Brief der Außenministerin an die grüne Bundestagsfraktion

08.06.2023

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Annalena Baerbock
                                                                               Bundesministerin des Auswärtigen
                                                                               Mitglied des Deutschen Bundestages




                                                                               Berlin, den 8. Juni 2023




Liebe Freundinnen und Freunde in der grünen Bundestagsfraktion,

wir haben heute in Brüssel eine Entscheidung getroffen, die mir als
Außenministerin, als Grüne und auch persönlich sehr schwergefallen ist.
Ich halte den Kompromiss zur Reform des Gemeinsamen Europäischen
Asylsystem (GEAS), den wir errungen haben, dennoch für richtig. Für viele
Geflüchtete wird sich der Status Quo verbessern, auch wenn nicht alle
Anliegen, für die wir uns stark gemacht hatten, in der Einigung abgebildet
sind.

Bis gestern waren wir davon ausgegangen, dass eine Entscheidung zur
Reform des Europäischen Asylsystems noch verschoben werden würde.
Doch dann kam durch einen für uns überraschenden Vorschlag der
schwedischen Ratspräsidentschaft plötzlich Bewegung in die
Verhandlungen. Die Entscheidung musste also schnell getroffen werden.

Uns allen geht das Schicksal der Menschen, die hier bei uns in Europa
Schutz suchen, zu Herzen. Wir sprechen über Menschen, die in Zelten und
unter Planen an europäischen Grenzen ausharren, unter teils furchtbaren
Bedingungen, in der Hoffnung auf ein besseres, ein sicheres Leben. Wir
sprechen über Menschen, die diese verzweifelte Hoffnung auf den
gefährlichen Weg über das Mittelmeer treibt, die ihr Leben und das ihrer
Kinder riskieren, um zu uns nach Europa zu gelangen. Und wir sprechen
über eine Europäische Union, die seit Jahren bei Fragen von Humanität und
Ordnung nicht mit einer Stimme spricht und sich an den Außengrenzen
erpressbar macht.

Für mich ist eine solche Situation bei uns in Europa untragbar. Das habe ich
immer deutlich gemacht. Deswegen haben wir als Bundesregierung in
Brüssel für ein funktionierendes Gemeinsames Europäisches Asylsystem
gekämpft, um das unsägliche Leid zu mindern.

Dass das ein schwieriges Unterfangen werden würde, war von Anfang an
klar, weil die Positionen der EU-Mitgliedstaaten zum Thema Asyl und
Migration so diametral auseinanderliegen.
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Der jetzt erreichte Kompromiss ist absolut kein einfacher. Zur Ehrlichkeit
gehört: Wenn wir die Reform als Bundesregierung alleine hätten
beschließen können, dann sähe sie anders aus. Aber zur Ehrlichkeit gehört
auch: Kein Kompromiss hätte bedeutet, dass gar keine Geflüchteten mehr
verteilt werden. Dass Familien und Kinder aus Syrien oder aus Afghanistan,
die vor Krieg, Folter und schwersten Menschenrechtsverletzungen geflohen
sind, dauerhaft und ohne Perspektive an der Außengrenze festhängen. Ein
Nein oder eine Enthaltung Deutschlands zu der Reform hätte mehr und
nicht weniger Leid bedeutet.

Mit der heutigen Einigung kann es nun erstmalig in der EU eine
Registrierung aller Geflüchteten und eine auf Dauer angelegte
verbindliche Lösung für einen Solidaritäts- und Verteilmechanismus
geben, mit dem jedes Jahr mindestens 30.000 Geflüchtete verteilt werden
sollen. Zur Aufnahme von Geflüchteten von den Außengrenzen waren
bisher nur ganz wenige Mitgliedsstaaten bereit – neben Deutschland vor
allem Frankreich. Jetzt werden die Außengrenzstaaten spürbar entlastet.

So öffnen wir jetzt den Weg für eine europäisch breit getragene Verteilung
von Geflüchteten unter den EU-Mitgliedstaaten, auch wenn wir dabei
nicht all unsere Vorstellungen durchsetzen konnten. Denn der bittere Teil
des Kompromisses sind die verpflichtenden Grenzverfahren. Ich kann Eure
Sorgen darüber verstehen: für viele von uns Grünen geht diese
Entscheidung ans Eingemachte. Doch die Einigung auf diese Verfahren war
notwendig, denn ansonsten hätte sich fast niemand außer Deutschland an
dem Verteilmechanismus beteiligt.

