Entzug von Geldvermögen ausländischer Staaten als Sanktion

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2:4. Staatenimmunität

Völkergewohnheitsrechtlich genießen die in Deutschland deponierten Devisenreserven einer aus-
ländischen Zentralbank Vollstreckungsimmunität, da sie typischerweise hoheitlichen Zwecken
dienen.“ Die Staatenimmunität schützt vor der Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit eines an-
deren Staates sowie vor Maßnahmen zur Vollstreckung von Urteilen.“ Sofern ausländische Wäh-
rungsreserven einer Zentralbank in einem nationalen Gerichtsverfahren zur Erfüllung von An-
sprüchen herangezogen werden, könnte sich eine ausländische Zentralbank auf den Grundsatz
der Staatenimmunität berufen.” Strittig ist dagegen, inwieweit der Immunitätsschutz auch in ei-
nem Verwaltungsverfahren reicht. Das Einfrieren von Auslandsreserven einer ausländischen
Zentralbank als völkerrechtliche Sanktion lässt sich gem. Art. 51 VN-Charta (als Akt kollektiver
Selbstverteidigung) rechtfertigen; überdies stellt das Einfrieren klassischerweise eine zulässige
Gegenmaßnahme i.S.d. Art. 42 der ILC-Artikelentwürfe über die Staatenverantwortlichkeit dar.‘
Das Sonderproblem, ob und inwieweit auch eine Enteignung von Auslandsvermögen der Zentral-
bank (und ggf. dessen Verwendung zugunsten von Kriegsopfern) zulässig ist, ist keine Frage der
Immunität, sondern der Verhältnismäßigkeit der Gegenmaßnahme (Sanktion).

2.5. Fazit‘

Sanktionen dienen dazu, einem völkerrechtswidrigen Verhalten eines anderen Staates entgegen-
zuwirken. Die Sanktionen sind mit Beendigung des völkerrechtswidrigen Verhaltens grundsätz-
lich wieder aufzuheben. Dies unterscheidet sie von Reparationen zur Wiedergutmachung erlitte-
nen Unrechts. Auf Art. 51 VN-Charta gestützte „Enteignungs-Sanktionen“ wären daher zwar
denkbar, würden aber völkerrechtliche Fragen der Reversibilität, des Bestrafungsaspekts und des
Enteignungsschutzes aufwerfen. An der Zulässigkeit einer Enteignung ausländischen Staatsver-
mögens bestehen daher Zweifel. Unilaterale Sanktionen, die darauf abzielen, ausländisches
Staatsvermögen zu enteignen, um den Erlös z. B. als „Reparation“ zum kriegsbedingten Wieder-
aufbau oder zur Unterstützung von Kriegsflüchtlingen zu verwenden, lassen sich in der bisheri-
gen Staatspraxis kaum ausmachen.

40 Vgl. BVerfGE 64, 1 (45 f.) = NJW 1983, 2766; BGH NJW-RR 2013, 1532 Rn. 13.
41 Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht, Heidelberg: C.F. Müller, 4, Aufl. 2017, Rn. 94.

42 Wuerth, “Does Foreign Sovereign Immunity Apply to Sanctions on Central Banks?”, Lawfare Blog, 7. März 2022,
https://www.lawfareblog.com/does-foreign-sovereign-immunity-apply-sanctions-central-banks. Moiseienko er-
örtert die Möglichkeit, Privatklagen gegen Russland vor inländischen Gerichten zu ermöglichen, um Personen
zu entschädigen, die durch die Handlungen Russlands zu Schaden gekommen sind. Die russischen Zentralbank-
guthaben würden dann im Zuge eines Vollstreckungsverfahrens nach entsprechendem grundständigemn Urteil
zur Befriedigung dieser Ansprüche verwendet werden. Eine Staatenpraxis, die dies untermauert ist bislang
kaum auszumachen. Fraglich bleibt auch, ob das Vollstreckungsverfahren dann nicht am Grundsatz der Immu-
nität scheitert. Vgl. Moiseienko, “Russian Assets, Accountability for Ukraine, and a Plea for Short-Term Think-

ing”, Blog of the European Journal of International Law, 5. März 2022, https://www.ejiltalk.org/russian-assets-
accountability- -for-ukraine-and-a-plea-for-short-term-thinking/. .

