Lagebericht Nigeria 2022
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Aktueller Lagebericht zu Nigeria“
Die Lageberichte des Auswärtigen Amts sind Grundlage für fast alle Asylverfahren vor deutschen Verwaltungsgerichten. Sie sind nicht öffentlich zugänglich und als Verschlusssache eingestuft. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weist Anwält:innen sogar auf eine mögliche Strafbarkeit hin, sollten sie die Berichte weitergeben. Deswegen sorgen wir jetzt gemeinsam mit Pro Asyl selbst für Transparenz.
Diese Anfrage wurde als Teil der Kampagne „Lageberichte des Auswärtiges Amts“ gestellt.
VS Nur für den Dienstgebrauch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! AUSWÄRTIGES AMT Gz: 508-516.80/3 NGA VS-NfD Berlin, 22.02.2022 Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Nigeria (Stand: Januar 2022) Grundsätzliche Anmerkungen: 1. Auftrag: Das Auswärtige Amt erstellt Lageberichte in Erfüllung seiner Pflicht zur Rechts- und Amtshilfe gegenüber Behörden und Gerichten des Bundes und der Länder (Art. 35 Abs. 1 GG, §§ 14, 99 Abs. 1 VwGO). Insoweit wird auf die Entscheidung des BVerfG vom 14.05.1996 (BVerfGE 94,115) zu sicheren Herkunftsstaaten besonders hingewiesen, in der es heißt: ,,Angesichts der Tatsache, dass die Verfassung dem Gesetzgeber die Einschätzung von Auslandssachverhalten aufgibt(. ..), fällt gerade den Auslandsvertretungen eine Verantwortung zu, die sie zu besonderer Sorgfalt bei der Abfassung ihrer einschlägigen Berichte verpflichtet, die diese sowohl für den Gesetzgeber wie für die Exekutive eine wesentliche Entscheidungshilfe bilden. " 2. Funktion: Lageberichte sollen vor allem dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den Verwaltungsgerichten, aber auch den Innenbehörden der Länder als eine Entscheidungshilfe in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten dienen. In ihnen stellt das Auswärtige Amt asyl- und abschiebungsrelevante Tatsachen und Ereignisse dar. Sie enthalten keine Wertungen oder rechtliche Schlussfolgerungen aus der tatsächlichen Lage. 3. Einstufung: Lageberichte sind als „Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch" eingestuft. Nur dieses restriktive Weitergabeverfahren stellt sicher, dass die Berichte ohne Rücksichtnahme auf außenpolitische Interessen formuliert werden können. Die Schutzbedürftigkeit ist auch aus Gründen des Quellenschutzes und in Einzelfällen sogar im Interesse der persönlichen Sicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes geboten. Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass die Lageberichte nicht an Dritte, die selbst weder in einem anhängigen Verfahren beteiligt noch prozessbevollmächtigt sind, weitergegeben werden dürfen. Die unbefugte Weitergabe dieser Informationen durch verfahrensbevollmächtigte Rechtsanwältinnen oder Rechtsanwälte stellt einen Verstoß gegen berufliches Standesrecht dar (§ 19 der Berufsordnung der Rechtsanwälte) und kann entsprechend geahndet werden. Das Auswärtige Amt hat keine Einwände gegen die Einsichtnahme in diesen Lagebericht bei Verwaltungsgerichten durch Prozessbevollmächtigte, wenn die Bevollmächtigung in einem laufenden Verfahren nachgewiesen ist. Aus Gründen der Praktikabilität befürwortet das Auswärtige Amt, dass die Einsichtnahme unabhängig von örtlicher und sachlicher Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts, bei dem der/die Prozessbevollmächtigte im Einzelfall Einsicht nehmen möchte, möglich ist. Eine Anfertigung von Kopien ist aus o. a. Geheimschutzgründen jedoch nicht möglich. Hierdurch kann der in § 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum materiellen Geheimschutz (Verschlusssachenanweisung - VSA) festgeschriebene Grundsatz „Kenntnis nur, wenn nötig" nicht mehr gewährleistet werden. Die Fertigung von Kopien dieser VS ist untersagt (§ 20 i. V. m. Anlage IV VSA). 4. Ergänzende Auskünfte: Über die Lageberichte hinausgehende Anfragen von Behörden und Gerichten zu konkreten tatsächlichen Sachverhalten werden im Rahmen der Amtshilfe beantwortet. Die rechtliche Wertung obliegt dabei der ersuchenden Stelle. 5. Auskünfte zum ausländischen Recht: Es wird darauf hingewiesen, dass die Auskünfte zum ausländischen Recht unverbindlich erteilt werden und keinen Anspruch auf Richtigkeit und Vollständigkeit erheben. 6. Quellen: Bei der Erstellung des Lageberichts werden u. a. Informationen von Menschenrechtsgruppen, Nichtregierungsorganisationen (NROs), Oppositionskreisen, Rechtsanwälten, © Auswärtiges Amt 2022 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt- Nachdruck verboten

