Faktensammlung: Wirkungen eines Tempolimits von 130 km/h auf Autobahnen

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Faktensammlung Wirkungen eines Tempolimits von 130 km/h auf Autobahnen
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Faktensammlung Wirkungen eines Tempolimits von 130 km/h auf Autobahnen im Auftrag des DVR-Vorstandsausschusses Verkehrstechnik an den Deutschen Verkehrssicherheitsrat Stand: 4. Juni 2018 Federführender Autor: -- Prof. Dr. Bernhard Schlag TU Dresden Autorin und Autoren: -- Jacqueline Lacroix DVR -- Prof. Dr. Dieter Müller IVV Bautzen -- Dr. Falk Richter TU Dresden -- Klaus Schuh VKM Redaktion: -- Prof. Dr. Udo Becker TU Dresden -- Michael Heß VKM -- Sven Rademacher VKM -- Wolfram Schmidt TU Dresden -- Dr. Jürgen Wiegand IAG
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Inhalt Kurzfassung 1. Welche Tempolimits gelten auf europäischen Autobahnen? 2. Autobahnstrecken mit und ohne Tempolimit in Deutschland 3. Entwicklung der Diskussion um Tempo 130 auf Bundesautobahnen (BAB) in Deutschland 4. Unfälle mit Personenschaden und gefahrene Geschwindigkeiten auf Autobahnen mit und ohne Tempolimit Welche Auswirkungen auf die Unfallhäufigkeit und die Verletzungsschwere haben die gefahrenen Geschwindigkeiten? Unfälle und Unfallfolgen auf Strecken mit und ohne Tempolimit Wie verändern sich die gefahrenen Geschwindigkeiten mit zulässigen Höchstgeschwindigkeiten und welche Wirkungen hat dies? Welche Parameter beeinflussen die Geschwindigkeitswahl neben der zulässigen Höchstgeschwindigkeit? Unfallfolgen auf Autobahnen im internationalen Vergleich 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5. Veränderungen nach Einführung von Tempolimits im Vorher–Nachher–Vergleich in Deutschland und Europa 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 Auswirkungen eines Tempolimits von 130 km/h auf weitere Parameter Auswirkungen auf Monotonie und Müdigkeit Auswirkungen auf ältere Autofahrende: Geschwindigkeit und demografische Entwicklung Sind bei einem bundesweiten Tempolimit von 130 km/h Nebeneffekte auf die Regelbefolgung und das soziale Verkehrsklima zu erwarten? Auswirkungen auf den Verkehrsfluss und Reisezeiten Auswirkungen auf Emissionen und Lärm 7. Geschwindigkeit und zunehmende Automatisierung der Fahrzeuge 8. Akzeptanz von Tempo 130 auf BAB in der Bevölkerung 9. Rechtliche Aspekte eines generellen Tempolimits auf Autobahnen 10. Literatur 1
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Kurzfassung Die Ausgangssituation Deutschland ist das einzige Land in der EU, in dem keine allgemeine, auf dem gesamten Autobahnnetz geltende Geschwindigkeitsbegrenzung existiert. In allen übrigen Ländern gibt es seit vielen Jahren allgemeine Tempolimits auf Autobahnen in unterschiedlicher Höhe, zumeist zwischen 110 km/h und 130 km/h. Auf 23,4 Prozent der deutschen Bundesautobahnen (BAB) gilt ein streckenbezogenes, situationsunabhängiges Tempolimit (i.d.R. 120 km/h oder 130 km/h). Auf 6,2 Prozent der BAB gilt ein streckenbezogenes, situationsabhängiges Tempolimit (nur unter ungünstigen Verkehrsbedingungen). Auf 70,4 Prozent der deutschen Autobahnen gilt demnach „freie Fahrt“ (Stand 2015), soweit keine kurzfristigen Geschwindigkeitsbegrenzungen beispielsweise wegen Baustellen angeordnet werden. Im Jahr 2017 sind 409 Menschen auf deutschen Autobahnen durch Verkehrsunfälle ums Leben gekommen. Mit Blick auf das Jahr 2016 sind rund 72 Prozent aller Getöteten auf solchen Autobahnabschnitten zu verzeichnen, die keine Geschwindigkeitsbegrenzung hatten. Auch die Anzahl der Getöteten bei Geschwindigkeitsunfällen (Unfälle, bei denen mindestens eine beteiligte Person nicht angepasste Geschwindigkeit aufwies) auf Autobahnen war auf den Strecken ohne Tempolimit in fast allen betrachteten Jahren höher als auf den Strecken mit Tempolimit. Man kann davon ausgehen, dass bei den etwa 30 Prozent der zurzeit