43 So Schmahl, „Völker- und europarechtliche Implikationen des Angriffskriegs auf die Ukraine“, in: NJW 2022,
S. 969-974 (973).
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Der Grundsatz der Staatenimmunität schützt allein vor der Unterwerfung eines Staates unter die
Gerichtsbarkeit eines anderen Staates. Zwangsvollstreckungen in die bei deutschen Banken depo-
nierten Devisenreserven einer ausländischen Zentral- oder Staatsbank wären — etwa auf der
Grundlage von Privatklagen gegen Russland - völkerrechtlich nicht möglich.

3. Sanktionen durch die EU

Der Fachbereich Europa wurde um Prüfung gebeten, ob eine Enteignung ausländischen Staatsver-
mögens in der EU auf der Grundlage von Unionsrecht möglich sei. Hierzu wird unterstellt, dass
die Europäische Union im Einzelfall einen hoheitlichen Zugriff auf das ausländische Vermögen
hat.

Im Folgenden soll daher geprüft werden, ob sich eine Kompetenz der Europäischen Union zur
Enteignung ausländischen Staatsvermögens aus den Unionsverträgen (Vertrag über die Europäi-
sche Union (EUV) und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)) ergibt
(Ziff. 3.1.) bzw. eine derartige Kompetenz im Rahmen von europäischen Wirtschaftssanktionen
besteht (Ziff. 3.2.).

Darauf folgend widmet sich die Ausarbeitung in einem Exkurs der Frage, welche Vorgaben die
Europäische Grundrechtecharta (GRCh) im Hinblick auf hypothetische Enteignungen ausländi-
schen Staatsvermögens auf der Grundlage von Unionsrecht in der EU vorsähe (Ziff. 3.4.).

3.1. Kompetenz der Union zur Enteignung im Rahmen der Unionsverträge

Eine ausdrückliche Kompetenz der Union zur Enteignung ausländischen Staatsvermögens | in der
EU ist in den Unionsverträgen nicht ersichtlich.

Dagegen verweist Art. 345 AEUV darauf, dass die Unionsverträge die Eigentumsordnung in den
verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt lassen. Somit verbleibt nach Ansicht in der Literatur
den Mitgliedstaaten die Kompetenz für die Ausgestaltung ihrer Eigentumsordnung; die Union
verfügt daher insoweit über keine Zuständigkeit.*

Nach Ansicht des EuGH führt Art. 345 AEUV jedoch nicht. dazu, dass die in den Mitgliedstaaten
bestehenden Eigentumsordnungen den Grundprinzipien des AEUV, u. a. denen der Nichtdiskri-
minierung, der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit, entzogen sind.*° Darüber
hinaus finden sich für die Auslegung von Art. 345 AEUV in der Rechtsprechung des EuGH nur

44 Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 345 AEUV, Rn. 1; zur dogmatischen Einordnung der
Vorschrift Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 345 AEUV, Rn. 4 f., 10; Kühling, in:
Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 345 AEUV, Rn. 1.

45 Vgl. GUTACHTEN 2/15 DES GERICHTSHOFS (Plenum) vom 16. Mai 2017, Rn. 107 mit Verweis auf EuGH, Ur-
teil vom 22. Oktober 2013, verb. Rs. C-105/12 bis C-107/12 (Niederlande/Essent NV u. a.), ECLI:EU:C:2013:677,
Rn. 36, m. w. N. aus der Rechtsprechung.
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wenige Ansätze.“ Die inhaltliche Reichweite der Norm kann daher nicht abschließend bewertet
‚werden.

3.2. Kompetenz der Union zur Enteignung im Rahmen von Wirtschaftssanktionen

Sofern keine allgemeine Rechtsgrundlage zur Enteignung ausländischen Staatsvermögens in den
Unionsverträgen ersichtlich ist, stellt sich die Frage, ob sich eine Kompetenz der Union möglich-
erweise im Rahmen von Wirtschaftssanktionen ergibt.

Nachfolgend soll auf die Rechtsgrundlage und das Verfahren zum Erlass von Wirtschaftssanktio-
nen durch die EU eingegangen werden (Ziff.3.2.1. und Ziff. 3.2.2.).