V8 Nur für den Dienstgebra:uch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 2 Botschaften von Partnerstaaten, internationalen Organisationen, wie z. B. UNHCR oder IKRK, Regierungskreisen sowie abgeschobenen Personen herangezogen. Dadurch sowie durch stets mögliche schriftliche Stellungnahmen erhalten diese Organisationen die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse zu den in den Lageberichten dargestellten Sachverhalten einzubringen. Für diesen Lagebericht wurden u. a. folgende Quellen vor Ort und in Deutschland herangezogen: Der Bericht beruht vorrangig auf Erkenntnissen, die die deutsche Botschaft Abuja und das Generalkonsulat Lagos im Rahmen ihrer Kontakte und Recherchen (siehe Ziffer 4) gewonnen haben. Daneben wurden u.a. folgende Dokumente ausgewertet: • Amnesty International: Global Report 2019, Länderkapitel Nigeria: https://www.amnesty.de/infonn ieren/amnesty-reportfnigeria-nigeria-2019 • Amnesty International: Unearthing the Truth: Unlawful Killings and Mass Cover-Up in Zaria April 20i6 • Avocats Sans Frontieres, France, Office Abuja: Final report on the death penalty in Nigeria (2011- 2014), Juli 2014 • Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. Zweiter Bericht über die Fortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels (2018). • EU Commission: First report on the progress made in the fight against trafficking in human beings, 2016 • EU Commission: Second report on the progress made in the fight against trafficking in human beings, 2018 • ILO supports Nigeria's Response to Child Labour Emergency (28.05.2021) https://www.ilo.org/africa/about-us/offices/abuja/WCMS 803364/lang--en/index.htm • International Crisis Group: Stopping Nigeria's Spiralling Farmer-Herder Violence • International Organization for Migration, Displacement Tracking Matrix, October 2021 • National Agency For The Prohibition ofTrafficking in Persons. Data Analysis 2020 https://www.naptip.gov.ng/resources-new/ • OHCHR: End of visit statement; Nigeria (3-10 September) by Maria Grazia Giammarinaro, UN Special Rapporteur on Trafficking in Persons, especially Women and children. https://www.ohchr.org/en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=23526&Lang1D=E • UN OCHA, North-East Nigeria: Humanitarian Situation Update, October 2021 • UNODC: Baseline Assessment, Trafficking in Persons in Nigeria. December 2020 • UNHCR Nigeria Fact Sheet April - June 2021 https://data2.unhcr.org/en/documents/details/88 l 82 • UNHCR Nigeria: All populations Snapshot August 2021 https://data2.unhcr.org/en/documents/details/88553 • UNHCR Nigeria: Cameroonian Refugees Operational Update August 2021 https://data2.unhcr.org/en/documents/details/88749 • UNICEF Nigeria Humanitarian Situation Report, 30 June 2021 https ://www.unicef.org/documents/ni geria-h umanitarian-situation-report-3 0-j une2021 • United States Department of State, Trafficking In Persons Report 2020 • US State Department's 2019 Human Rights Report for Nigeria • Save the Children: Little Invisible Slaves, 2019 • "They Betrayed Us": Women who Survived Boko Haram Raped, Starved and Detained in Nigeria, Amnesty International May 2018Amnesty International: Nigeria: time to end impunity: torture and other human rights violations by special anti-robbery squad (SARS), June 2020 © Auswärtiges Amt 2022 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt- Nachdruck verboten

