Die Konditionalitätsregelung nach der Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092

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sowie eine vollständige oder teilweise Aussetzung der eine vollständige oder teilweise Ausset-
zung der Auszahlung von Tranchen oder eine vorzeitige Rückzahlung von aus dem Haushalt der
Union garantierten Darlehen (lit. iii)).

Ferner können Maßnahmen angenommen werden, wenn die Kommission den Haushalt der
Union in geteilter Mittelverwaltung mit den Mitgliedstaaten gemäß Art. 62 Abs. 1 lit. b) der Haus-
haltsordnung ausführt (Art. 5 Abs. 1 lit. b) VO 2020/2082). In diesem Fall können ebenso Maß-
nahmen, wie eine Aussetzung der Genehmigung eines oder mehrerer Programme oder die Ände-
rung der Aussetzung (lit. i)), eine Aussetzung von Mittelbindungen oder eine Reduzierung von
Mittelbindungen, einschließlich durch Finanzkorrekturen oder Mittelübertragungen auf andere
Ausgabenprogramme (lit. ii), iii)) bis hin zu einer Unterbrechung von Zahlungsfristen sowie einer
Aussetzung von Zahlungen (lit. vi)) erfolgen.

Gemäß Art. 5 Abs. 2 VO 2020/2092 berührt die Verhängung von Maßnahmen nicht die Verpflich-
tungen der staatlichen Einrichtungen nach Art. 5 Abs. 1 VO 2020/2092, das von der Maßnahme
betroffene Programm oder den von der Maßnahme betroffenen Fonds auszuführen, und insbeson-
dere nicht ihre Verpflichtungen gegenüber Endempfängern oder Begünstigten, einschließlich der
Verpflichtung zur Leistung von Zahlungen im Rahmen dieser Verordnung und der anwendbaren
sektorspezifischen Vorschriften oder Haushaltsvorschriften.”

Eine Aussage zum Umfang von Maßnahmen trifft Art. 5 Abs. 3 VO 2020/2092. Danach müssen
die getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sein und die tatsächlichen oder potenziellen Aus-
wirkungen der Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit auf die wirtschaftliche
Führung des Haushalts der Union oder auf die finanziellen Interessen der Union berücksichtigen.
Der Art, der Dauer, der Schwere und dem Umfang der Verstöße gegen die Grundsätze der Rechts-
staatlichkeit soll dabei gebührend Rechnung getragen werden. Die Maßnahmen sollen zudem -
soweit möglich - auf die durch die Verstöße beeinträchtigten Handlungen der Union ausgerichtet
sein, Art. 5 Abs. 3 VO 2020/2092.

Art. 5 Abs. 4 und Abs. 5 VO 2020/2092 dienen dem Schutz der Endempfänger oder Begünstigten,
die Verstöße gegen das Unionsrecht melden.”' Gemäß Art. 5 Abs. 5 VO 2020/2092 unternimmt

 

23 Bei der Ausführung von Unionsmitteln in geteilter Mittelverwaltung erstatten die Mitgliedstaaten, die von ge-
mäß dieser Verordnung angenommenen Maßnahmen betroffen sind, der Kommission alle drei Monate nach An-
nahme der genannten Maßnahmen darüber Bericht, wie sie diesen Verpflichtungen nachkommen,

Art. 5 Abs. 2 letzter Satz VO 2020/2092.