3.2.1. Rechtsgrundlage von Wirtschaftssanktionen

Die Kompetenz der Union zur Einführung restriktiver Maßnahmen findet sich in Art. 215 AEUV.
Gemäß Art. 215 Abs. 1 AEUV kann der Rat die erforderlichen Maßnahmen mit qualifizierter
Mehrheit auf gemeinsamen Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicher-
heitspolitik und der Kommission erlassen, wenn ein nach Titel V Kapitel 2 des Vertrags über die
Europäische Union (EUV) erlassener Beschluss die Aussetzung, Einschränkung oder vollständige
Einstellung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zu einem oder mehreren Drittländern vor-
sieht.* Der Rat unterrichtet hierüber das Europäische Parlament.

3.2.2. Verfahren zum Erlass von Wirtschaftssanktionen.

Der Erlass restriktiver Maßnahmen gegenüber Staaten erfolgt gemäß Art. 215 Abs. 1 AEUV in ei-
nem zweistufigen Verfahren.

3.2.2.1. Erste Stufe - GASP-Beschluss gemäß Art. 29 EUV

Auf der ersten Stufe ist ein GASP-Beschluss gemäß Titel V Kapitel 2 EUV erforderlich.“ In Be-
tracht kommt insbesondere der Beschluss gemäß Art. 29 EUV (Standpunkte der Union),* von
dem der Rat in der Vergangenheit im Bereich der restriktiven Maßnahmen sowie im Bereich der

46 Kühling, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 345 AEUV, Rn. 1 f.; Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar,
4, Aufl. 2019, Art. 345 AEUV, Rn. 2.

47 Vgl. hierzu Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 10,

48 Zum Rechtscharakter eines GASP-Beschlusses vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6, Auflage 2022,
° Art. 29 EUV, Rn. 4 ff; zur Intergouvernementalität der GASP vgl. bereits Pechstein, JZ 2010, 425.

49 Vgl. hierzu Rat der Europäischen Union, Sanktionsleitlinien - Aktualisierung vom 8.12.2017 (Rats-Dok.

15598/17), https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15598-2017-INIT/de/pdf; aus dem Schrifttum
Schnieider/

Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. EL September 2021,
Art. 215 AEUV, Rn. 15; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 10.
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Terrorismusbekämpfung rege Gebrauch gemacht hat.°’ Die Beschlüsse nach Art. 29 EUV ergehen
in dem in Art. 31 Abs. 1 EUV genannten Verfahren durch den Rat einstimmig.°' Ausnahmen von
diesem Grundsatz enthält Art. 31 Abs. 2 EUV, in denen auch mit qualifizierter Mehrheit ent-
schieden werden kann.

3.2.2.1.1. Zuständigkeit der Union im Rahmen der GASP

Grundsätzlich erstreckt sich die Zuständigkeit der Union in der GASP gemäß

Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 EUV auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im
Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer
gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann. Gemäß
Art. 24 Abs. 2 EUV verfolgt, bestimmt und verwirklicht die Union im Rahmen der Grundsätze
und Ziele ihres auswärtigen Handelns eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die auf
einer Entwicklung der gegenseitigen politischen Solidarität der Mitgliedstaaten, der Ermittlung
der Fragen von allgemeiner Bedeutung und der Erreichung einer immer stärkeren Konvergenz.
des Handelns der Mitgliedstaaten beruht.

3.2.2.1.2. Grundsätze und Ziele der GASP

Für die inhaltliche Ausgestaltung der GASP verweist Art. 23 EUV auf Kapitel 1 Titel V und damit
insbesondere auf Art. 21 EUV (Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union). Die
Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union, von denen sich die Union bei ihrem
Handeln auf internationaler Ebene leiten lässt, umfassen gemäß Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1 EUV De-
mokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte
und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der
Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen
und des Völkerrechts.’

3.2.2.1.3. Inhalt des Beschlusses gemäß Art. 29 EUV

Zum möglichen Inhalt des Beschlusses über einen Standpunkt trifft Art. 29 EUV keine unmittel-
bare Aussage.

