Berufungsbegruendung_SemsrottBPraes_16012023

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- 11 - Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz eingeschaltet wird. Hinsichtlich des Disziplinargnaden- rechts ist der Bundespräsident lediglich für die Bundesbeamten zuständig (Bundeswehrsolda- ten, Bundesrichter) (BeckOK GG/Pieper, 47. Ed. 15.5.2021, GG Art. 60 Rn. 6). Bei Begnadigungen von Tätern, die schwerste Straftaten und von Bundesbeamten, die Dienst- vergehen gegangen haben, nimmt – entgegen der Annahme der Beklagten – das Recht des Betroffenen allein gelassen zu werden nicht per se im Laufe der Zeit an Bedeutung zu und setzt dem Informationsinteresse Grenzen. Denn gerade weil es hier häufig um prominente Strafverfahren oder ehemalige hochrangige Amtsträger geht, hat die Öffentlichkeit auch Jahre nach der Tat im Regelfall ein überragendes Informationsinteresse zu wissen, ob ein Begnadigungsverfahren geführt und ob es positiv ent- schieden worden ist. Nur über solche Transparenz lässt sich im Übrigen kontrollieren, inwieweit der Bundespräsident das Begnadigungsrecht im zulässigen Rahmen ausübt oder ob ggf. ihm nahestehende ehemalige, disziplinarrechtlich belangte Spitzenbeamte oder strafrechtlich verur- teilte Freunde und Weggefährten in den Genuss einer Begnadigung gekommen sind. Auch wenn das in Deutschland aktuell abwegig erscheint, zeigt doch die Ausübung des Gnadenrechts durch den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, dass eine öffentliche Kontrolle über Transparenz auch in diesem Bereich dringend angezeigt ist. Dass der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung in der derzeitigen Begnadigungs- praxis behauptete, der Bundespräsident entscheide aktuell faktisch eher über Bagatellfälle aber nicht über Schwerstkriminalität, ist für den Kläger weder überprüfbar, noch sagt dies irgendet- was aus. Weder muss dies in der Vergangenheit immer so gewesen sein, noch muss dies in Zukunft so bleiben. Die Beklagte kann jedenfalls nicht pauschal eine Abwägung zu Ungunsten des Klägers vornehmen. Schließlich weisen wir darauf hin, dass der Bundespräsident in seiner bisherigen Begnadi- gungspraxis selbst bisweilen die Öffentlichkeit gesucht und in einigen Fällen mit Presseerklä- rungen bzw. -äußerungen über konkrete Begnadigungsverfahren unter Nennung der Betroffe- nen berichtet hat. Dies war in der Vergangenheit etwa im Jahr 2002 bei dem verurteilten RAF- Mitglied Adelheid Schulz, 2003 bei dem verurteilten RAF-Mitglied Rolf Clemens Wagner jeweils durch den Bundespräsidenten Johannes Rau, bei den verurteilten RAF-Mitgliedern Christian Klar und Birgit Hogefeld im Jahr 2007 durch Bundespräsident Horst Köhler der Fall (Screens- hots und Presseartikel, Anlage K4). Auch die Begnadigung weiterer RAF-Terroristen ist an die Öffentlichkeit gedrungen und wurde medial behandelt (Anlage K8). Bereits erstinstanzlich wurde bestritten, dass der Bundespräsident – wie die Beklagte vortragen ließ – hier lediglich auf bereits durchgestochene Informationen reagiert und nicht selbst die Öffentlichkeit gesucht habe. Im Zweifel wäre dies durch das Gericht im Rahmen der Amtsermittlung aufzuklären. Mit dieser Namensnennung und Berichterstattung durch den Beklagten in Begnadigungsverfah- ren räumt die Beklagte nicht nur ein, dass in vielen Fällen ein öffentliches Informationsinteresse besteht, sondern auch dass eine Nennung der Namen der von Begnadigungen Betroffenen nicht generell zu unterbleiben hat. Es obliegt jedoch nicht dem Bundespräsidenten, zu entschei- den über welche Begnadigungsverfahren berichtet werden kann und darf. Mit der Gestaltungs- macht in Gnadenentscheidungen geht eben nicht auch die absolute Kontrolle der öffentlichen Berichtestattung einher. 16.01.23.12 BKP-KANZLEI
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- 12 - II. Anspruch auf Informationszugang, Art. 10 EMRK Der Anspruch des Klägers ergibt sich ferner aus Art. 10 EMRK. Insofern wird auf die Rechtspre- chung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verwiesen, wonach sich aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 und 2 EMRK ein Recht auf Informationszugang ergeben kann (vgl. EGMR, Urteil der Großen Kammer Nr. 18030/11 vom 8. November 2016; auszugsweise in dt. Übersetzung in NLMR 2016, 536 Rn. 155 f., 158 ff.). Das von dem Kläger in seiner Rolle als Journalist und somit in seiner Funktion als „public watchdog“ geltend gemachte Auskunftsbegehren ist von der Garantie des Art. 10 Abs. 1 EMRK erfasst. C. ERGEBNIS Der Berufung ist stattzugeben. Sebastian Sudrow RECHTSANWALT FACHANWALT FÜR IT-RECHT 16.01.23.12 BKP-KANZLEI
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