tempolimitierten Autobahnabschnitte die Begrenzungen wegen ungünstiger Sicherheitslagen (z.B. Topografie, Unfallschwerpunkt) vorgenommen wurden, um dadurch die Unfallzahlen und die Anzahl der Getöteten zu senken. Dieser positive Effekt könnte nach bei Einführung eines allgemeinen Tempolimits auch auf den 70 Prozent der bisher nicht tempolimitierten Streckenabschnitten eintreten. Im internationalen Vergleich steht Deutschland mit drei getöteten Personen je 100 km Streckenlänge der BAB schlechter da als Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz, Dänemark, Finnland und Frankreich (alle zwischen einem und 2,5 Getöteten je 100 km Streckenlänge. Auswirkungen der Geschwindigkeit auf die Verkehrssicherheit Nach einem von Nilsson 2004 entwickelten und seitdem vielfach wissenschaftlich bestätigten Modell führt eine Verringerung der Durchschnittsgeschwindigkeit um fünf Prozent zu etwa zehn Prozent weniger Unfällen mit Verletzten und zu 20 Prozent weniger tödlichen Unfällen. Der Zusammenhang zwischen einer Senkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeiten und einer Senkung der tatsächlich gefahrenen mittleren Geschwindigkeiten ist ebenfalls in zahlreichen Studien bestätigt (Elvik 2012). Bei niedrigeren Geschwindigkeiten führen auch nicht-geschwindigkeitsbezogene Fehler der Fahrzeugführenden (z.B. mangelnder Abstand, Fehler beim Fahrstreifenwechsel etc.) mit geringerer Wahrscheinlichkeit zu Unfällen und insbesondere zu schweren Unfallfolgen, da einmal die Unfallschwere physikalisch von der Geschwindigkeit abhängt, und zum anderen die Kompensationsleistung des Gesamtsystems bei geringerer Geschwindigkeit (und damit mehr Zeit) höher ist. Eine Fehlerkompensation, für die bei niedrigeren Geschwindigkeiten noch gerade hinreichend Zeit besteht, kann bei sehr hohen Geschwindigkeiten oft nicht mehr gelingen. 2
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Auswirkungen von Tempobegrenzungen im Vorher–Nachher–Vergleich 2018 legten das International Transport Forum (ITF) und die International Traffic Safety Data and Analysis Group (IRTAD) einen Bericht vor mit elf Fallstudien aus zehn Ländern zu den Wirkungen geschwindigkeitsbezogener Maßnahmen auf das Unfallgeschehen. Stets zeigten sich bei einer Senkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erhebliche Minderungen bei der Anzahl der auf den jeweiligen Strecken getöteten Personen, zumeist im zweistelligen Prozentbereich. Schon relativ kleine Änderungen der zugelassenen Höchstgeschwindigkeiten führten regelmäßig zu signifikanten Änderungen der Anzahl der Unfälle mit schweren Personenschäden. Auch für Autobahnen in Deutschland gibt es entsprechende Erkenntnisse: Ein Großversuch zu Tempo 130 auf Autobahnen in Deutschland wurde in den 1970er Jahre von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) durchgeführt. Verglichen wurden zum einen Abschnitte mit und ohne Tempolimit und zum anderen in einem Vorher-Nachher-Vergleich Streckenabschnitte, bei denen für jeweils ein Jahr eine Geschwindigkeitsbegrenzung ausgeschildert wurde. Die Abschnitte mit einer Höchstgeschwindigkeit wiesen neun bis elf Prozent weniger Unfälle auf, wobei die Anzahl der Unfälle mit Personenschaden um acht Prozent geringer war. Die Anzahl der Getöteten und Schwerverletzten sank um 20 Prozent bis 23 Prozent (Ernst u.a., 1977). Die daraufhin als Konsequenz eingeführte „Richtgeschwindigkeit 130“ erwies sich jedoch mit Bezug auf die Veränderung der gefahrenen Geschwindigkeiten als wirkungslos. Als 2003 auf einem 63 km langen Abschnitt der BAB 24 in Brandenburg eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h angeordnet wurde, sank die Anzahl der Unfälle und Verletzten dort um ca. 50 Prozent. Auf der BAB 4 wurde im September 2017 auf einem Abschnitt zwischen Merzenich und Elsdorf nach einer Reihe von Unfällen mit insgesamt neun Getöteten in den vorangegangenen drei Jahren