Der EuGH hat in seinem Urteil. vom 28. März 2017 (Rs. C-72/15) ausgeführt, dass sich aus den
Art. 24 und 29 EUV ergebe, dass es grundsätzlich Sache des Rates sei, einstimmig den Gegen-
stand der restriktiven Maßnahmen festzulegen, die die Union im Bereich der GASP erlässt. We-
gen des breiten Spektrums der in Art. 3 Abs. 5 EUV und Art. 21 EUV sowie den speziellen Vor-
schriften über die GASP, insbesondere den Art. 23 und 24 EUV, genannten Ziele und Felder der

50 Terhechte, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 21 EUV, Rn. 7 £.

51 Schneider/Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. EL September 2022,
Art. 215 AEUV, Rn. 15.

52 Vgl. dazu auch Egger, EuZW, 2019, 326, 327.
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GASP verfüge der Rat bei der Festlegung des Gegenstands der restriktiven Maßnahmen über ei-
nen großen Spielraum.°® Dies gelte nach Ansicht des EuGH insbesondere dann, wenn solche
Maßnahmen in Einklang mit Art. 215 Abs. 1 AEUV die Aussetzung, Einschränkung oder vollstän-
dige Einstellung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zu einern oder mehreren Drittländern
vorsähen.’*

Gemäß Art. 275 Abs. 1 AEUV ist der EuGH grundsätzlich für die Bestimmungen hinsichtlich der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und für die auf der Grundlage dieser Bestimmun-
gen erlassenen Rechtsakte nicht zuständig.”

3.2.2.2. Zweite Stufe - Beschluss gemäß Art. 215 AEUV
3.2.2.2.1. Formale Anforderungen an den Erlass restriktiver Maßnahmen

In der darauffolgenden zweiten Stufe beschließt der Rat auf der Grundlage des vorgenannten
GASP-Beschlusses über restriktive Maßnahmen nach Art. 215 AEUV,

Zur Umsetzung des GASP-Beschlusses bedarf es dafür zunächst eines - inhaltlich entsprechen-
den —- Vorschlags des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der
Kommission.°® Für den Hohen Vertreter ist es ausreichend, dass sich dieser dem Vorschlag der

Kommission anschließt. Eine gesonderte Begründung durch den Hohen Vertreter ist nicht erfor-
derlich.’?

Dagegen ist die Kommission zur Übermittlung eines Vorschlags verpflichtet. Unterlässt die
Kommission einen entsprechenden Vorschlag, kann der Rat sie nach Ansicht in der Literatur ge-
mäß der entsprechenden Anwendung von Art, 241 S. 1 AEUV dazu auffordern.’ Der darauffol-
gende Beschluss des Rates erfolgt mit qualifizierter Mehrheit (Art. 16 Abs. 3 EUV i. V. m Art. 238

53 EuGH, Urteil vom 28. März 2017, Rs, C-72/15 (Rosneft), ECLI:EU:C:2017:236, Rn. 88.

54 EuGH, Urteil vom 28. März 2017, Rs. C-72/15 (Rosneft), ECLI:EU:C:2017:236, Rn. 132,

‚55 Vgl. aber Art. 275 Abs. UAbs. 2 AEUV: „Der Gerichtshof ist jedoch zuständig für die Kontrolle der Einhaltung
von Artikel 40 des Vertrags über die Europäische Union und für die unter den Voraussetzungen des Artikels 263
Absatz 4 dieses Vertrags erhobenen Klagen im Zusammenhang mit der Überwachung der Rechtmäßigkeit von
Beschlüssen über restriktive Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen, die der Rat auf der

Grundlage von Titel V Kapitel 2 des Vertrags über die Europäische Union erlassen hat.“

56 Siehe hierzu: Osteneck, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 215 AEUV, Rn. 10; Cremer, in: Cal-
lies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 15.

57 EuGH, Urteil vom 19. Juli 2012, Rs. C-130/10 (Parlament/Rat), ECLI:EU:C:2012:472, Rn. 105.
58 Osteneck, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 215 AEUV, Rn. 14.

59 Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 16; Schneider/Terhechte, in:
Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 19.
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Abs. 2 AEUV). Abschließend ist das Europäische Parlament vom Rat über den gefassten Be-
schluss zu unterrichten, Art. 215 Abs. 1 AEUV.