VS Nur für den Dienstgebrauch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 3 7. Aktualität; Lageberichte berücksichtigen die dem Auswärtigen Amt bekannten Tatsachen und Ereignisse bis zu dem jeweils angegebenen Datum des Standes, sofern nicht ausdrücklich anders angegeben. Die Aktualisierung der Lageberichte erfolgt in regelmäßigen Zeitabständen. Dabei geht das Auswärtige Amt auch Hinweisen auf evtl. in den Lageberichten enthaltene inhaltliche Unrichtigkeiten nach. Bei einer gravierenden, plötzlich eintretenden Veränderung der Lage erstellt das Auswärtige Amt in der Regel einen Ad-hoc-Bericht. Bei Anhaltspunkten für eine Veränderung der Lage, die den Empfängerinnen und Empfängern bekannt geworden sind, steht das Auswärtige Amt darüber hinaus für Auskünfte zur Verfügung. 8. Wechselkurs: Geldbeträge sind grundsätzlich in der Landeswährung nigerianische Naira (NGN) aufgeführt Zum Stichtag 29.10.2021 galt folgender Wechselkurs: 1 EUR= 476 NGN Es ist beabsichtigt, den Bericht jährlich zu aktualisieren. © Auswärtiges Amt 2022 -Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten

V8 Nur für den Dienstgebrauch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 4 Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung ...................................................................................................................... 5 I. Allgemeine politische Lage .................................................................................................... 6 1. Überblick ........................................................................................................................... 6 2. Betätigungsmöglichkeiten von Menschemechtsorganisationen ........................................ 7 3. Rolle und Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden und des Militärs ................................... 7 II. Asylrelevante Tatsachen ........................................................................................................ 9 1. Staatliche Repressionen ..................................................................................................... 9 1.1 Politische Opposition .................................................................................................. 9 1.2 Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit.. .... :.......... 9 1.3 Minderheiten ............................................................................................................... 9 1.4 Religionsfreiheit. ............. :......................................................................................... 10 1.5 Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis ........................................................ 11 1.6 Militärdienst .............................................................................................................. 11 1.7 Handlungen gegen Kinder ........................................................................................ 12 1.8 Geschlechtsspezifische Verfolgung .......................................................................... 12 1.9 Exilpolitische Aktivitäten ......................................................................................... 14 2. Repressionen. Dritter ........................................................................................................ 14 3. Ausweichmöglichkeiten .................................................................................................. 15 4. Konfliktregionen (falls vorhanden) ................................................................................. 15 III. Menschemechtslage ........................................................................................................... 16 1. Schutz der Menschenrechte in der Verfassung ................................................................ 16 2. Folter................................................................................................................................ 17 3. Todesstrafe ....................................................................................................................... 17 4. Sonstige menschenrechtswidrige Handlungen ................................................................ 18 5. Lage ausländischer Flüchtlinge ....................................................................................... 19 IV. Rückkehrfragen .................................................................................................................. 