24 Die Kommission stellt gemäß Art. 5 Abs. 4 VO 2020/2092 den Endempfängern oder Begünstigten über eine
Website oder ein Internetportal Informationen und Leitlinien zu den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gemäß
Art. 5 Abs. 2 VO 2020/2092 zur Verfügung. Ferner stellt die Kommission den Endempfängern oder Begünstigten
über dieselbe Website bzw. dasselbe Internetportal geeignete Instrumente zur Verfügung, mit denen sie die
Kommission über jegliche Verstöße gegen diese Verpflichtungen, von denen diese Endempfänger oder Begüns-
tigten ihrer Ansicht nach unmittelbar betroffen sind, informieren können. Bei der Anwendung von
Art. 5 Abs. 4 VO 2020/2092 wird sichergestellt, dass Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, im
Einklang mit den in der Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates niedergelegten
Grundsätzen geschützt werden. Den Informationen, die von Endempfängern oder Begünstigten gemäß
Art. 5 Abs. 4 VO 2020/2092 bereitgestellt werden, wird der Nachweis darüber beigefügt, dass der betreffende
Endempfänger oder Begünstigte eine offizielle Beschwerde bei der zuständigen Behörde des betreffenden Mit-
gliedstaats eingereicht hat.
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die Kommission „alles in ihrer Macht Stehende, um sicherzustellen, dass jeder von staatlichen
Einrichtungen oder Mitgliedstaaten [...] geschuldete Betrag [...] an die Endempfänger oder Be-
günstligten gezahlt wird“. Die Vorschrift wird dabei im Hinblick auf das Erfordernis der Unions-
rechtmäßigkeit der Zahlung als Voraussetzung für die Schadloshaltung der Empfänger im Schrift-
tum unterschiedlich bewertet.”

Das Verfahren zur Aufhebung von Maßnahmen ist zudem in Art. 7 VO 2020/2092 geregelt. Da-
nach kann eine Aufhebung von Maßnahmen auf Ersuchen des Mitgliedstaats oder Initiative der
Kommission erfolgen, Art. 7 Abs. 2 VO 2020/2092.

4. Ausblick: Weitere Entwicklungen

Die weitere Entwicklung des Rechtsstaatskonflikts mit der Republik Polen hängt mit der An-
wendbarkeit der VO 2020/2092 im Allgemeinen (Ziff. 4.1.) sowie gegenüber der Republik Polen
(Ziff. 4.2.) im Besonderen zusammen. Im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatskonflikt mit der
Republik Polen wird zudem der Austritt Polens aus der Europäischen Union (sog. „Polexit“) dis-
kutiert (Ziff. 4.3.).

4.1. Anwendbarkeit der VO 2020/2092

Im Hinblick auf die Anwendbarkeit der VO 2020/2092 stellen sich verschiedene Fragen. Zu-
nächst hat der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 10./11.12.2020 Anforderungen
an die Anwendbarkeit der VO 2020/2092 gestellt (Ziff. 4.1.1.). Ferner sind Klagen der Republik
Polen und Ungarns auf Erklärung der Nichtigkeit der VO 2020/2092 beim EuGH rechtshängig
(Ziff. 4.1.2.). Zuletzt hat das Europäische Parlament die Kommission wegen der fehlenden An-
wendung der VO 2020/2092 verklagt (Ziff. 4.1.3.).

4.1.1. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10./11.12.2020

Der Entwurf der VO 2020/2092 (VO-E) war Gegenstand des Europäischen Rates vom
10./11.12.2020. In seinen Schlussfolgerungen vom 10./11.12.2020° (Schlussfolgerungen) trifft
der Europäische Rat Aussagen zur Anwendbarkeit und Ausgestaltung der Regelungen des VO-E.

Hierzu erinnert der Europäische Rat zunächst, dass bei Verletzungen von Werten des Art. 2 EUV
das Verfahren gemäß Art. 7 EUV Anwendung findet. In der Folge wendet sich der Europäische

 

25 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Mader, EuZW 2021, 133, 135.

26 Kritisch Scheppele, Pech, Platon, Compromising the rule of law while compromising on the rule of law: Ziff. 1,
Abs. 7 (https:verfassungsblog.de/compromising-the-rule-of-law-while-compromising-on-the-rule-of-law/), die
eine Garantie der Union für Zahlungen aufgrund von Art. 5 Abs. 5 VO 2020/2092 auch dann annehmen, wenn
Zahlungen in korrupter Art und Weise erfolgten; a. A. Mader, EuZW 2021. 133, 135, der unter Berücksichtigung
von Erwägungsgrund 19 eine unionsrechtskonforme Begünstigung als Bedingung für eine Schadloshaltung der
Empfänger ansicht,

27. Europäischer Rat, Tagung des Europäischen Rates (10. und 11. Dezember 2020) — Schlussfolgerungen, (EUCO
22/20) vom 11.12.2020.
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Rat dem Entwurf der VO-E zu und führt aus, dass die Anwendung des sog. Konditionalitätsme-
chanismus (Mechanismus) im Rahmen der VO-E objektiv, fair, unparteiisch und faktengestützt
erfolgen wird und dabei ein ordnungsgemäßes Verfahren, Nichtdiskriminierung und Gleichbe-
handlung der Mitgliedstaaten gewährleistet wird.””