Grundsätzlich können nach Art. 215 AEUV sämtliche Handlungsformen des Art. 288 AEUV zu
Anwendung kommen.® In der Praxis wurde in der Vergangenheit allein von Verordnungen Ge-
brauch gemacht.‘ Der Vollzug der Sanktionsmaßnahmen obliegt den Mitgliedstaaten und wird
von der Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten fortlaufend kontrolliert.

Die Union ist gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. e) AEUV für wirtschaftliche Sanktionen ausschließlich zu-
ständig, so dass die Mitgliedstaaten ohne unionsrechtliche Ermächtigung grundsätzlich nicht
mehr befugt sind, eigene Wirtschaftssanktionen zu ergreifen, soweit unionsrechtliche Sanktionen
getroffen wurden.‘

3.2.2.2.2. Enteignung staatlichen Vermögens als zulässige Maßnahmen im Rahmen von Sanktio-
nen gemäß Art. 215 AEUV

Den Inhalt zulässiger restriktiver Maßnahmen gegenüber Staaten bestimmt Art. 215

Abs. 1 AEUV.® Der Wortlaut von Art. 215 Abs. 1 AEUV ist weit gehalten und spricht von den in-
soweit „erforderlichen Maßnahmen“. Die offene Formulierung von Art. 215 Abs. 1 AEUV grenzt
sich vom Wortlaut von Art. 75 Abs. 1 AEUV ab, der mögliche Maßnahmen gegen Terrorismusfi-
nanzierung ausdrücklich benennt.®

60 Schneider/Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. Auflage 2022,
Art. 215 AEUV, Rn. 21; ferner Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 19.

61 Vgl. Art. 288 Abs. 1 AEUV: „Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnun-
gen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an.“

62 Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 22.

63 Schneider/Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. EL September 2022,
Art. 215 AEUV, Rn. 23.

64 Zu den insoweit bestehenden Ausnahmen vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022,
Art. 215 AEUV, Rn. 29 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 16. September 1999, Rs. C-414/97 (Kommission/Spa-
nien),
ECLI:EU:C:1999:417, Rn. 21.

65 Maßnahmen gegen natürliche oder juristische Personen sowie Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten
können auf der Grundlage von Art. 215 Abs. 2 AEUV erfolgen; vgl. hierzu Cremer, in: Callies/Ruffert,
EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 21.

66 Art. 75 Abs. 1 AEUV: „Sofern dies notwendig ist, um die Ziele des Artikels 67 in Bezug auf die Verhütung und
Bekämpfung von Terrorismus und damit verbundener Aktivitäten zu verwirklichen, schaffen das Europäische
Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen einen Rahmen
für Verwaltungsmaßnahmen in Bezug auf Kapitalbewegungen und Zahlungen, wozu das Einfrieren von Gel-
dern, finanziellen Vermögenswerten oder wirtschaftlichen Erträgen gehören kann, deren Eigentümer oder
Besitzer natürliche oder juristische Personen, Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten sind. [...].“ [Hervor-
hebung durch den Verfasser]
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Grundsätzlich umfasst Art. 215 Abs. 1 AEUV Wirtschaftssanktionen aller Art gegenüber Staa-
ten. Darunter fallen nach Ansicht in der Literatur insbesondere Finanzsanktionen.“® Bisherige
Finanzsanktionen der Union, die eine Enteignung von Vermögenswerten vorsahen, sind nicht
‘ersichtlich. In der Vergangenheit wurden im Rahmen von Finanzsanktionen Gelder bzw. wirt-
schaftliche Ressourcen, die im Eigentum oder Besitz der von den entsprechenden Verordnungen
erfassten Personen standen, „eingefroren“ .°® „Einfrieren“ bedeutete in diesem Zusammenhang
nach Ansicht in der Literatur im Grundsatz die Verhinderung der Verwendung dieser Mittel.”°

Der offene Wortlaut von Art. 215 Abs. 1 AEUV schließt jedoch darüber hinausgehende Maßnah-
men nicht ausdrücklich aus. Welche Grenzen Art. 345 AEUV insoweit zieht, lässt sich anhand
dessen weiter Formulierung und mangels einschlägiger Entscheidungen des EuGH’”' nur schwer-
lich abschätzen.