eine Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h eingeführt. Nach dieser Maßnahme ereignete sich dort (bisher) kein Unfall mehr mit Todesfolge. Auswirkungen einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf andere Parameter Bei einer Senkung der mittleren gefahrenen Geschwindigkeiten verringert sich systematisch auch die Varianz der Geschwindigkeiten. Dies führt zu einem homogeneren Verkehrsfluss und kann zur Verhinderung von Staus beitragen. Daraus ergibt sich die scheinbar paradoxe Wirkung: Wenn alle mit geringerer, gleichmäßiger Geschwindigkeit fahren, können alle in der Gesamtsumme schneller ankommen. Generell niedrigere Geschwindigkeiten könnte die Regelakzeptanz und -befolgung verbessern, u.a. da es die deskriptiven Normen (wahrgenommenes Verhalten anderer) verändert. Die Möglichkeiten zur längeren Erhaltung sicherer individueller Mobilität für Ältere würden mit hoher Wahrscheinlichkeit verbessert, da Extremgeschwindigkeiten und starke Geschwindigkeitsdifferenzen Teile dieser Gruppe verunsichern, was derzeit dazu führt, dass sie teilweise Autobahnen meiden (Schlag, 2008) und stattdessen auf (unsichereren) Landstraßen fahren. Fahrzeugverbräuche und verschiedene Emissionen steigen bei Geschwindigkeiten über 100 km/h an. Deutschland könnte bei niedrigeren gefahrenen Geschwindigkeiten die CO2- Reduktionsverpflichtungen besser einhalten. Ein positiver Beitrag zur Luftreinhaltung sowie zur Lärmreduzierung (insbesondere durch einen gleichmäßigeren Verkehrsfluss) wären zu erwarten. Die auch aus Gründen der Verkehrssicherheit erwünschte Verbreitung (hoch-)automatisierten Fahrens würde erleichtert, da insbesondere hohe Differenzgeschwindigkeiten auf Autobahnen für diese Systeme eine schwer zu bewältigende Herausforderung darstellen. 3
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Verschiedene Befragungen bestätigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung ein allgemeines Tempolimit befürwortet (DVR 2017; Cosmos Direkt 2018). Diese und weitere Ergebnisse sprechen insgesamt dafür, dass eine Akzeptanz für die Einführung eines Tempolimits von 130 km/h auf BAB in Deutschland in der Bevölkerung vorhanden ist. In rechtlicher Sicht gebietet die Schutzpflicht des Grundgesetzes (Art. 2 Abs. 2 Satz 1) dem Staat, sich auch im Straßenverkehr schützend vor das Leben zu stellen und das Leben und die Gesundheit aller Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer mit Hilfe des rechtsstaatlichen Normenkataloges vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. Wenn sich generelle Geschwindigkeitsvorgaben dazu eignen, Leben und Gesundheit noch effizienter als bisher zu schützen, müssen also Gesetzgeber und Verordnungsgeber handeln. Wissenschaftlicher Beirat des Bundesministeriums für Verkehr Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) (2010) hat in seinem ausführlichen Gutachten zur Straßenverkehrssicherheit ein generelles Tempolimit auf BAB befürwortet. Vision Zero Im Sinne der Vision Zero ist zu diskutieren, welche Verkehrssicherheits-Effekte ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen hätte. 4
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1. Welche Tempolimits gelten auf europäischen Autobahnen? Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen gelten in allen Ländern Europas, wobei diese nach allgemeinen Tempolimits, fahrzeugbezogenen Tempolimits und streckenbezogenen Tempolimits unterschieden werden. In Deutschland gelten streckenbezogene und fahrzeugbezogene Geschwindigkeitsbegrenzungen, in allen anderen Ländern Europas, die über ein Autobahnnetz verfügen, gelten auch allgemeine Tempolimits. Allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzungen bedeuten, dass auf dem jeweils gesamten Autobahnnetz eines Landes Höchstgeschwindigkeiten vorgegeben sind, die nicht überschritten werden dürfen, die aber streckenbezogen und situativ niedriger festgelegt werden können