20 1. Situation für Rückkehrerinnen und Rückkehrer .............................................................. 20 1.1 Grundversorgung ...................................................................................................... 20 1.2 Rückkehr und Reintegrationsprojekte im Herkunftsland ......................................... 20 1.3 Medizinische Versorgung ......................................................................................... 21 2. Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern ...................................................... 21 3. Einreisekontrollen ............................................................................................................. 22 4. Abschiebewege ................................................................................................................ 22 V. Sonstige Erkenntnisse über asyl- und abschieberechtlich relevante Vorgänge ................... 23 1. Echtheit der Dokumente .................................................................................................. 23 1.1 Zugang zu gefälschten Dokumenten ......................................................................... 24 1.2 Echte Dokumente unwahren Inhalts ......................................................................... 24 2. Meldewesen und Register ................................................................................................ 24 3. Zustellungen .................................................................................................................... 25 4. Feststellung der Staatsangehörigkeit ............................................................................... 25 5. Ausreisekontrollen und Ausreisewege ............................................................................ 26 © Auswärtiges Amt 2022 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten

VS ·Nur für den Dienstgebrauch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 5 Zusammenfassung • Nigeria hat in den letzten 20 Jahren verschiedene politische Machtwechsel durch Wahlen (und nicht mehr durch Militärputsche) vollzogen. gewährleistet; Nicht-staatliche wie auch teils staatliche Akteure sind für schwerwiegende Menschemechtsvei-letzungen verantwortlich: - Milizen der Boko Haram und der an Einfluss gewinnende sogenannte Islamische Staat Provinz Westafrika (ISWAP) terrorisieren die Zivilbevölkerung durch Mord, Raub, Zwangsverheiratungen, Vergewaltigung und Menschenhandel. - Im „Hirten-Bauern-Ressourcen-Konflikt" kommt es zu Morden, Plünderungen und Vertreibungen. • Der nigerianische Präsident Buhari hat auf Kritik in der Vergangenheit reagiert, strikte Achtung der Menschemechte auch durch das Militär zugesagt und verschiedene Untersuchungsverfahren eingeleite • Im Nordosten, im Nordwesten und im Zentrum Nigerias verschlechtert sich die Sicherheitslage. Im Nordwesten ist ein Anstieg von Bandenkriminalität (insb. Viehdiebstähle, Überfälle, Entführungen) zu beobachten. Im mittleren Gürtel Nigerias halten die o.. Auseinandersetzun en zwischen Hirten und Bauern an. • Frauen erleiden vielfältige Formen von Diskriminierung. Die Praxis der Genitalverstümmelung ist insbesondere im Süden, Südosten und Teilen des Nordens, vor allem im Bundesstaat Bomo, nach wie vor weit verbreitet. • LGBTI-Personen sind Opfer von Diskriminierung und Menschemechtsverletzungen. Im Januar 2014 unterschrieb der damalige Präsident Jonathan das zuvor im Parlament einmütig beschlossene Same Sex Marriage Bill (Gesetz zur Ehe von gleichgeschlechtlichen Partnern), das die Bestrafung von homosexuellen Aktivitäten einschließlich ihrer Propagierung noch einmal verschärft hat. • Anhaltspunkte für staatliche Repressionen gegen abgelehnte Asylbewerber*innen, die nach Nigeria zurückgeführt werden, liegen dem Auswärtigen Amt nicht vor. © Auswärtiges Amt 2022 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten

VS l'Jur für den Dienstgebrauch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 6 I. Allgemeine politische Lage 1. Überblick Nigeria ist mit knapp über 200 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Staat Afrikas. Seit der Unabhängigkeit 1960 hat sich die Bevölkerungszahl Nigerias mehr als verdreifacht. Die Wirtschaftsentwicklung hat zwar in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht, kann aber mit dieser rasanten und sich weiter fortsetzenden demographischen Entwicklung nicht Schritt halten. Aus den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Februar 2019 ging die Regierungspartei „All Progressives' Congress" (APC) siegreich hervor und Präsident Buhari wurde im Mai 2019 für eine zweite Amtszeit vereidigt. Der Regierungspartei APC gelang es zudem, ihre Mehrheit in beiden Kammern der Nationalversammlung zu vergrößern. Die größte Oppositionspartei, die ,,People's Democratic Party" (PDP) hatte von 1999-2015 durchgehend den Präsidenten gestellt. Die PDP stellt eine starke Opposition für die APC dar und bleibt v. a. im Süden und Südosten des Landes die treibende politische Kraft. Die Verfassung vom 29.05.1999 enthält alle Elemente eines demokratischen Rechtsstaates, einschließlich eines Grundrechtskataloges, und orientiert sich insgesamt am US- Präsidialsystem. Einern starken Präsidenten, der zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, und einem Vizepräsidenten, stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber. Das Land ist in 36 Bundesstaaten und einen Bundeshauptstadtbezirk sowie 774 „Local Government Areas" (Landkreise) untergliedert, die von direkt gewählten Gouverneuren bzw. Vorsitzenden regiert werden. Polizei und Justiz werden vom Bund kontrolliert. Verfassungsreformen wie z. B. die Stärkung der föderalen und lokalen Ebene und die Stärkung der Justiz werden seit geraumer Zeit - auch in der Zivil-gesellschaft - diskutiert. © Auswärtiges Amt 2022 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten

VS Nur :ftiF den Dienstgebrauch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 7 Die Verfassung unterscheidet in ihren Artikeln 230 ff. zwischen Bundesgerichten, den Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie den Gerichten der 36 Bundesstaaten. Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen. Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in zwölf nördlichen Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Scharia-Gerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (s. Scharia 11.1.5). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der „Court of Appeal" (Berufungssachen u. a. der „State Court of Appeal" und der „State Sharia and Customary Court of Appeal") sowie der „Supreme Court" (Revisionssachen, Organklagen). 2. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen Die Aufgaben der nationalen Menschenrechtskommission (,,National Human Rights Commission", NHRC) sind Förderung und Schutz der Menschenrechte sowie Menschenrechtserziehung. Derzeit konzentriert sie sich u. a. auf die Themen Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte, Diskriminierung im Wirtschaftsleben, Gewalt gegen Frauen sowie Menschenrechtsbildung und -aufklärung. einige Vorfälle und die Vereinbarkeit der Einsatzrichtlinien des Militärs mit nationalem und internationalem humanitärem Recht zu untersuchen. Die Menschenrechtskommission wurde außerdem beauftragt, Spezial-Polizeieinheiten zu untersuchen, die sich weitreichender Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben sollen. Neben der staatlichen Nationalen Menschenrechtskommission gibt es eine Vielzahl von nicht staatlichen Menschenrechtsorganisationen auf nationaler und regionaler Ebene, die sich grundsätzlich frei betätigen können. Sie sind nach Art, Größe und Zielrichtung sehr unterschiedlich und reichen von landesweit verbreiteten Organisationen, wie der CLO (Civil Liberties Organization), CD (Campaign for Democracy) und LEDAP (Legal Defense Aid Project), die sich in erster Linie in der Aufklärungsarbeit betätigen, über Frauenrechtsgruppen und Organisationen, die sich vorrangig für die Rechte bestimmter ethnischer Gruppen einsetzen, bis hin zu Gruppen, die vor allem konkrete Entwicklungsanliegen bestimmter Gemeinden vertreten. Auch kirchliche und andere religiös motivierte Gruppierungen sind in der Menschenrechtsarbeit aktiv. Das gilt auch für internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) und Amnesty International (AI), die in Nigeria über Regionalvertreter verfügen. 