktion ist das Aszendierende Retikuläre Aktivierungssystem (ARAS). [Morizzi 1949, Starzl 1951] Das ARAS nimmt auch in der Organisation des Schlaf-Wach-Zyklus eine führende Rolle ein. [Koella 1988] Ist Schall unerwünscht oder führt er zu unerwünschten Wirkungen, so wird der Schall als ”Lärm” bezeichnet und die unerwünschten Wirkungen werden unter dem Begriff »Lärmwirkungen” zusammengefaßt. Lärm löst größtenteils negative Emotionen aus. Der Umstand, den Schall als unangenehm zu erleben, wird u.a. bestimmt von der Erfahrung mit der spezifischen Geräuschquelle, von der Einstellung zum Geräusch, von der individuellen, aktuellen und beständigen psychophysiologischen Reaktionslage, vom Vigilanzzustand und von der Geräuschempfindlichkeit. Insbesondere bei langfristiger bzw. dauerhafter Einwirkung kann eine hohe Lärmbelastung Gesundheitsbeeinträchtigungen, v.a. der geistig-emotionellen Prozesse hervorrufen: 2.1 Reiz und Wahrnehmung Ein ”akustischer Reiz”, auch Schallereignis genannt, ist ein physikalischer Vorgang, der durch geeignete physikalische Größen (sie werden als Reizgrößen bezeichnet) beschrieben werden kann. Ist der Mensch einem ”akustischen Reiz” ausgesetzt, dessen Spektrum nach Frequenz und Schalldruck hörbare Werte aufweist, so erfolgt, wie wir wissen, eine ”Wahrnehmung”, die als Hörereignis bezeichnet wird. Treffen Schallwellen auf das Ohr, so versetzen sie das Trommelfell in Schwingungen. Diese Schwingungen werden über das Mittelohr (Hammer, Amboß, Steigbügel) auf das Innenohr übertragen und dort durch die im Cortischen Organ eingebetteten Haarzellen in elektrische Nervenimpulse umgesetzt (Frequenz-Orts-Transformation). Die Nervenimpulse gelangen über die Hörbahn zum akustischen Analysator des Gehirns und werden dort als Hörereignis wahrgenommen. 11 von 69
Anhang A [ ) Akust. Projektionsfolder des Cortax ( | Akust. Kerngebiele der Nuclei „a pontarlorn (Thalamus) u“ Collievlus superior Zu allen Teilen dos corlex Formslio \/) relicularis Corpus trapezaidum Medulla Abb. 2.2: Die Hörbahn, Die eingekreisten Zahlen kennzeichnen die Abfolge der neuralen Schaltungen in der Kette vom Rezeptor (Haarzellen) bis zum Kortex. (Quelle: Schick 1979) Die Merkmale der Wahrnehmung, die jedes Hörereignis kennzeichnen, werden als Wahrnehmungsgrößen bezeichnet. Für ein stationäres Schallereignisse sind z.B. die Lautstärke, die Tonhöhe , die Klangfarbe oder der Hörereignisort zu nennen. Jede Wahrnehmungsgröße wird durch mehrere Reizgrößen beeinflußt, allerdings in unterschiedlichem Maße. [Schick 1994] Für die Wahrnehmung lassen sich die bekannten Grundsätze formulieren: Ein hoher Schalldruck hat eine große Lautstärke-, ein niedriger Schalldruck eine geringe Lautstärkewahrnehmung zur Folge. Eine hohe Frequenz hat eine hohe Tonhöhe, eine niedrige Frequenz eine geringe Tonhöhe zur Folge. Das Mitschwingen harmonischer Obertöne beeinflußt die Klangfarbe. Ist ein Schallereignis nicht stationär, so ist die Wahrnehmung auch von der zeitlichen Struktur des Schallereignisses abhängig. Das Hörereignis wird aber nicht allein durch das Schallereignis und die aurale Verarbeitung determiniert, sondern auch durch eine Vielzahl von Moderatoren beeinflußt, z.B. Persönlichkeitsmerkmale, individuelle Einstellungen zum Schall und die momentane Tätigkeit. Das Hörereignis ist somit ein psychophysikalisches Ereignis. Gleichzeitig mit der Wahrnehmung gelangen Nervenimpulse über Abzweigungen vom Hörnerv in das Stammhirn und werden von dort an spezifische Hirnteile weitergeleitet. Dies ist der physiologische Weg der Aktivierung. 12 von 69 Kapitel 2: Akustische Wahrnehmung