und durch Verkehrszeichen bzw. Verkehrsbeeinflussungsanlagen sichtbar gemacht werden. Fahrzeugbezogene Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten für Lkw über 3,5 t, für Pkw und Lieferwagen mit Anhängern, Busse und Motorräder. In einigen Ländern gelten darüber hinaus jahreszeitliche Geschwindigkeitsbegrenzungen, in anderen fahrpraxisbezogene Tempolimits. Folgende allgemeine Geschwindigkeitsbeschränkungen für Pkw gelten in folgenden europäischen Ländern (EU-Kommission, 2018): Österreich: Belgien: Bulgarien: Dänemark: Estland: 130 km/h auf AB und Schnellstraßen 120 km/h auf AB und Schnellstraßen 140/120 km/h auf AB und Schnellstraßen 130 km/h auf AB und Schnellstraßen 90 km/h auf AB und Schnellstraßen; zur Sommerzeit 110 km/h auf Straßen mit zwei Richtungsfahrbahnen Finnland: 120/100/80 km/h – stets durch Verkehrszeichen angegeben Frankreich: 110/130 km/h auf AB und Schnellstraßen; 100 km/h bei Regen und Nässe und 50 km/h bei einer Sicht von weniger als 50 m Griechenland: 130/110 km/h auf AB und Schnellstraßen Irland: 120 km/h auf AB und Schnellstraßen Italien: 130 km/h auf AB und Schnellstraßen Kroatien: 130 km/h auf AB und Schnellstraßen Litauen: 130 km/h vom 1. April bis 31. Oktober; 110 km/h vom 1. November bis 31. März Fahrer mit weniger als zwei Jahren Fahrpraxis: 90 km/h Luxemburg: 130 km/h auf AB und Schnellstraßen; 110 km/h bei Regen Malta: 80 km/h außerorts, da kein nennenswertes AB-Netz vorhanden Niederlande: 130/120/110 km/h auf AB und Schnellstraßen Norwegen: 100 km/h auf AB und Schnellstraßen Polen: 120/140 km/h auf AB und zweispurigen Schnellstraßen Portugal: 120/110 km/h auf AB und Schnellstraßen Rumänien: 130 km/h auf AB und Schnellstraßen Schweden: 110 km/h auf AB und Schnellstraßen Schweiz: 120/100 km/h auf AB und Schnellstraßen Slowakei: 130 km/h auf AB und Schnellstraßen; 90 km/h in bebauten Bereichen Slowenien: 130/110 km/h auf AB und Schnellstraßen Spanien: 120/90 km/h auf AB und Schnellstraßen Tschechische Republik: 130 km/h auf AB; 80 km/h in bebauten Bereichen 5
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Ungarn: 130/110 km/h auf AB und Schnellstraßen Vereinigtes Königreich: 112 km/h auf AB und Schnellstraßen Zypern: 100 km/h auf AB und Landstraßen Abb. 1: Tempolimits auf europäischen Autobahnen 2. Autobahnstrecken mit und ohne Tempolimit in Deutschland Das Autobahnnetz Deutschlands ist insgesamt 12.996 km lang (BMVI, 2017). Rund 25.767 km Autobahn werden in beide Richtungsfahrbahnen gezählt (BASt, 2017; Stand: 2015). Davon gilt auf: - - - 18.115 km kein Tempolimit, 6.035 km ein streckenbezogenes Tempolimit auch unter günstigen Bedingungen, 1.608 km ein flexibles Tempolimit nur unter ungünstigen Bedingungen (je nach 1 Verkehrslage, Witterung u.a.) . Auf 70,4 Prozent der deutschen Autobahnen gilt demnach keinerlei Geschwindigkeitsbegrenzung, soweit keine kurzfristig wegen Baustellen u.a. angeordnet ist. Auf 23,4 Prozent der BAB gilt hingegen ein streckenbezogenes, situationsunabhängiges Tempolimit (i.d.R. 120 km/h oder 130 km/h). Auf 6,2 Prozent der Strecken gilt ein situationsabhängiges Tempolimit (nur unter ungünstigen Bedingungen). 1 Die Summe dieser Zahlen ergibt 25.758 km. Dies weicht geringfügig von der o.g. Angabe von 25.767 km ab. Die jeweiligen Zahlen stammen von der BASt und sind richtig übertragen worden. Eine Begründung für die Abweichung ist nicht erkennbar. 6
