Enteignung ausländischen Staatsvermögens in der Europäischen Union auf der Grundlage von Unionsrecht
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Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 2 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 019/22 Enteignung ausländischen Staatsvermögens in der Europäischen Union auf der Grundlage von Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 019/22 Abschluss der Arbeit: 30.03.2022 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa mn Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstel- lung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bun- destages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die da- bei zu berücksichtigenden Fragen.

Unterabteilung Europa Ausarbeitung Fachbereich Europa .. PE6 - 3000 - 019/22 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 2. Kompetenz der Union zur Enteignung im Rahmen der 3.1. 3.2. 3.2.1. 3.2.1.1. 3.2.1.2. 3.2.1.3. 3.2.2. 3.2.2.1. 3.2.2.2. 3.2.3. Unionsverträge Kompetenz der Union zur Enteignung im Rahmen von Wirtschaftssanktionen Rechtsgrundlage von Wirtschaftssanktionen Verfahren zum Erlass von Wirtschaftssanktionen Erste Stufe - GASP-Beschluss gemäß Art. 29 EUV Zuständigkeit der Union im Rahmen der GASP Grundsätze und Ziele der GASP Inhalt des Beschlusses gemäß Art. 29 EUV Zweite Stufe - Beschluss gemäß Art. 215 AEUV Formale Anforderungen an den Erlass restriktiver Maßnahmen Enteignung staatlichen Vermögens als zulässige Maßnahmen im Rahmen von Sanktionen gemäß Art. 215 AEUV Zusammenfassung Exkurs: Vorgaben der Europäischen Grundrechtecharta SS OO ı a 01 91 11 Seite 3

Unterabteilung Europa Ausarbeitung . Seite 4 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 019/22 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa wurde um Prüfung gebeten, ob eine Enteignung ausländischen Staatsver- mögens in der EU auf der Grundlage von Unionsrecht möglich sei. Hierzu wird unterstellt, dass die Europäische Union im Einzelfall einen hoheitlichen Zugriff auf das ausländische Vermögen hat. Im Folgenden soll daher geprüft werden, ob sich eine Kompetenz der Europäischen Union zur Enteignung ausländischen Staatsvermögens aus den Unionsverträgen (Vertrag über die Europäi- . sche Union (EUV) und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ergibt (Ziff. 2.) bzw. eine derartige Kompetenz im Rahmen von europäischen Wirtschaftssanktionen be- steht (Ziff. 3.). Darauf folgend widmet sich die Ausarbeitung in einem Exkurs der Frage, welche Vorgaben die Europäische Grundrechtecharta (GRCh) im Hinblick auf hypothetische Enteignungen ausländi- schen Staatsvermögens auf der Grundlage von Unionsrecht in der EU vorsähe (Ziff. 4.). 2. Kompetenz der Union zur Enteignung im Rahmen der Unionsverträge Eine ausdrückliche Kompetenz der Union zur Enteignung ausländischen Staatsvermögens in der EU ist in den Unionsverträgen nicht ersichtlich. Dagegen verweist Art. 345 AEUV darauf, dass die Unionsverträge die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt lassen. Somit verbleibt nach Ansicht in der Literatur den Mitgliedstaaten die Kompetenz für die Ausgestaltung ihrer Eigentumsordnung; die Union verfügt daher insoweit über keine Zuständigkeit.' Nach Ansicht des EuGH führt Art. 345 AEUV jedoch nicht dazu, dass die in den Mitgliedstaaten bestehenden Eigentumsordnungen den Grundprinzipien des AEUV, u. a. denen der Nichtdiskri- minierung, der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit, entzogen sind.? Darüber hinaus finden sich für die Auslegung von Art. 345 AEUV in der Rechtsprechung des EuGH nur wenige Ansätze.’ Die inhaltliche Reichweite der Norm kann daher nicht abschließend bewertet werden. 1 Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 345 AEUV, Rn. 1; zur dogmatischen Einordnung der Vorschrift Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 345 AEUV, Rn. 4 f., 10; Kühling, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 345 AEUV, Rn. 1. 2 Vgl. GUTACHTEN 2/15 DES GERICHTSHOFS (Plenum) vom 16.05.2017, Rn. 107 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 22.10.2013, verb. Rs. C-105/12 bis C-107/12 (Niederlande/Essent NV u. a.), ECLI:EU:C:2013:677, Rn. 36, m. w. N. aus der Rechtsprechung. . 3 Kühling, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 345 AEUV, Rn. 1 f.; Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 345 AEUV, Rn. 2.

Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 5 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 019/22 3. Kompetenz der Union zur Enteignung im Rahmen von Wirtschaftssanktionen Sofern keine allgemeine Rechtsgrundlage zur Enteignung ausländischen Staatsvermögens in den Unionsverträgen ersichtlich ist, stellt sich die Frage, ob sich eine Kompetenz der Union möglich- erweise im Rahmen von Wirtschaftssanktionen ergibt. Nachfolgend soll auf die Rechtsgrundlage und das Verfahren zum Erlass von Wirtschaftssanktio- nen durch die EU eingegangen werden (Ziff.3.1. und Ziff. 3.2.). 3.1. Rechtsgrundlage von Wirtschaftssanktionen Die Kompetenz der Union zur Einführung restriktiver Maßnahmen findet sich in Art. 215 AEUV. Gemäß Art. 215 Abs. 1 AEUV kann der Rat die erforderlichen Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit auf gemeinsamen Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicher- heitspolitik und der Kommission erlassen, wenn ein nach Titel V Kapitel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) erlassener Beschluss die Aussetzung, Einschränkung oder vollständige Einstellung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zu einem oder mehreren Drittländern vor- sieht.? Der Rat unterrichtet hierüber das Europäische Parlament. 3.2. Verfahren zum Erlass von Wirtschaftssanktionen Der Erlass restriktiver Maßnahmen gegenüber Staaten erfolgt gemäß Art. 215 Abs. 1 AEUV in ei- nem zweistufigen Verfahren. 3.2.1. Erste Stufe - GASP-Beschluss gemäß Art. 29 EUV Auf der ersten Stufe ist ein GASP-Beschluss gemäß Titel V Kapitel 2 EUV erforderlich. In Be- tracht kommt insbesondere der Beschluss gemäß Art. 29 EUV (Standpunkte der Union),° von dem der Rat in der Vergangenheit im Bereich der restriktiven Maßnahmen sowie im Bereich der Ter- rorismusbekämpfung rege Gebrauch gemacht hat.’ Die Beschlüsse nach Art. 29 EUV ergehen in dem in Art. 31 Abs. 1 EUV genannten Verfahren durch den Rat einstimmig.° Ausnahmen von die- sem Grundsatz enthält Art. 31 Abs. 2 EUV, in denen auch mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann. 4 Vgl. hierzu Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 10. 5 Zum Rechtscharakter eines GASP-Beschlusses vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 29 EUV, Rn. 4 ff; zur Intergouvernementalität der GASP vgl. bereits Pechstein, JZ 2010, 425. 6 Vgl. hierzu Rat der Europäischen Union, Sanktionsleitlinien — Aktualisierung vom 8.12.2017 (Rats-Dok. 15598/17) aus dem Schrifttum Schneider/Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. EL September 2021, Art. 215 AEUV, Rn. 15; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 10. 7 Terhechte, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 21 EUV, Rn. 7 £.. 8 Schneider/Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. EL September 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 15.

Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 6 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 019/22 3.2.1.1. Zuständigkeit der Union im Rahmen der GASP Grundsätzlich erstreckt sich die Zuständigkeit der Union in der GASP gemäß Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 EUV auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann. Gemäß Art. 24 Abs. 2 EUV verfolgt, bestimmt und verwirklicht die Union im Rahmen der Grundsätze und Ziele ihres auswärtigen Handelns eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die auf einer Entwicklung der gegenseitigen politischen Solidarität der Mitgliedstaaten, der Ermittlung der Fragen von allgemeiner Bedeutung und der Erreichung einer immer stärkeren Konvergenz des Handelns der Mitgliedstaaten beruht. 3.2.1.2. Grundsätze und Ziele der GASP Für die inhaltliche Ausgestaltung der GASP verweist Art. 23 EUV auf Kapitel 1 Titel V und damit insbesondere auf Art. 21 EUV (Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union). Die Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union, von denen sich die Union bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene leiten lässt, umfassen gemäß Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1 EUV De- mokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.° 3.2.1.3. Inhalt des Beschlusses gemäß Art. 29 EUV Zum möglichen Inhalt des Beschlusses über einen Standpunkt trifft Art. 29 EUV keine unmittel- bare Aussage. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 28.03.2017 (Rs. C-72/15) ausgeführt, dass sich aus den Art. 24 und 29 EUV ergebe, dass es grundsätzlich Sache des Rates sei, einstimmig den Gegen- stand der restriktiven Maßnahmen festzulegen, die die Union im Bereich der GASP erlässt. We- gen des breiten Spektrums der in Art. 3 Abs. 5 EUV und Art. 21 EUV sowie den speziellen Vor- schriften über die GASP, insbesondere den Art. 23 und 24 EUV, genannten Ziele und Felder der GASP verfüge der Rat bei der Festlegung des Gegenstands der restriktiven Maßnahmen über ei- nen großen Spielraum.'’ Dies gelte nach Ansicht des EuGH insbesondere dann, wenn solche Maßnahmen in Einklang mit Art. 215 Abs. 1 AEUV die Aussetzung, Einschränkung oder vollstän- dige Einstellung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zu einem oder mehreren Drittländern vorsähen.'! g Vgl. dazu auch Egger, EuZW, 2019, 326, 327. 10 EuGH, Urteil vom 28.03.2017, Rs. C-72/15 (Rosneft), ECLI:EU:C:2017:236, Rn. 88. 11 EuGH, Urteil vom 28.03.2017, Rs. C-72/15 (Rosneft), ECLI:EU:C:2017:236, Rn. 132.

“ Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 7 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 019/22 Gemäß Art. 275 Abs. 1 AEUV ist der EuGH grundsätzlich für die Bestimmungen hinsichtlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und für die auf der Grundlage dieser Bestimmun- gen erlassenen Rechtsakte nicht zuständig." 3.2.2. Zweite Stufe — Beschluss gemäß Art. 215 AEUV 3.2.2.1. Formale Anforderungen an den Erlass restriktiver Maßnahmen In der darauffolgenden zweiten Stufe beschließt der Rat auf der Grundlage des vorgenannten GASP-Beschlusses über restriktive Maßnahmen nach Art. 215 AEUV. Zur Umsetzung des GASP-Beschlusses bedarf es dafür zunächst eines - inhaltlich entsprechen- den - Vorschlags des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Kommission.'? Für den Hohen Vertreter ist es ausreichend, dass sich dieser dem Vorschlag der Kommission anschließt. Eine gesonderte Begründung durch den Hohen Vertreter ist nicht erfor- derlich.'* Dagegen ist die Kommission zur Übermittlung eines Vorschlags verpflichtet.'° Unterlässt die Kommission einen entsprechenden Vorschlag, kann der Rat sie nach Ansicht in der Literatur ge- mäß der entsprechenden Anwendung von Art. 241 S. 1 AEUV dazu auffordern.’ Der darauffol- gende Beschluss des Rates erfolgt mit qualifizierter Mehrheit (Art. 16 Abs. 3 EUV i. V. m Art. 238 Abs. 2 AEUV).'” Abschließend ist das Europäische Parlament vom Rat über den gefassten Be- schluss zu unterrichten, Art. 215 Abs. 1 AEUV. 12 Vgl. aber Art. 275 Abs. UAbs. 2 AEUV: „Der Gerichtshof ist jedoch zuständig für die Kontrolle der Einhaltung von Artikel 40 des Vertrags über die Europäische Union und für die unter den Voraussetzungen des Artikels 263 Absatz 4 diese Vertrags erhobenen Klagen im Zusammenhang mit der Überwachung der Rechtmäßigkeit von Beschlüssen über restriktive Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen, die der Rat auf der Grundlage von’ Titel V Kapitel 2 des Vertrags über die Europäische Union erlassen hat.“ 13 Siehe hierzu: Osteneck, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 215 AEUV, Rn. 10; Cremer, in: Cal- lies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 15. 14 EuGH, Urteil vom 19.7.2012, Rs. C-130/10 (Parlament/Rat), ECLI:EU:C:2012:472, Rn. 105. 15 Osteneck, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 215 AEUV, Rn. 14. 16 Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 16; Schneider/Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 19. 17 Schneider/Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 21; ferner Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn.19.

Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 8 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 019/22 Grundsätzlich können nach Art. 215 AEUV sämtliche Handlungsformen des Art. 288 AEUV zu Anwendung kommen." In der Praxis wurde in der Vergangenheit allein von Verordnungen Ge- brauch gemacht.’ Der Vollzug der Sanktionsmaßnahmen obliegt den Mitgliedstaaten und wird von der Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten fortlaufend kontrolliert.” Die Union ist gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. e) AEUV für wirtschaftliche Sanktionen ausschließlich zu- ständig, so dass die Mitgliedstaaten ohne unionsrechtliche Ermächtigung grundsätzlich nicht mehr befugt sind, eigene Wirtschaftssanktionen zu ergreifen, soweit unionsrechtliche Sanktionen getroffen wurden.?! 3.2.2.2. Enteignung staatlichen Vermögens als zulässige Maßnahmen im Rahmen von Sanktio- nen gemäß Art. 215 AEUV Den Inhalt zulässiger restriktiver Maßnahmen gegenüber Staaten bestimmt Art. 215 Abs. 1 AEUV.” Der Wortlaut von Art. 215 Abs. 1 AEUV ist weit gehalten und spricht von den in- soweit „erforderlichen Maßnahmen“. Die offene Formulierung von Art. 215 Abs. 1 AEUV grenzt sich vom Wortlaut von Art. 75 Abs. 1 AEUV ab, der mögliche Maßnahmen gegen Terrorismusfi- nanzierung ausdrücklich benennt.” Grundsätzlich umfasst Art. 215 Abs. 1 AEUV Wirtschaftssanktionen aller Art gegenüber Staa- ten.?* Darunter fallen nach Ansicht in der Literatur insbesondere Finanzsanktionen.” Bisherige Finanzsanktionen der Union, die eine Enteignung von Vermögenswerten vorsahen, sind nicht 18 Vgl. Art. 288 Abs. 1 AEUV: „Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnun- gen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an.“. 19 Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 22. 20 Schneider/Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 74. EL September 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 23. 21 Zu den insoweit bestehenden Ausnahmen vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 29 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 16.09.1999, Rs. C-414/97 (Kommission/Spanien), ECLI:EU:C:1999:417, Rn. 21. 22 Maßnahmen gegen natürliche oder juristische Personen sowie Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten können auf der Grundlage von Art. 215 Abs. 2 AEUV erfolgen; vgl. hierzu Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 21. 23 Art. 75 Abs. 1 AEUV: Sofern dies notwendig ist, um die Ziele des Artikels 67 in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung von Terrorismus und damit verbundener Aktivitäten zu verwirklichen, schaffen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen einen Rahmen für Verwaltungsmaßnahmen in Bezug auf Kapitalbewegungen und Zahlungen, wozu das Einfrieren von Gel- dern, finanziellen Vermögenswerten oder wirtschaftlichen Erträgen gehören kann, deren Eigentümer oder Besitzer natürliche oder juristische Personen, Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten sind, [...].“. [Her- vorhebung durch den Verfasser] 24 Vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 19. 25 Vgl. Osteneck, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 215 AEUV, Rn. 10.

Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 9 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 019/22 \ ersichtlich, In der Vergangenheit wurden im Rahmen von Finanzsanktionen Gelder bzw. wirt- schaftliche Ressourcen, die im Eigentum oder Besitz der von den entsprechenden Verordnungen erfassten Personen standen, „eingefroren“ .’ „Einfrieren“ bedeutete in diesem Zusammenhang nach Ansicht in der Literatur im Grundsatz die Verhinderung der Verwendung dieser Mittel.?” Der offene Wortlaut von Art. 215 Abs. 1 AEUV schließt jedoch darüber hinausgehende Maßnah- men nicht ausdrücklich aus. Welche Grenzen Art. 345 AEUV insoweit zieht, lässt sich anhand dessen weiter Formulierung und mangels einschlägiger Entscheidungen des EuGH?® nur schwer- lich abschätzen. Maßnahmen gemäß Art. 215 Abs. 1 AEUV müssen zudem erforderlich sein. Nach Ansicht in der Literätur dürfen Maßnahmen nach Art. 215 Abs. 1 AEUV daher u. a. nicht über den Rahmen des GASP-Beschlusses hinausgehen und den EU-Außenhandel nicht stärker beschränken als es das vorgegebene außenpolitische Ziel verlangt.?® Insbesondere dürfen Maßnahmen nach Ansicht in der Literatur, „die Wirtschaftsbeziehungen nur so lange beschränken [sollen], bis ein im Rahmen der GASP definiertes, also nicht rein handelspolitisches Ziel erreicht ist“.