Ferner weist der Europäische Rat darauf hin, dass die Kommission beabsichtigt, Leitlinien zu der
Art und Weise, wie sie die VO-E anwenden wird, einschließlich einer Methode für die Durchfüh-
rung ihrer Bewertung, zu entwickeln und anzunehmen.” Diese Leitlinien würden in enger Ab-
stimmung mit den Mitgliedstaaten erstellt. Sollte eine Nichtigkeitsklage zu der Verordnung erho-
ben werden, so würden die Leitlinien nach dem Urteil des Gerichtshofs fertiggestellt, sodass et-
waige relevante Elemente, die sich aus dem Urteil ergeben, einbezogen werden könnten. Die Prä-
sidentin der Kommission wird den Europäischen Rat umfassend unterrichten. Die Kommission
beabsichtigt keine Maßnahmen im Rahmen der Verordnung vorzuschlagen, solange die Leitlinien
nicht fertiggestellt sind.’

Bei der Anwendung des Mechanismus soll sein subsidiärer Charakter geachtet werden. Maßnah-
men im Rahmen des Mechanismus würden nur dann erwogen, wenn andere Verfahren nach dem
Unionsrecht, einschließlich der VO-E mit gemeinsamen Bestimmungen, der Haushaltsordnung
oder Vertragsverletzungsverfahren im Rahmen des Vertrags, keinen wirksameren Schutz des
Haushalts der Union ermöglichen.”

Nach einem Hinweis auf das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit,” weist der Europäische Rat
darauf hin, dass die in der VO-E genannten Auslösefaktoren als erschöpfende Liste homogener
Elemente, in die keine Faktoren oder Ereignisse anderer Art aufgenommen werden können, zu
lesen und anzuwenden seien und sich die VO 2020/2092 nicht auf generelle Mängel beziehe.”
Weitere Schlussfolgerungen des Europäischen Rates beziehen sich u. a. auf Fragen des Verfahren-
sablaufs (bspw. auf einen vorausgehenden Dialog zwischen der Kommission und dem betreffen-
den Mitgliedstaat) oder die Verantwortung der Kommission im Rahmen des Verfahrens.”

In Ziff. I. Nr. 3 der Schlussfolgerungen begrüßt der Europäische Rat ferner die Absicht der Kom-
ınission, bei der Beschlussfassung über die Verordnung eine Erklärung für das Ratsprotokoll ab-

 

28 Schlussfolgerungen (Fn. 27) Ziff. 1, 2. lit. b); vgl. hierzu Anmerkungen von Mader. EuZW 2021, 133. 138.

29 In seiner Entschließung vom 17. Dezember 2020 zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027, der interinstituti-
onellen Vereinbarung. dem EU-Aufbauinstrument und der Verordnung über die Rechtsstaatlichkeit
(2020/2923(RSP), Rn. 9 {P9_TA(2020)0360) weist das Europäischen Parlament darauf hin, dass der VO-E keine
derartigen Leitlinien vorsieht; aus der Literatur Mader, EuZW 2021, 133, 138.

30 Schlussfolgerungen (Pn. 27) Ziff. L., 2. lit. c): vgl. hierzu Anmerkungen von Mader, EuZW 2021, 133, 138.

31 Schlussfolgerungen (Fn. 2727) Ziff. 1., Nr. 2. lit. d); vgl. hierzu Anmerkungen von Mader, EuZW 2021, 133. 138.

32 Schlussfolgerungen (Fn. 27) Ziff. 1, Nr. 2. lit. e); vgl. hierzu Anmerkungen von Mader, EuZW 2021, 133, 138 f..

33 Schlussfolgerungen {Fn. 27) Ziff. I., Nr. 2. lit. D; vgl. hierzu Anmerkungen von Mader, EuZW 2021, 133, 138 £..

34 Schlussfolgerungen ({Fn. 27) Ziff. 1., Nr. 2. lit. g-k). vgl. hierzu Anmerkungen von Mader, EuZW 2021, 133,139.
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zugeben, in der sie sich verpflichtet, die unter Zif. 1. Nr. 2 genannten Elemente, die in den Zu-
ständigkeitsbereich der Kommission fallen, bei der Anwendung der Verordnung zu berücksichti-
pr. 3°

gen.

