Zum Verordnungsvorschlag COM(2020) 568 final
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Unveröffentlichte Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes“
Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 11 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 010/21 der Kommunikation einschließt.” Art. 8 der Charta gewährleistet den Schutz personenbezogener Daten. Nach Art. 8 Abs. 2 der Charta dürfen „[dliese Daten [...| nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden.“ Zudem hat jede Person das Recht, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken. Nach Art. 8 Abs. 3 der Charta ist die Einhaltung dessen von einer unabhängigen Stelle zu überwachen. Den oben dargestellten Urteilen des EuGH vom 6. Oktober 2020 und vom 6. Oktober 2015 lassen sich (verallgemeinerungsfähige) Maßstäbe, die es bei Eingriffen in diese Grundrechte zu beachten gilt, entnehmen. Zwar ging es in diesen Urteilen um nationale Regelungen, die am Maßstab des unionalen Sekundärrechts zu messen waren. Da dieses jedoch der Umsetzung der Art. 7 und 8 der Charta diente und der EuGH die entsprechenden Vorschriften im Lichte der Grundrechte auslegte, dürften sich diese Maßstäbe insoweit übertragen lassen. Sofern der EuGH sich bei den Regelungen, die eine automatisierte Datenanalyse vorsehen, auf terroristische Aktivitäten bezieht, dürften die aufgestellten Anforderungen wohl erst recht auch für entsprechende Regelungen zur Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs von Kindern gelten. Der Einsatz von Technik, die den Inhalt elektronischer Kommunikation auf sexuellen Kindesmissbrauch durchsucht und diesen an weitere Akteure meldet, stellt einen Eingriffin die Rechte aus Art. 7 und 8 der Charta dar. Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta sind Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten.” Dabei müssen sie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.”® Der vorliegende Verordnungsvorschlag dient der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern, welcher als eine besonders schwere Straftat einzustufen ist und dessen Bekämpfung eine Priorität der EU darstellt.”” Zum Schutz von Kindern können sich zudem aus Art. 7 der Charta auch positive Verpflichtungen der Behörden ergeben.” Der EuGH verlangt, dass die verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht.”' Zudem „muss eine Regelung klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen und 23 Vgl. auch COM(2020) 568 final, S. 5. ” Eu6H, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, Rn. 121. 28 EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, Rn. 121. 2» Vgl. COM(2020) 568 final, S. 1. so Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18. C-512/18 und C-520/18, Rn. 126. ” EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, Rn, 131.
Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 12 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 010/21 Mindesterfordernisse aufstellen, so dass die Personen, deren personenbezogene Daten betroffen sind, über ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen Schutz dieser Daten vor Missbrauchsrisiken ermöglichen“.?” Sie muss „insbesondere Angaben dazu enthalten, unter welchen Umständen und unter welchen Voraussetzungen eine Maßnahme, die die Verarbeitung solcher Daten vorsieht, getroffen werden darf, damit gewährleistet ist, dass sich der Eingriff auf das absolut Notwendige beschränkt“. Den aus einer automatisierten Analyse resultierenden Eingriff stuft der EuGH als besonders schwerwiegend ein, sofern diese sich — wie vorliegend - allgemein und unterschiedslos auf die Daten der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel erstreckt. Dies gilt nach dem EuGH umso mehr, als sich den Daten, die Gegenstand der automatisierten Analyse sind, die Art der im Internet konsultierten Informationen entnehmen lässt.” Letzteres dürfte die nach Art. 3 des Verordnungsvorschlags zugelassene Technik ebenfalls ermöglichen. Schwer wiegt zudern, dass eine solche Analyse bei sämtlichen Nutzern erfolgt, also auch bei Personen, bei denen keinerlei Anhaltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern stehen könnte. Die im Voraus festgelegten Modelle und Kriterien, auf denen diese Art der Datenverarbeitung beruht, müssen zum einen spezifisch und zuverlässig sein, so dass sie zu Ergebnissen führen, die es ermöglichen, Personen zu identifizieren, gegen die ein begründeter Verdacht der Beteiligung am sexuellen Missbrauch von Kindern bestehen könnte, und dürfen zum anderen nicht diskriminierend sein.” Aufgrund einer zu erwartenden Fehlerquote muss jedes durch eine automatisierte Verarbeitung gewonnene positive Ergebnis individuell mit nicht automatisierten Mitteln überprüft werden, bevor eine individuelle Maßnahme mit nachteiligen Auswirkungen auf die betreffenden Personen getroffen wird.” Die Zuverlässigkeit und Aktualität dieser Modelle und Kriterien sowie der verwendeten Datenbanken muss zudem regelmäßig überprüft werden.” Die Ausführungen des EuGH zur automatisierten Datenanalyse beziehen sich auf Situationen, „in denen sich ein Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht““". Die Schwere und Aktualität der Gefahr 32 EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, Rn. 132; Vgl. auch EuGH, Urt. v. 6.10.2015. Rs. C-362/14, Rn. 9. \ 3 EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, Rn. 132. u Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, Rn. 174. 35 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, Rn. 174. 36 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, Ro. 174 für einen Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten. 97 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-512/18 und C-520/18, Rn. 180 für terroristische Aktivitäten. 3 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. G-511/18, C-512/18 und C-520/18, Rn. 182. ” Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. C-511/18, C-51 2/18 und C-520/18, Rn. 182. “ EuGH. Urt. v. 6.10.2020, verb. Rs. G-511/18, C-512/18 und C-520/18, 2. Entscheidungsgrund, 1. Spiegelstrich.
Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 13 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 010/21 in solchen Situationen dürften über die dauerhaft gegebene Gefahr des sexuellen Missbrauchs an Kindern hinausgehen, sodass schon zweifelhaft sein dürfte, ob der EuGH seine Maßstäbe entsprechend übertragen oder höhere aufstellen würde. Art. 3 Satz 1 lit. a) des Verordnungsvorschlags legt fest, dass die Verarbeitung verhältnismäßig sein und auf die bewährte, bereits eingesetzte Technik beschränkt bleiben muss, dem Stand der Technik in der Branche entsprechen muss und am wenigsten in die Privatsphäre eingreift. Art. 3 lit. b) des Verordnungsvorschlags verlangt, dass die verwendete Technik hinreichend zuverlässig ist, indem sie die Fehlerquote gering hält und bei gelegentlich auftretenden Fehlern deren Folgen unverzüglich berichtigt. Nach Art. 3 lit. c) des Verordnungsvorschlags muss die zur Aufdeckung von Kontaktaufnahmen zu Kindern verwendete Technik auf die Verwendung geeigneter Indikatoren wie Schlüsselwörter und objektiv ermittelte Risikofaktoren wie Altersunterschiede beschränkt sein und das Recht auf Überprüfung durch einen Menschen wahren. Art. 3 Satz 1 lit. d) beschränkt die Verarbeitung auf das unbedingt erforderliche Maß und verlangt die unverzügliche Löschung der Daten, wenn kein sexueller Missbrauch von Kindern im Internet festgestellt wurde. Art. 3 Satz 1 lit. e) und Satz 2 des Verordnungsvorschlags legen Berichtspflichten und Aufbewahrungserfordernisse fest. Zweifelhaft erscheint, ob die einzusetzende Technik hinreichend präzisiert und die Verarbeitung tatsächlich auf das absolut Notwendige beschränkt wird. Der Verordnungsvorschlag fordert insoweit lediglich, dass „die Verarbeitung verhältnismäßig ist und auf’ bewährte Technik beschränkt bleibt, [...], dem Stand der Technik in der Branche entspricht und am wenigsten in die Privatsphäre eingreift“, ohne dies jedoch inhaltlich hinreichend auszugestalten. Im Hinblick auf die durch den EuGH aufgestellten Anforderungen fehlt der Regelung des Verordnungsvorschlags insbesondere das Erfordernis der individuell mit nicht automatisierten Mitteln erfolgenden Überprüfung jedes durch eine automatisierte Verarbeitung gewonnenen positiven Ergebnisses, bevor eine individuelle Maßnahme mit nachteiligen Auswirkungen auf die betreffenden Personen getroffen wird. Der Vorschlag verlangt lediglich in Bezug auf die Aufdeckung von Kontaktaufnahmen das Recht auf Überprüfung durch einen Menschen zu wahren. Dem nach der Rechtsprechung des EuGH als besonders schwer einzustufenden Eingriff in Art. 7 und 8 der Charta steht das Ziel der Bekämpfung einer besonders schweren Straftat gegenüber. Ob der Verordnungsvorschlag die hohen Anforderungen des EuGH, die dieser in Bezug auf die automatisierte Datenanalyse aufstellt, wahrt, erscheint zweifelhaft. Eine abschließende Beurteilung bleibt dem EuGH vorbehalten.
Unterabteilung Europa Ausarbeitung Seite 14 Fachbereich Europa PE 6 - 3000 - 010/21 5. Zum künftigen EU-Rechtsakt Hinsichtlich des künftigen Rechtsaktes heißt es: „Hierzu wird [die Kommission] unter anderem die betreffenden Anbieter von Online-Diensten ab dem 2.Quartal 2021 dazu verpflichten, bekanntes Material über sexuellen Kindesmissbrauch aufzudecken und den Behörden zu melden. Die angekündigten Rechtsvorschriften sollen künftig diese Verordnung [COM(2020) 568 final] ersetzen und verbindliche Maßnahmen zur Aufdeckung und Meldung von sexuellem Missbrauch von Kindern einführen, um mehr Klarheit und Sicherheit für die Arbeit sowohl der Strafverfolgungsbehörden als auch der einschlägigen Akteure des Privatsektors bei der Bekämpfung von Missbrauch im Internet zu schaffen und gleichzeitig die Grundrechte der Nutzer, insbesondere das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung und auf den Schutz der personenbezogenen Daten und der Privatsphäre zu gewährleisten und Mechanismen zur Gewährleistung von Rechenschaftspflicht und Transparenz zu schaffen.” Mangels konkreter Angaben zum Inhalt des künftigen Rechtsaktes lässt sich dessen Vereinbarkeit insbesondere mit Art. 7,8 und 11 der Charta zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen. 6. Zusammenfassung Es erscheint zweifelhaft, ob der Verordnungsvorschlag COM(2020) 568 final die hohen Anforderungen, die der EuGH in Bezug auf Einschränkungen der Rechte aus Art. 7 und 8 der Charta aufstellt, erfüllt. Dem EuGH bleibt eine verbindliche Entscheidung vorbehalten. Der zukünftige Rechtsakt, den die Kommission für das 2. Quartal 2021 plant, lässt sich mangels konkreter Angaben zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen. - Fachbereich Europa - “3 Vgl. COM(2020) 568 final, S. 1, 2.