°° Daraus könnte man ableiten, dass endgültige Maßnahmen wie Enteignungen nur schwer mit Art. 215 AEUV verein- bar wären. Eine abschließende Bewertung dieser Frage obliegt dem EuGH.’" 26 Niestedt, in: Krenzler/Herrmann/Niestädt, EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, 18. EL Oktober 2021, Kapitel 50., Rn. 45 mit Verweis auf die VERORDNUNG (EG) Nr. 881/2002 DES RATES vom 27. Mai 2002 über die An- wendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 467/2001 des Rates über das Verbot der Ausfuhr bestimmter Waren und Dienstleistungen nach Afghanistan, über die Ausweitung des Flugverbots und des Einfrierens von Geldern und anderen Finanz- mitteln betreffend die Taliban von Afghanistan, Abl. EG 2002, L 139/9 sowie VERORDNUNG (EU) Nr. 267/2012 DES RATES vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 961/2010, ABl. EU 2012, L 81/1; ferner Schmucker, DNotZ 2008, 695, 696. 27 Niestedt, in: Kronzler/Herrmann/Niestädt, EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, 18. EL Oktober 2021, Kapi- tel 50., Rn. 45. 28 Siehe dazu oben unter Ziff. 2.. 29 Vgl. Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 27. 30 In Abgrenzung zu Art.207 AEUV, siehe dazu Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV,Rn. 20. 31 Gemäß Art. 275 Abs. UAbs. 2 AEUV ist der EuGH für die unter den Voraussetzungen des Art. 263 Abs. 4 AEUV erhobenen (Individualnichtigkeits-)Klagen im Zusammenhang mit der Überwachung der Rechtmäßigkeit von Beschlüssen über restriktive Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen, die der Rat auf der Grundlage von Titel V Kapitel 2 EUV erlassen hat, zuständig. Soweit der EuGH.nach Art. 275 Abs. UAbs. 2 AEUV zuständig ist, erstreckt sich seine Zuständigkeit auch auf den der Maßnahme nach Art. 215 AEUV zugrundeliegenden GASP-Beschluss, vgl. Schwarze/Voet van Vormizeele, in: Schwarze, EU- Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 275 AEUV, Rn. 8; Cremer, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 215 AEUV, Rn. 27.

Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 10 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 019/22 3.2.3. Zusammenfassung Eine ausdrückliche Kompetenz der Union zur Enteignung ausländischen Staatsvermögens ist in den Unionsverträgen (EUV/AEUV) nicht ersichtlich.” Stattdessen verbleibt den Mitgliedstaaten in den Grenzen von Art. 345 AEUV die Kompetenz für die Ausgestaltung ihrer Eigentumsord- nung.” Für die inhaltliche Auslegung von Art. 345 AEUV finden sich in der Rechtsprechung des EuGH nur wenige Ansätze.’* Die inhaltliche Reichweite der Norm kann daher nicht abschließend bewertet werden. Die Kompetenz zum Erlass von Wirtschaftssanktionen ergibt sich aus Art. 215 AEUV. Wie vorab erläutert, umfasst Art. 215 Abs. 1 AEUV Wirtschaftssanktionen aller Art gegenüber Staaten. Bis- herige Finanzsanktionen der Union auf der Grundlage von Art. 215 Abs. 1 AEUV, die eine Ent- eignung von Vermögenswerten vorsahen, sind aber nicht ersichtlich. Der offene Wortlaut von Art. 215 Abs. 1 AEUV schließt jedoch derartige Maßnahmen nicht ausdrücklich aus. Welche Grenzen Art. 345 AEUV insoweit zieht, lässt sich anhand dessen weiter Formulierung und man- gels einschlägiger Entscheidungen des EuGH* nur schwerlich abschätzen. Auch lässt sich man- gels Rechtsprechung des EuGH nicht abschließend bewerten, inwieweit der absolute Charakter von Enteignungen mit der Anlassbezogenheit von Art. 215 AEUV vereinbar wäre.” Eine abschließende Bewertung dieser Frage obliegt dem EuGH. Denkbar wäre jedoch, dass sich die Mitgliedstaaten im Rahmen eines GASP-Beschlusses nach Art. 29 EUV aufgrund ihres großen politischen Spielraums”” auf Enteignungen verbindlich ver- ständigen, ohne eine entsprechende Maßnahme gemäß Art. 215 Abs. 1 AEUV zu erlassen. Die Durchführung dieses Beschlusses würde dann voraussichtlich einzelstaatlich von den Mitglied- staaten unter Berücksichtigung ihrer nationalen Grundrechte erfolgen.”® 32 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Christian Tietje, in: Katja Gelinsky, „Dürfen Oligarchenvillen zu Flücht- lingsheimen umfunktioniert werden?“, FAZ.net vom 19.03.2022. 33 Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 345 AEUV, Rn. 1; zur dogmatischen Einordnung der Vorschrift Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 345 AEUV, Rn. 4 f., 10; Kühling, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 345 AEUV, Rn. 1. 34 _ Kühling, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 345 AEUV, Rn. 1; Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 345 AEUV, Rn. 2. \ 35 Siehe dazu oben unter Ziff. 2.. 36 Vgl. hierzu die Diskussion oben unter Ziff. 3.2.2.2. 37 Siehe hierzu oben unter Ziff. 3.2.1.3.. 38 Etwaige einschlägige völkerrechtliche Vorgaben wurden insoweit nicht betrachtet.