OD

Nach Ansicht in der Literatur enthalten die Schlussfolgerungen im Ergebnis zahlreiche Formulie-
rungen, die eine Erschwerung bzw. Verzögerung der Durchführung von Maßnahmen nach der
VO 2020/2092 zur Folge hätten.’ Dies würde im Ergebnis zu einer Verletzung von Primärrecht,
namentlich der Art. 13 Abs. 2 EUV, Art. 15 Abs. 1 Satz 2 EUV, Art. 17 Abs. 3, 4 EUV bzw.

Art. 278 AEUV sowie Art. 322 AEUV führen.”

Allerdings wären diese Verletzungen unerheblich, soweit die Schlussfolgerungen keine rechtlich
bindende Wirkung entfalten. Zu dieser Frage äußerte sich der Juristische Dienst des Rates, der in
seinem Gutachten vom 11.12.2021 [esthielt, dass „Teil I der Schlussfolgerungen des Europäi-
schen Rates dem Inhalt und den Zielen der Verordnung entspricht und damit vereinbar ist. Ins-
besondere stellt kein Element von Teil I der Schlussfolgerungen einen Gegensatz zu, einen Wider-
spruch gegenüber oder eine Änderung der Verordnung dar. Es wird darin das unter Nummer 1
genannte gemeinsame Verständnis dargelegt.“”. Ferner kommt der Juristische Dienst in seinem
Gutachten zu der Ansicht, dass Teil I der Schlussfolgerungen mit den Verträgen der EU und dem
Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts übereinstimme. In den Schlussfolgerungen „wer-
den im Einklang mit den Verträgen die Befugnisse der verschiedenen Organe, einschließlich des
Befugnisses des Mitgeselzgebers zur Annahme der Verordnung sowie des Befugnisses der Kom-
mission und des Rates zu Verpflichtungen über deren Anwendung, geachtet“.

In eine Ähnliche Richtung argumentiert das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom
17.12.2020, in der das Parlament die Auffassung vertritt, dass der Europäische Rat gemäß

 

35 Vgl. hierzu Erklärung der Kommission im Vermerk des Rats der Europäischen Union, Interinstitutionelles Dos-
sier: 2018/0136 (COD), Räts-Dok. 14020/20, Anhang I.

36 Mader, EuZW 2021, 133, 139.

37 Vgl. hierzu die Ausführungen von Mader, EuZW 2021, 133, 139, vgl. dazu auch Aleınanno/Chamon, 'To Save
the Rule of Law you Must Apparenily Break It, verfassungsblog.de vom 11.12.2020, (https://verfassungs-
blog.de/to-save-the-rule-of-law-you-must-apparently-break-it/) (zuletzt abgerufen am 22.11.2021).

38 Juristischer Dienst des Rates, Gutachten vom 11.12.2020, Teil I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates
vom 10. Und 11. Dezember 2020 — Übereinstimmung mit den Verträgen und mit der Verordnung über eine all-
gemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union, Ziff. 3, (Rats-Dok. 13961/20).

39 Juristischer Dienst des Rates, Gutachten vom 11.12.2020, Teil I der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates
vom 10. Und 11. Dezember 2020 - Übereinstimmung mit den Vert rägen und mit der Verordnung über eine all-
gemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union, Ziff 4., (Rats-Dok. 13961/20).
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Art. 15 Abs. 1 EUV nicht gesetzgeberisch tätig werde.” Eine politische Erklärung des Europäi-
schen Rates könne daher nicht als Auslegung von Rechtsvorschriften angesehen werden, da die
Auslegung von Rechtsvorschriften dem EuGH obliege.”

Auch in der Literatur wird die Ansicht vertreten, dass es sich bei den Schlussfolgerungen um
eine „gemeinsame politische Meinungskundgebung“ handele, die keinen rechtsverbindlichen
Charakter im Hinblick auf die VO 2020/2092 haben.”?