Gemeinsam mit der Kommission hat die Bundesregierung dafür gesorgt,
dass diese Verfahren nur für einen begrenzten Teil der Geflüchteten gelten
– nämlich für jene, die aus Ländern mit nur geringer Bleibeperspektive
kommen, die also kaum darauf hoffen können, dass ihr Asylantrag positiv
entschieden wird. Für Geflüchtete mit einer hohen Schutzquote hingegen,
die an der Außengrenze ankommen – also Syrer, Afghanen, Iraker - gelten
diese Grenzverfahren also nicht!

Viele von uns haben die furchtbaren Zustände auf Lesbos vor Ort gesehen
und werden sie wohl nie vergessen können. Uns ging es deswegen darum,
Maßnahmen zu ergreifen, damit es nicht wieder zu Zuständen wie in
Moria kommen kann. So müssen jederzeit 30.000 Plätze für die
Grenzverfahren bereitgehalten werden. Wenn diese Kapazitäten oder eine
jährliche Höchstgrenze von im ersten Jahr 60.000 (später bis 120.000)
überschritten werden, dann werden die Grenzverfahren ganz ausgesetzt.
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Wir als deutsche Bundesregierung haben zudem hart dafür gekämpft, die
Freiheitsbeschränkungen gerade für Familien so gering wie möglich zu
halten. Leider standen dabei nur Luxemburg, Irland und Portugal auf
unserer Seite. Trotzdem konnten wir erreichen, dass unbegleitete
Minderjährige nun ausgenommen sind und für Familien besondere
Schutzregeln – insbesondere nach der Kinderrechtskonvention – gelten.
Dass es für unsere harte Forderung, Familien ganz auszunehmen, keine
Mehrheit gab, ist mehr als bitter. Aber in einem Kreis von Staaten, in dem
viele nationale Regierungen anderer EU-Partner auf noch restriktivere
Regelungen pochten, waren weitere pauschale Ausnahmen nicht
durchsetzbar. Deshalb haben wir hier auch auf die Details geschaut:
Antragstellende mit besonderen Bedarfen (explizit gehören Minderjährige
dazu), denen konkret vor Ort nicht Rechnung getragen werden kann,
müssen nach individueller Prüfung nicht in die Grenzverfahren. Auch
angemessene Gesundheitsversorgung und Beschulung sind unter anderem
verpflichtend.

Entscheidend war für uns, dass die Verfahren so gestaltet sind, dass das
individuelle Recht auf Asyl in seinem Wesenskern nicht angetastet wird.
Auch im Grenzverfahren muss jeder Antrag individuell geprüft werden. Auf
unser Drängen hin wurde aufgenommen, dass über die Möglichkeit, beim
Rechtsbehelfsverfahren einen Rechtsbeistand zu erhalten, zwingend
informiert wird und der Zugang für unabhängige Rechtsberatung
sichergestellt werden muss.

Ich weiß, viele machen sich große Sorgen um die Einhaltung und die
Überwachung dieser Regeln. Wir konnten erreichen, dass die Kommission
verpflichtet wird, zusammen mit den Mitgliedsstaaten und den EU-
Agenturen verbindliche Implementierungs-Pläne festzulegen und deren
Umsetzung im Rahmen eines Monitorings zu überwachen. Dazu gehören
explizit auch die Garantien zum Schutz von Kindern und vulnerablen
Gruppen.

In einer besonders zentralen Frage hat es auf unseren Druck hin heute
Bewegung gegeben: Wir konnten ein starkes Verbindungselement zwischen
Geflüchtetem und Drittstaat verankern. Damit haben wir sicherstellen
können, dass auch Geflüchtete aus Ländern wie Afghanistan, Irak oder
Syrien der Zugang zum Asyl in Europa erhalten bleibt. Nur wenn sie in
einem Drittstaat etwa familiäre Bindungen oder berufliche Voraufenthalte
haben, darf die Zuständigkeit dorthin abgegeben werden. Ein reiner Transit
auf dem Fluchtweg reicht nicht aus. Dies schließt ein so genanntes
„Ruanda-Modells“ aus. Dass uns dies gelingen würde, war bis zuletzt
unsicher und hat einen enormen Kraftakt erfordert. Die meisten Staaten
wollten den Zugang zum Asylrecht an dieser Stelle weitgehend beschneiden
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und hätten dies auch über nationale Regelungen immer weiter verschärfen
können.