3. Rolle und Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden und des Militärs Alle Sicherheitsorgane (Militar, Staatsschutz sowie paramilitärische Verbrechensbekämpfungseinheiten, die so enannten „Ra id Response S uads") werden neben der Polizei auch im Innern eingesetzt. An gewalttätigen Übergriffen von Sicherheitskräften entzündeten sich im Herbst 2020 Proteste in einigen Landesteilen unter dem Banner ,,#endSARS" (SARS = Special Anti © Auswärtiges Amt 2022- Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten

VS Nur für den Dienstgebrauch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 8 Robbery Squad, eine polizeiliche Spezialeinheit, der immer wieder Menschenrechtsverstöße vorgeworfen wurden). Die Regierung schaffte die Einheit SARS daraufhin ab und vers rach Polizeireformen und Untersuchun sausschüsse Aktuell arbeitet die nigerianische Bundesregierung mit den Vereinten Nationen u. a. an einer Polizeireform. Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der (Bundes-)Polizei, die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht. Die Lage der ca. 360.000 Mann starken Polizeitruppe ist durch niedrige Besoldung sowie schlechte Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung ekennzeichnet. Korruption ist bei der Polizei weit verbreitet; Die Polizeiführung versucht zusammen mit Nichtregierungsorganisationen Menschenrechtskurse und Fortbildungsmaßnahmen, z. T. auch mit deutscher Unterstützung. In den nördlichen Bundesstaaten, in denen Scharia-Recht angewandt wird, das aber-da teilweise in Widerspruch zur nigerianischen Verfassung stehend - von der nationalen Polizei nicht durchgehend umgesetzt wird, agieren außerdem sogenannte Hisbah-Gruppen, die sich in einigen Bundesstaaten polizeiliche Funktionen anmaßen. Auch in Bezug auf Hisbahs Menschenrechtsbilanz gibt es immer wieder Vorwürfe. Im Zuge der Proteste gegen Polizeigewalt im Herbst 2020 in mehreren Landesteilen kündigte die Regierung umfassende Polizeireformen an. © Auswärtiges Amt 2022 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten

VS Nur für den Dienstgebrauch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 9 Das Militär hat die Federführung bei der zivilen Bürgerwehr Civilian Joint Task Force inne, die u. a. gegen militante Gruppierungen im Ni erdelta und im Kam f gegen Boko Haram im Nordosten ein esetzt wird. II. Asylrelevante Tatsachen 1. Staatliche Repressionen 1.2 Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit Meinungs- und Pressefreiheit sind durch die Verfassung von 1999 garantiert und finden sich auch in der Verfassungswirklichkeit grundsätzlich wieder. Die Medienlandschaft Nigerias ist durch eine Fülle privater Tageszeitungen und Wochenmagazine, Radiostationen und auch Fernsehsender geprägt, die insgesamt breit gefächert und relativ frei zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Themen berichten, wenngleich sie ökonomisch meist von einflussreichen Interessen gesteuert werden. Mehrere Journalisten sitzen aufgrund ihrer Berichterstattung in Haft und Selbstzensur ist verbreitet. Das Gesetz zur Informationsfreiheit garantiert jeder Person das Recht, auf Antra amtlichen Informationen durch die Behörden zu erhalten. Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wird durch die Verfassung ebenso garantiert wie das Recht, einer politischen Partei oder einer Gewerkschaft anzugehören. Dies hat zur Herausbildung einer lebe!).digen Zivilgesellschaft mit zahlreichen NROs geführt. Durch das Eingreifen der Sicherheitsorgane gegen politisch unliebsame Gruppen wie Schiiten oder Biafra- Aktivisten wird die Versammlungsfreiheit in der Praxis eingeschränkt. Gleichzeitig gibt es verschiedene Versuche der Regierung, zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum durch repressive Gesetzgebung und Verwaltungspraxis einzuschränken. 1.3 Minderheiten In Nigeria gibt es nach Schätzungen mehr als 250 Ethnien. Die drei größten ethnischen Gruppen, die in der Summe rund zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen, sind die © Auswärtiges Amt 2022 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten

VS Nur für den Dienstgebrauch In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 10 Hausa/Fulani im Norden, dieYoruba im Südwesten und die Igbo im Südosten. Eine vierte, durch den Konflikt im Nigerdelta ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückte Ethnie, die ljaw, lebt überwiegend in den ölreichen Regionen des Nigerdeltas. Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie sind durch die Verfassung verboten. Gleichzeitig unterscheidet die Verfassung bei der Bevölkerung in den Bundesstaaten zwischen „Einheimischen" (,,indigenes") und „Zuwanderern" (,,settlers"). Diese Unterscheidung sollte die einheimische Bevölkerung und die kleineren Ethnien vor den drei großen Ethnien schützen. In einigen Bundesstaaten ist die Lage von Minderheiten problematisch, zumal selbst den Nachfahren der Zuwanderer oft die Teilnahme an Wahlen (aktiv wie passiv) verwehrt wird und sie nur eingeschränkten Zugang zu Ressourcen wie etwa Subventionen und öffentlichen Aufträgen, Arbeits-, Ausbildungs- und Studienplätzen haben. In Nigeria leben nach WHO Schätzungen (von 2011) 25 Mio. Menschen mit Behinderungen unterschiedlicher Art. Das sind etwa 15% der Bevölkerung. Aktuellere Statistiken liegen nicht vor. Offiziell unterstützt Nigeria die Bestrebungen der VN zur Gleichbehandlung und Förderung von Menschen mit Behinderungen. In der Realität werden diese ausgegrenzt. NROs bemühen sich durch Hilfsprogramme, die Situation von Menschen mit Behinderungen in Nigeria zu verbessern. Einige nigerianische Dachorganisationen arbeiten als Sprachrohr vori Menschen mit Behinderungen, z.B. ,,Physically Handicapped Association of Nigeria". Diese Organisationen leisten Lobbyarbeit, können aber keine dauerhafte Unterstützung bieten. Obwohl Menschen mit Behinderungen laut Gesetz nicht diskriminiert werden dürfen und auch ihre Rechte festgeschrieben sind, wird dies in der Praxis nicht umgesetzt. Eine adäquate medizinische Behandlung und auch die Teilnahme an Rehabilitationsprogrammen setzt entsprechende finanzielle Mittel voraus, was durch die bestehenden Strukturen nicht gewährleistet werden kann. 1.4 Religionsfreiheit Die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit und verbietet, eine bestimmte Religion zur Staatsreligion zu erheben. Im Vielvölkerstaat Nigeria mit einem überwiegend muslimischen Norden und einem überwiegend christlichen Süden ist die Religionsfreiheit ein Grundpfeiler des Staatswesens. Die nigerianische Bundesregierung achtet auf die Gleichbehandlung von Christen und Muslimen, zum Beispiel bei der Finanzierung von Gotteshäusern und Wallfahrten. Sie unterstützt den Nigerianischen Interreligiösen Rat (,,Nigerian Inter-Religious-Council"), der paritätisch besetzt ist und die Regierung in Religionsangelegenheiten berät. Ähnliche Einrichtungen wurden auch in mehreren Bundesstaaten eingeführt. Christen und Muslime (hauptsächlich Sunniten) sind in Nigeria in etwa gleich stark vertreten. . In einigen Bundesstaaten ist die Lage der jeweiligen christlichen bzw. muslimischen Minderheit problematisch, insbesondere wo der Kampf um Ressourcen zunehmend religiös und politisch instrumentalisiert wird. Auch die Lage zwischen den Angehörigen der islamischen Glaubensrichtungen, der sunnitischen Mehrheit und der schiitischen Minderheit, ist teilweise stark angespannt. Anders sind die Yoruba im Südwesten Nigerias, unter denen seit Generationen Mischehen zwischen Muslimen und Christen verbreitet sind. In den zwölf nördlichen Bundesstaaten wird die Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Nicht- Muslimen in der Praxis teilweise beschränkt, da viele Verwaltungsvorschriften ohne Rücksicht auf die jeweilige Religionszugehörigkeit erlassen und durchgesetzt werden. Gleichzeitig fühlen sich einige Muslime im Südwesten in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt, da es dort keine Scharia-Gerichte gibt, auf die sie zurückgreifen können. © Auswärtiges Amt 2022 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