4.1.2. Verfahren vor dem EuGH (Rs. C-156/21 und Rs. G-157/21)

Vor dem EuGH sind derzeit Klagen Ungarns"’ sowie der Republik Polens," jeweils eingereicht
am 11.03.2021, mit dem Ziel rechtshängig, die VO 2020/2092 gemäß Art. 263 AEUV für nichtig
zu erklären. Beide Kläger tragen sinngemäß vor, dass die für den Erlass der VO 2020/2092 ge-
wählte Rechtsgrundlage Art. 322 Abs. 1 lit. a) AEUV nicht tauglich und überdies eine geeignete
Rechtsgrundlage nicht ersichtlich sei.

   

40 Entschließung dos Europäischen Parlaments vom 17. Dezember 2020 zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-
2027, der interinstitutionellen Vereinbarung, dem EU-Aufbauinstrument und der Verordnung über die Rechts-
staatlichkeit (2020/2923{RSP), Ziff. 5 (Po_TA(2020)0360).

41 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Dezember 2020 zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-
2027, der interinstitutionellen Vereinbarung, dem EU-Aufbauinstrument und der Verordnung über die Rechts-
staatlichkeit (2020/2923(RSP). Ziff 5 (P9_TA(2020)0360).

42 Vgl. hierzu die Ausführungen von Mader, EuZW 2021, 133, 140 I.

43 Ungarn/Europäisches Parlament, Rat der Europäischen Union; Klage eingereicht beim EuGH am 11. März 2021
(Rechtssache C-156/21).

44 Republik Polen/Europäisches Parlaınent, Rat der Europäischen Union; Klage eingereicht beim EuGH am 11.
Mäız 2021 (Rechtssache C-157/21).

45 Vorschlag der Kommission vom 2. Mai 2018 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip
in den Mitgliedstaaten, COM(2018) 324 final, Dok. 8356/18.
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Ferner rügen die Kläger inhaltliche Verstöße gegen das Primärrecht, namentlich Art. 7 EUV,
Art. 4 Abs. 1 und 2 EUV, Art. 5 Abs. 2, 4 EUV sowie Art. 13 Abs. 2 EUVM

Die gemeinsame mündliche Verhandlung fand am 11./12.10.2021 statt.‘* Der Termin zum Vortrag
der Schlussanträge ist für den 02.12.2021 anberaumt.””

4.1.3. Verfahren des Europäisches Parlament/Europäische Kommission vor dem EuGH

Das Europäische Parlament hat am 29.10.2021 die Europäische Kommission wegen der fehlenden
Anwendung der VO 2020/2092 verklagt.”® Weitere Informationen über den Inhalt der Klage und
zum Verfahrensstand sind bisher auf den Internetseitenseiten des EuGH nicht veröffentlicht wor-
den."

4.2. Anwendbarkeit der VO 2020/2092 im Rechtsstaatskonflikt mit der Republik Polen

Im Folgenden Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, ob Maßnahmen gegenüber der Re-
publik Polen auf der Grundlage der VO 2020/2092 derzeit möglich erscheinen.””

 

48 Für eine Zusammenfassung und Analyse der mündlichen Verhandlung vgl.: Sanıgi. Historische Zäsur für den
Rechtsstaat - Dokumentation einer Verhandlung in Luxemburg, verfassungsblog.de vom 14.10.2021.
(https://verfassungsblog.de/historische-zasur-fur-den-rechtsstaat/) (zuletzt abgerufen am 22.11.2021); vgl. auch:
Morijn, A Closing of Ranks - 5 key moments in the hearing in Cases C-156/21 an C-157/21, verfassungsblog.de
vom 14.10.2021 (https://verfassungsblog.de/a-closing-of-ranks/) (zuletzt abgerufen am 22.11.2021).