Maßnahmen gemäß Art. 215 Abs. 1 AEUV müssen zudem erforderlich sein. Nach Ansicht in der
Literatur dürfen Maßnahmen nach Art. 215 Abs. 1 AEUV daher u. a. nicht über den Rahmen des
GASP-Beschlusses hinausgehen und den EU-Außenhandel nicht stärker beschränken als es das
vorgegebene außenpolitische Ziel verlangt.”” Insbesondere dürfen Maßnahmen nach Ansicht in
der Literatur, „die Wirtschaftsbeziehungen nur so lange beschränken [sollen], bis ein im Rahmen
der GASP definiertes, also nicht rein handelspolitisches Ziel erreicht ist“.”° Daraus könnte man
ableiten, dass endgültige Maßnahmen wie Enteignungen nur schwer mit Art. 215 AEUV verein-
bar wären.

67 Vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 19.
68 Vgl. Osteneck, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 215 AEUV, Rn. 10.

69 Niestedt, in: Krenzler/Herrmann/Niestedt, EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, 18. EL Oktober 2021, Kapitel
50,, Rn. 45 mit Verweis auf die VERORDNUNG (EG) Nr. 881/2002 DES RATES vom 27. Mai 2002 über die An-
wendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die
mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen, und zur Aufhebung der
Verordnung (EG) Nr. 467/2001 des Rates über das Verbot der Ausfuhr bestimmter Waren und Dienstleistungen
nach Afghanistan, über die Ausweitung des Flugverbots und des Einfrierens von Geldern und anderen Finanz-
mitteln betreffend die Taliban von Afghanistan, Abl. EG 2002, L 139/9 sowie VERORDNUNG (EU) Nr, 267/2012
DES RATES vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung
(EU) Nr. 961/2010, ABl. EU 2012, L 81/1; ferner Schmucker, DNotZ 2008, 695, 696.

70 _ Niestedt, in: Krenzler/Herrmann/Niestedt, EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, 18. EL Oktober 2021, Kapi-
tel 50, Rn. 45.

71 Siehe dazu oben unter Ziff. 3.1.
72 Vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn, 27.

73 In Abgrenzung zu Art.207 AEUV, siehe dazu Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022,
Art. 215 AEUV, Rn. 20. "
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Eine abschließende Bewertung dieser Frage obliegt dem EuGH.”*
3.3. Zusammenfassung

Eine ausdrückliche Kompetenz der Union zur Enteignung ausländischen Staatsvermögens ist in
den Unionsverträgen (EUV/AEUV) nicht ersichtlich.”® Stattdessen verbleibt den Mitgliedstaaten
in den Grenzen von Art. 345 AEUV die Kompetenz für die Ausgestaltung ihrer Eigentumsord-
nung.”® Für die inhaltliche Auslegung von Art. 345 AEUV finden sich in der Rechtsprechung des

‘ EuGH nur wenige Ansätze.” Die inhaltliche Reichweite der Norm kann daher nicht abschließend
bewertet werden.

Die Kompetenz zum Erlass von Wirtschaftssanktionen ergibt sich aus Art. 215 AEUV. Wie vorab
erläutert, umfasst Art. 215 Abs. 1 AEUV Wirtschaftssanktionen aller Art gegenüber Staaten. Bis-
herige Finanzsanktionen der Union auf der Grundlage von Art. 215 Abs. 1 AEUV, die eine Ent-
eignung von Vermögenswerten vorsahen, sind aber nicht ersichtlich. Der offene Wortlaut von
Art. 215 Abs. 1 AEUV schließt jedoch derartige Maßnahmen nicht ausdrücklich aus. Welche
Grenzen Art. 345 AEUV insoweit zieht, lässt sich anhand dessen weiter Formulierung und man-
gels einschlägiger Entscheidungen des EuGH” nur schwerlich abschätzen. Auch lässt sich man-
gels Rechtsprechung des EuGH nicht abschließend bewerten, inwieweit der absolute Charakter
von Enteignungen mit der Anlassbezogenheit von Art. 215 AEUV vereinbar wäre.’®

Eine abschließende Bewertung dieser Frage obliegt dem EuGH.