Könnten wir am Reißbrett ein ideales Asylsystem für Europa konzipieren,
es sähe für mich, für uns, anders aus als das Ergebnis, das wir heute erzielt
haben. Wir alle wissen aber, dass die Europäische Union aus 27
Mitgliedsstaaten besteht, die gemeinsam in Brüssel um Kompromisse
ringen. Ob es uns gefällt, oder nicht: eine Reihe anderer EU-Staaten
nehmen zunehmend restriktivere Haltungen bei Migrationsfragen ein.

Auch ein Aufsplitten des GEAS-Regelungspakets, wie von vielen bei uns
gefordert, war nicht möglich. Eine Beschränkung zum Beispiel auf
Registrierung und Screening hätten die Außengrenzstaaten nicht
mitgemacht. Zu verpflichtender Solidarität und Verteilung war fast kein
anderer Partner ohne verpflichtende Grenzverfahren bereit. Das müssen
wir als Land ohne EU-Außengrenze respektieren.

Ich weiß, dass viele von Euch mit dieser Entscheidung hadern. Viele von
Euch haben Eure Kritik und Eure Sorge darüber mit mir und den anderen
Kolleginnen und Kollegen unserer Partei im Deutschen Bundestag und
darüber hinaus geteilt. Ich bin dankbar für diese ehrlichen Worte.

Ich werbe aber auch dafür, sich ehrlich vorzustellen, was es geheißen hätte,
wenn wir mit Nein gestimmt hätten. Bei schwierigen politischen
Entscheidungen muss man sich auch immer wieder verdeutlichen, was die
Folgen eines Nichthandelns wäre: Hätte Deutschland mit Ungarn und
Polen dagegen gestimmt, wäre eine gemeinsame europäische solidarische
Asylpolitik auf Jahre tot. Und es hätte geheißen, dass wir die
Außengrenzstaaten weiter mit ihren Problemen alleine ließen. Der Trend
zur Abschottung würde sich fortsetzen. Mit mehr Pushbacks, mehr Zäunen,
mehr Leid – und Gefahren für den Schengenraum durch einen steigenden
Druck, Grenzkontrollen wiedereinzuführen. Ich will aber keine
Schlagbäume an Rhein und Oder.

Wir standen vor einer Abwägung: ob wir mit unserem Nein den Status Quo
erhalten – und damit die Situation für keinen einzigen Geflüchteten an
unserer Außengrenze verbessern, oder ob wir mit der Zustimmung zu
einem schmerzhaften Kompromiss jetzt für einige - Syrer, Afghanen, Iraker
– echte Perspektiven schaffen.

Regierungsverantwortung zu tragen bedeutet für mich, sich solchen
Dilemmata zu stellen. Meine Richtschnur als Außenministerin wird dabei
immer sein, wie ich durch mein Handeln in der Realität dazu beitragen
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kann, die Situation von möglichst vielen Menschen konkret zu
verbessern, und wenn auch nur einen Millimeter weit.

Am Ende kam es auf die deutsche Stimme an. Ein Nein oder eine
Enthaltung Deutschlands hätte bedeutet, dass GEAS gescheitert wäre, dass
Kinder trotz hoher Bleibeperspektive weiter an der Außengrenze
festhängen bleiben.

Der Kompromiss, auf den wir uns nun geeinigt haben, ist Ergebnis eines
harten Ringens. Aber wir haben nun eine Einigung, die erstmals
verpflichtende Solidarität festschreibt, ein Mindestmaß an Verteilung
garantiert und die Außengrenzstaaten spürbar entlastet.

So schwierig dieser Kompromiss ist, ich bin überzeugt, dass er richtig ist:
Um zu verhindern, dass Europa uns auseinanderdriftet und um
sicherzustellen, dass wir gemeinsame geordnete und humane Verfahren
haben. Weil der Status Quo für uns in Europa unhaltbar ist, es ist ein
Status Quo des Leids, der Unordnung und der zunehmenden nationalen
Abschottung. Das wollen wir mit der heutigen Entscheidung verändern.

Eure
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