49 Vgl. Gerichtskalender des EuGH, verfügbar auf der Internetseite des EuGH (https://curia.europa.a).

50 Pressemitteilung des Europäischen Parlamentes, „Parliament files lawsuit against Commission over rule of law
nechanisın“ vom 29.10.2021. Der Klage folgt Entschließungen des Europäischen Parlamentes, mit denen das
Parlament die Kommission zur Anwendung der VO 2020/2092 aufgefordert hat: Entschließung des Europäi-
schen Parlaments vom 25. März 2021 zu der Anwendung der Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 (an die
Rechtsstaatlichkeit geknüpfter Konditionalitätsinechanismus) (2021/2582{RSP)) (P9_TA(2021)0103); Entschlie-
Bung des Europäischen Parlaments vom 10. Juni 2021 zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen
Union und zur Anwendung der Konditionalitätsverordnung (EU, Euratom) 2020/2092 (2021/2711(RSP))
(P9_TA(2021)0287).

51 Laut Presseberichten bewertet der Juristische Dienst des Europäischen Parlaments die Erfolgsaussichten der
Klage als „sehr gering“ (Gutschker, FAZ.net vom 29.10.2021 - https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/eu-
parlament-verklagt-eu-kommission-wegen-unlaetigkeit-17609623.htın]) (zuletzt abgerufen am 22.11.2021).

91
nD

Folgt man der Ansicht des Juristischen Dienstes des Rates in seinem vom Gutachten vom 11.12.2020 (Fn. 38)
sowie Stimmen der Literatur (Fn. 42), stellen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom
10./11.12.2020 (Fn. 27) keine Hindernisse für die Anwendbarkeit der VO 2020/2092 dar (siehe dazu die Ausfüh-
rungen oben unter Ziff. 4.1.1.).
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Die Entscheidung darüber, ob durch die Justizreformen in Polen ein Verstoß gegen den Grundsatz
der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 VO 2020/2092 vorliegt, obliegt gemäß Art. 6
Abs. 1 VO 2020/2092 zunächst der Kommission (im Anschluss dem Rat).

Im Hinblick auf die angesprochenen Justizreformen in Polen wäre ein Verstoß gegen den Grund-
satz der Rechtsstaatlichkeit gemäß Art. 4 Abs. 1i. V. m. Art. 4 Abs. 2 lit. d) VO 2020/2092 grund-
sätzlich denkbar. Danach betreffen Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, die
wirksame gerichtliche Kontrolle behördlicher Handlungen oder Unterlassungen im Sinne der
Art. 4 Abs. 2 lit. a), b) und c) VO 2020/2092 durch unabhängige Gerichte. Die in Erwägungs-
grund 165° genannten Quellen für die Feststellung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit
liefern einige Hinweise dafür, dass dies der Fall sein könnte.

Zunächst könnten sich Anhaltspunkte für entsprechende Rechtsstaatlichkeitsmängel aus den seit
2018 vor dem EuGH geführten Verfahren gegenüber der Republik Polen ergeben, in denen sich
der EuGH mit verschiedenen Aspekten der polnischen Justizreformen der vergangenen Jahre be-
fasst und hierbei u. a. den durch Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV’* gewährleisteten Grundsatz des
wirksamen gerichtlichen Schutzes und das darin enthaltene Erfordernis der Unabhängigkeit der
Gerichte zur Anwendung gebracht hat. Zu nennen sind hierbei insbesondere die von der Kommis-
sion gegen Polen geführte Vertragsverletzungsverfahren, in denen der EuGH Verstöße u. a. gegen
Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV festgestellt hat (u. a. im Zusammenhang mit der Absenkung des Ru-
hestandsalters” und der am Obersten Gericht Polens eingerichteten Disziplinarkammer”).

Zudem haben die Kommission und auch das Europäische Parlament rechtsstaatliche Bedenken
hinsichtlich der Justizreformen in Polen geäußert. Das Europäische Parlament hat bereits 2020
eine Entschließung zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen angenommen, in der sie die Ent-
wicklungen in Polen als „eine strukturelle Bedrohung der in Artikel 2 des Vertrags über die Euro-
püische Union (EUV) genannten Werte“ und als „Gefahr [der] schwerwiegenden Verletzung“ die-
ser Werte bezeichnet hat.’

53 Siehe dazu oben unter Fn. 16.
54 Siehe dazu oben unter Fn. 4.

55 EuGH, Urteil vom 5.11.2019, Rs. C-192/18, Komnuission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte); EuGH,
Urteil vom 24.6.2019, Rs. C-619/18, Kominission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts), vgl. hierzu auch
EuCH. Beschluss vom 17.12.2018, Rs. C-619/18 R (einstweilige Anordnung gemäß Art. 279 AEUV).