74 Gemäß Art. 275 Abs. UAbs. 2 AEUV ist der EuGH für die unter den Voraussetzungen des Art. 263 Abs. 4 AEUV
erhobenen (Individualnichtigkeits-)Klagen im Zusammenhang mit der Überwachung der Rechtmäßigkeit von
Beschlüssen über restriktive Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen, die der Rat auf der
Grundlage von Titel V Kapitel 2 EUV erlassen hat, zuständig. Soweit der EuGH nach
Art. 275 Abs. UAbs. 2 AEUV zuständig ist, erstreckt sich seine Zuständigkeit auch auf den der Maßnahme nach
Art. 215 AEUV zugrundeliegenden GASP-Beschluss, vgl. Schwarze/Voet van Vormizeele, in: Schwarze, EU-
Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 275 AEUV, Rn. 8; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6, Auflage 2022,

Art. 215 AEUV, Rn. 27.

75 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Christian Tietje, in: Katja Gelinsky, „Dürfen Oligarchenvillen zu Flücht-
lingsheimen umfunktioniert werden?“, FAZ.net vom 19, März 2022.

76 Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 345 AEUV, Rn. 1; zur dogmatischen Einordnung der
Vorschrift Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 345 AEUV, Rn. 4 f., 10; Kühling, in:
Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 345 AEUV, Rn. 1.

77  Kühling, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 345 AEUV, Rn. 1; Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4.
Aufl. 2019, Art. 345 AEUV, Rn. 2.

78 Siehe dazu oben unter Ziff. 3.1.

79 Vgl. hierzu die Diskussion oben unter Ziff. 3.2.2.2.2.2.
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PE 6 - 3000 - 019/22, WD 2 - 3000 - 021/22,
WD 3 - 3000 - 042/22, WD 5 - 3000 - 041/22

 

Denkbar wäre jedoch, dass sich die Mitgliedstaaten im Rahmen eines GASP-Beschlusses nach
Art. 29 EUV aufgrund ihres großen politischen Spielraums®® auf Enteignungen verbindlich ver-
ständigen, ohne eine entsprechende Maßnahme gemäß Art. 215 Abs. 1 AEUV zu erlassen. Die
Durchführung dieses Beschlusses würde dann voraussichtlich einzelstaatlich von den Mitglied-
staaten unter Berücksichtigung ihrer nationalen Grundrechte erfolgen.®

3.4. Exkurs: Vorgaben der Europäischen Grundrechtecharta

Sofern man unterstellt, dass eine Enteignung ausländischen Staatsvermögens im Rahmen von
Art. 215 AEUV möglich wäre, würde sich die Frage stellen, ob eine solche Enteignung mit der
Europäischen Grundrechtecharta vereinbar ist.

In Betracht käme eine Prüfung des Art. 17 GRCh. Gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 GRCh darf nieman-
dem sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den
Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine recht-
zeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Inhaltlich umfasst

Art. 17 Abs. 1 GRCh nach der Rechtsprechung des EuGH „vermögenswerte Rechte, aus denen sich
im Hinblick auf die Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige
Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht.“. Ferner muss das Ei-
gentum gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 1GRCh „rechtmäßig“ erworben worden sein.®®

Grundsätzlich bindet die Grundrechtecharta gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh die Organe, Ein-

richtungen und sonstigen Stellen der Union.® Auf den in Art. 17 GRCh vermittelten Eigentums-

schutz können sich nach Ansicht in der Literatur zunächst einmal Privatpersonen und juristische
. Personen des Privatrechts berufen.?

Im Hinblick auf juristische Personen des öffentlichen Rechts aus Drittstaaten, die als „verlänger-
ter Arm“ eines Drittstaats einzustufen sind, hat das EuG in seinem Urteil vom 5.02.2013 über
Sanktionen gegenüber dem Iran (T-494/10) die Eröffnung des Schutzbereiches von Art. 17 GRCh

80 Siehe hierzu oben unter Ziff. 3.2.2.1.3.

81 Etwaige einschlägige völkerrechtliche Vorgaben wurden insoweit nicht betrachtet; siehe hierzu oben unter Ab-
schnitt 2.

82 _ EuGH, Urteil vom 23.01.2013, Rs. C-283/11 (Sky Österreich GmbH), ECLI:EU:C:2013:28, Rn. 34; vgl. hierzu Wol-
lenschläger, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Bd. 1, 7. Auflage 2015, Art. 51
GRCh, Rn. 9 ff.