Anhang A Kapitel 2: Akustische Wahrnehmung 2.2 Grundlagen der Aktivierung Die Aktivierungstheorie beruht auf der These, daß die Reizung eines Individiums zwei unspezifischeWirkungen zeige: a. verändere sie Verhaltensweisen oder löse diese aus. Damit besitzt sie eine Steuerungsfunktion. b. verursache sie einen Vorgang, in dessen Folge der Organismus mit Energie versorgt wird, die er zur Ausführung von Handlungen benötige. In diesem Sinn besitzt die Reizung eine Mobilisierungssfunktion. Bezogen auf einen akustischen Reiz lassen sich diese Aussagen folgendermaßen interpretieren. Durch ein Hörereignis erhält ein Individuum Informationen über sich und seine Umwelt. Diese Informationen ermöglichen eine Entscheidung darüber, welches Verhalten in der gegebenen Situation angemessen ist. Dieser Vorgang wird als Steuerung bezeichnet werden. Die Steuerung reicht aber keinesfalls aus, um ein Verhalten (z.B. Flucht oder Kampf) zu real- isieren. Dem Organismus muß vielmehr Energie zur Verfügung gestellt werden. Diese Energie wird unter dem Einfluß der Reizung humoral mobilisiert. Unter dem Prozeß der Aktivierung wird demzufolge sowohl eine Änderung des Verhaltens als auch eine physiologische Energiemobilisierung verstanden. Der Aktivierungstheorie liegt ebenso wie dem Streßkonzept Selyes [Selye 1936] die Unspezifitätsannahme zugrunde. Unabhängig von der Art des Reizes erfolgt eine immer gleiche Reaktion des Organismus. Bislang läßt sich die Aktivierung eines Individuums noch nicht direkt messen, sondern muß über Indikatoren bestimmt werden, die physiologisch meßbar sind und in enger Verbindung zur Aktivierung stehen. Als Indikatoren bieten sich insbesondere die Parameter der Energiemobilisierung an. Als typische Meßgrößen sind z.B. der Hautwiderstand, die Streßhormone der Nebenniere, die Pulsfrequenz oder der Blutdruck zu nennen. Der physiologische Vorgang der Aktivierung ist in der folgenden Abbildung vereinfacht darge- stellt. T—TT nn Ts, ee — 13 von 69
Anhang A Kapitel 2: Akustische Wahrnehmung Aa Kapitel 2: Akustische Wahrnehmung Ih u r == Hypophysen- Hypophysen- vorderlappen hinterlappen \ AN Abb. 2.3: Beeinflussung vegetativer Funktionen durch Schall (Quelle: Silbernagel 1991) Schall wirkt, wie wir sehen, über das endokrine und vegetative System auf eine Vielzahl von Organe und Organsysteme ein. Dieser Vorgang verläuft unabhängig vom Bewußtsein und parallel zur Schallwahrnehmung ab. Die Aktivierung ist ebenso wie die Wahrnehmung nicht nur von den akustischen Reizgrößen abhängig, sondern wird deutlich durch subjektive Einflußgrößen moderiert, Die Aktivierung ist somit ebenfalls ein physiko-psychophysiologischer Prozeß. 2.2.1 Schallereignis und Aktivierung Wie bei der Wahrnehmung stellt sich auch bei der Aktivierung die Frage nach der Abhängigkeit von den Reizgrößen. Es ist nicht verwunderlich, daß ein ähnlicher Zusammenhang zu beobachten ist, wie er bei der Schallwahrnehmung (Hörereignis) beschrieben wurde. Wie die Wahrnehmungsgrößen hängt das Aktivierungsniveau ebenfalls von dem Schalldruckpegel, der Frequenz (bzw. der Frequenzzusammensetzung) und der zeitlichen Struktur des Schallereignisses ab. 14 von 69