56 EuGH, Urteil vom 15.7.2021, Rs. C-791/19 Kommission/Polen (Rögime disciplinaire des juges), vgl. hierzu auch
EuGH, Beschluss vom 8.4.2020, Rs. C-791/19 R (einstweilige Anordnung gemäß Art. 279 AEUV). Die Kommission
hat am 1. April 2021 eine weitere Vertragsverletzungsklage gegen Polen eingereicht, anhängig beim EuGH unter der
Rs. C-204/21, vgl. hierzu EuGH, Beschluss vom 14.7.2021, Rs. C-204/21 R (einstweilige Anordnung gemäß Art. 279
AEUV), vgl. auch EuGH, Beschluss vom 27.10.2021, Rs. C-204/21 R (Anordnung eines Zwangsgeldes).

57 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. September 2020 zu dem Vorschlag für einen Beschluss des
Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch
die Republik Polen (COM(2017)0835 — 2017/0360R_NLE)) (P9_TA(2020)0225), Ziff. 2.
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EEE

Die Kommission hat in ihrem Bericht über die Rechtsstaatlichkeit vom 20.07.2021 ihre „große
Besorgnis“ bezüglich des Abbaus der Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz und zu dem zu-
nehimenden Einfluss der Exekutive und Legislative in Polen ausgedrückt:

„In Polen geben die Reformen, einschließlich neuer Entwicklungen, Anlass zu großer Besorg-
nis, worauf bereits 2020 verwiesen wurde. Insbesondere kann die Unabhängigkeit der Diszip-
linarkammer des Obersten Gerichts nicht garantiert werden, diese erlässt jedoch weiterhin
Entscheidungen mit direkten Auswirkungen auf Richter und die Art, wie sie ihre Funktion
ausüben, was mit einer „abschreckenden Wirkung“ auf Richter einhergeht.”” Darüber hinaus
wurden Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit und Legitimität des Verfassungsgerichts-
hofes noch nicht ausgeräumt, wie durch die Feststellung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte bestätigt wird, nach der die Zusammenseizung eines Spruchkörpers des Ver-
fassungsgerichtshofes nicht der Anforderung eines „au f Gesetz beruhenden Gerichts“ ent-
sprach®" [Urteil vom 7. Mai 2021, Xero Flor w Polsce sp. 2 0.0/Polen, {Antrag Nr. 4907/18), .

Darüber hinaus wird die Republik Polen im diesjährigen EU-Justizbarometer im Hinblick auf die
Unabhängigkeit der Justiz am unteren Ende der Skala wahrgenommenen.°® Danach zeigten die
Befragungen von Unternehmen und der Öffentlichkeit, dass die wahrgenommene Unabhängigkeit
der Justiz in der Republik Polen bei unter 30 % liegt.“” Eine ausführliche Betrachtung der Unab-
hängigkeit des polnischen Justizsystems findet sich im Bericht der Europäischen Kommission
über die Rechtsstaatlichkeit 2021 (Länderkapitel zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen).

Schließlich sieht auch die Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO)” die Unabhängigkeit
der Justiz in der Republik Polen gefährdet. In ihrem Interim Compliance Report zur vierten Eva-'

 

58 MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN
WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN. Bericht über die Rechts-
staatlichkeit 2021 — Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union vom 20.07.2021 (COM(2021)
700 final), Seite 9 (Rechtstaatsbericht 2027).

ar
D&D

MITTEILUNG DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DIE
EUROPÄISCHE ZENTRALBANK, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND
DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN EU-Justizbarometer 2021 vom 8.7.2021 COM(2021) 389 final (EU-Justizba-
rometer 2021), Schaubilder 48 und 50.