83 Vgl. hierzu Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 17 GRCh, 3. Auflage 2018, Rn. 16.

84 _ Die GRCh gilt ferner für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dem-
‘ entsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung ent-
sprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union
in den Verträgen übertragen werden, Art. 51 Abs. 1 Satz 1a. E. GrCh.

85 Vgl. Callies, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 17 GRCh, Rn. 5 mit Verweis auf umfangreiche
EuGH-Rechtsprechung.
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WD 3 - 3000 - 042/22, WD 5 - 3000 - 041/22

angenommen.® Die Klägerin, die iranische Staatsbank Bank Saderat Iran’”, hatte in dem genann-
ten Verfahren die Nichtigerklärung der gegen den Iran erlassenen Sanktionen, soweit sie davon
betroffen war, beantragt.

Zu der Frage, ob sich die Klägerin auf den Schutz der Garantien aus den Grundrechten, insb. Art.
17 GRCh berufen könne, hatte das EuG wie folgt ausgeführt:

„Dabei ist zunächst zu beachten, dass weder die Charta der Grundrechte der Europäischen
Union (ABl. 2010, C 83, S. 389) noch die Verträge Bestimmungen vorsehen, die juristische
Personen, die ein verlängerter Arm eines Staates sind, vom Schutz der Grundrechte ausschlie-
ßen. Im Gegenteil, die für die von der Klägerin erhobenen Klagegründe einschlägigen Bestim-
mungen dieser Charta, insbesondere ihre Art. 17, 41 und 47, verbürgen die Rechte „jedelr]
Person“, wobei diese Formulierung juristische Personen wie die Klägerin einschließt.“?®

„Im Licht der vorstehenden Ausführungen ist festzustellen, dass das Unionsrecht keine Rege-
lung enthält, die juristische Personen, die der verlängerte Arm eines Drittstaats sind, daran
hindert, sich auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten zu berufen. Diese
Rechte können daher von diesen Personen vor dem Unionsrichter geltend gemacht werden,
soweit sie mit ihrer Eigenschaft als juristische Person vereinbar sind.“°°

4. Sanktionen durch den deutschen Staat
4.1. Vorrang von EU-Recht und allgemeinen Regeln des Völkerrechts

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob und gegebenenfalls in welcher Form der deut-
sche Staat in der Bundesrepublik befindliches Geldvermögen eines Nicht-EU-Staates als Sank-
tion für dessen schwer völkerrechtswidriges Verhalten endgültig einziehen darf oder ob einer
solchen Eigentumsentziehung verfassungsrechtliche Gesichtspunkte entgegenstünden. Dabei
wird als Arbeitshypothese davon ausgegangen, dass entsprechende nationale Maßnahmen europa-
rechtlichen Regelungen, welche grundsätzlich Anwendungsvorrang vor nationalem Recht genießen
nicht widersprechen würden (siehe hierzu oben unter Abschnitt 3). Ferner erfolgt die Prüfung
unabhängig von den Problemen, die eine Einziehung im Hinblick auf die allgemeinen Regeln des
Völkerrechts bedeuten würde, wie oben unter Abschnitt 2 dargestellt. Die allgemeinen Regeln

86 Zum Rechtsmittelverfahren vgl. EuGH, Urteil vom 21. April 2016, Rs. C-200/13 P (Rat u. a./Bank Saderat Iran
u. a.), ECLI:EU:C:2016:284; aus dem Schrifttum vgl. Jarass, in: Jarass, EU-Grundrechtecharta, 4. Auflage 2021,
Art. 51, Rn. 57.

87 Hierbei handelt es um eine iranische Staatsbank, die zu 94 % im Eigentum der iranischen Regierung stand, vgl.
EuG, Urteil vom 5. Februar 2013, Rs. T-494/10 (Bank Saderat Iran/Rat), ECLI:EU:T:2013:59, Rn. 5.

88 EuG, Urteil vom 5. Februar 2013, Rs. T-494/10 (Bank Saderat Iran/Rat), ECLI:EU:T:2013:59, Rn. 34.

89 EuG, Urteil vom 5. Februar 2013, Rs. T-494/10 (Bank Saderat Iran/Rat), ECLI:EU:T:2013:59, Rn. 39.
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