60 Rechtstaatsbericht 2021 (Fn. 58), Seite. 7; EU-Justizbarometer 2021 (Fn. 59). Schaubilder 48 und 50.
61 Rechtstaatsbericht Länderkapitel Polen (Fn. 3), Ziff. I. Seite 2 ff..
62 The Group of States against Corruption (GRECO) wurde 1999 vom Europarat gegründet. um die Einhaltung der

Anti-Korruptionsvorgaben des Europarats in den Mitgliedstaaten zu überwachen; siehe hierzu die Ausführun-
gen auf der Internetseite des Europarats (https://www.coe.int/en/web/greco/about-greco/what-is-greco).
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Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seile 19
Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 061/21

 

luationsrunde Polens bzgl. Prävention von Korruption unter Abgeordneten, Richtern und Staats-
anwälten® drückt die GRECO ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit Justiz in der
Republik Polen aus.°*

Eine abschließende Bewertung über die Rechtsmäßigkeit von Maßnahmen nach der
VO 2020/2092 wäre im Konfliktfall wiederum dem EuGH vorbehalten.‘®

4.3. Austritt der Republik Polen aus der Europäischen Union (sog. „Polexit“)

Im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatskonflikt mit der Republik Polen wird im Schrifttum zu-
dem der Austritt Polens aus der Europäischen Union (sog. „Polexit“) diskutiert. Grundsätzlich
erfordert der Austritt aus der Europäischen Union gemäß Art. 50 Abs. 2 Satz 1 EUV eine entspre-
chende Mitteilung des jeweiligen Mitgliedstaats an den Europäischen Rat. Das weitere Verfahren
regeln Art. 50 Abs. 3 und 4 EUV. Ein Austrittsverlangen würde daher zunächst einen entspre-
chenden politischen Meinungsbildungsprozess in Polen voraussetzen.”

Von einzelnen Stimmen in der Literatur wird in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit
eines Ausschlusses Polens aus der Europäischen Union auf der Grundlage von Völkerrecht erör-
tert.®® Eine derartige Möglichkeit wurde jedoch von anderen Stimmen in der Literatur bisher aus-
drücklich abgelehnt.“

— Fachbereich Europa —

 

63 GRECO, Fourth Evaluation Round Corruption prevontion in respect of members of parliament, judges and pro-
secutors — Interim Compliance Report Poland, 22.09.2021 (GrecoRC4(2021)18) (GRECGO-Report).

64 Vgl. GRECO-Report (Fn. 63), Seite 19, Ziff. 82, darüber hinaus wird im GRECO-Report festgestellt, dass die Re-
publik Polen bisher nur sieben von 16 Empfehlungen für die Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit aus dem Be-
richt über die vierte Evaluierungsrunde und nur eine von sechs Empfehlungen aus dem Addendum zum vierte
Evaluierungsrunde zufriedenstellend umgesetzt habe. GRECO-Report (Fn. 63), Seite 17, Ziff. 75.

65 Im Hinblick auf die derzeit vor dem EuGH geführten Verfahren der Rs. C-156/21 sowie Rs. C-157/21 (siehe dazu
oben unter Ziff. 4.1.2) ist darauf hinzuweisen, dass die VO 2020/2092 solange anwendbar bleibt, bis der EuGH
sie gemäß Art. 264 AEUV für nichtig erklärt.

66 Siehe hierzu bspw. Steinbeis. Die Tür nach draussen, Verfassungsblog vom 8.10.2021 (https://verfassungs-
blog.de/die-tur-nach-drausen/).

67 Steinbeis. Die Tür nach draussen, Verfassungsblog vom 8.10.2021 (https://verfassungsblog.de/die-tur-nach-drau-
sen/).
68 So zuletzt die Ansicht von Nettesheim, Ein Ausschluss aus der EU ist als Ultima-Ratio-Maßnahme möglich. Ver-

fassungsblog vom 02.11.2021 (https://verfassungsblug.de/ein-ausschluss-aus-der-eu-ist-als-ultima-ratio-mas-
nahme-moglich/), der mit Verweis auf Art. 60 Abs. 2 lit. a) i) Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) bzw,
Völkergewohnheitsrecht vertritt, dass auch ohne ausdrückliche primärrechtliche Vorschrift den Mitgliedstaaten
die völkerrechtliche Kompetenz zustünde, den Vertrag zwischen ihnen und dem vertragsbrüchigen Staat zu be-
enden; vgl. ferner Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, 73. EL Mai 2021, EUV, Art. 50 EUV Rn. 63 m. w.N..

69 Vgl. Terhechte, JZ 2019, 105, 111.
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