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Abb. 2: Anteile verschiedener Tempolimit-Regelungen auf Bundesautobahnen (ohne Arbeitsstellen) (BASt 2017; Stand: 2015) 3. Entwicklung der Diskussion um Tempo 130 auf BAB in Deutschland Die Diskussion um Tempolimits ist etwa so alt wie das Auto selbst. Die erste Geschwindigkeitsbegrenzung wurde bereits 1861 im Vereinigten Königreich Großbritannien eingeführt und entsprach zehn mph (ca. 16 km/h) auf breiten Stadtstraßen. Wesentlicher Grund für die Einführung von Tempolimits war regelmäßig die mangelnde Sicherheit im Straßenverkehr. Schon ab 1832 wurde im Vereinigten Königreich der Ordnungswidrigkeitentatbestand des „furiosen Fahrens“ geahndet; das erste „Geschwindigkeitsknöllchen“ wurde 1896 ausgestellt (Criminal on the Road, 1964 S.64; https://en.wikipedia.org/wiki/Speed_limit). In Deutschland hob die erste „Reichsstraßenverkehrsordnung“ am 8. Mai 1934 alle (damals länderspezifischen) Bestimmungen über Geschwindigkeitsbegrenzungen auf. Im Mai 1939 wurden wegen der Unfallzahlen wieder Begrenzungen eingeführt (für Pkw innerorts 60 km/h, außerorts 100 km/h, für Lkw 40 bzw. 70 km/h). Nach Kriegsbeginn senkte man die Geschwindigkeiten im Oktober 1939 auf 40 km/h innerorts, außerorts 80 km/h für Pkw, 60 km/h für Lkw. Die Beschränkung galt auch auf den neuen Reichsautobahnen. 1953 wurden sämtliche Höchstgeschwindigkeiten wieder aufgehoben, auch innerorts. Am 1. September 1957 wurde die Beschränkung auf 50 km/h für alle 7
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Kraftfahrzeuge innerorts wieder eingeführt. Die damalige Debatte verlief mindestens ebenso heftig wie die heutigen Diskussionen um Tempo 30 in Innenstädten oder Tempolimits auf Autobahnen. Die Vorgeschichte prägte die Diskussion: In Westdeutschland nahm das Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren Fahrt auf, das Auto wurde ein wichtiges Statussymbol. Ende 1952 hob der Deutsche Bundestag das oben genannte Gesetz aus dem Jahr 1939 auf, welches das Tempo in Ortschaften auf 40 km/h und sonst überall auf 80 km/h beschränkte. Rückwirkend wurde dies als Maßnahme zum Benzinsparen im Krieg gewertet. In der DDR wurden allgemeine Geschwindigkeitsgrenzen nie aufgehoben. 1972 wurde die Einführung einer generellen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h für nicht richtungsgetrennte Straßen außerorts („Landstraßen“) ohne in beide Fahrtrichtungen durchgehende Überholfahrstreifen beschlossen. Während der ersten Ölkrise galt zwischen November 1973 und März 1974 zum Zweck der Treibstoffeinsparung in der Bundesrepublik ein generelles Tempolimit von 100 km/h auch auf Autobahnen. 1974 wurde für Autobahnen (und für richtungsgetrennte Straßen außerorts sowie für nicht richtungsgetrennte Straßen außerorts mit durchgehenden Überholfahrstreifen in beiden Fahrtrichtungen) zunächst versuchsweise und 1978 dann dauerhaft eine Richtgeschwindigkeit von 130 km/h eingeführt. Seit den „Horrorjahren“ der Straßenverkehrssicherheit zu Beginn der 1970er Jahre, in denen allein in Westdeutschland über 19.000 Menschen pro Jahr bei Verkehrsunfällen umkamen, läuft die Diskussion um eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen in Deutschland mit unterschiedlicher Intensität meist unter der Überschrift „Tempo 130“. Ein Großversuch „Tempo 130 auf Autobahnen“ (Ernst u.a., 1977) wurde nach 1970 durch die damals neu gegründete Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) unternommen. Beteiligt waren mehrere Forschungsgruppen, die u.a. Fragen zur Sicherheit, zum Verkehrsablauf und zur Wirtschaftlichkeit eines möglichen Tempolimits beantworten sollten. Bezüglich der Verkehrssicherheit wurden (westdeutsche) Untersuchungsstrecken mit einer Gesamtlänge von 1.506 km sowie Vergleichstrecken (1.413 km) ausgewählt. Die Vergleichbarkeit der einzelnen Streckenabschnitte sollte dabei unter Beachtung der durchschnittlichen täglichen Verkehrsstärke (DTV), der Lage zu den Verdichtungsräumen, der Topografie und dem Ausbauzustand garantiert werden. Verglichen wurden zum einen Abschnitte mit und ohne Tempolimit und zum anderen in einem Vorher-Nachher- Vergleich Streckenabschnitte, bei denen für jeweils ein Jahr eine Geschwindigkeitsbegrenzung ausgeschildert wurde. Beim ersten Vergleich zwischen (nach obigen Kriterien vergleichbaren) Strecken mit vs. ohne Tempolimit wurden für die Strecken mit Geschwindigkeitsbegrenzung im Vergleich durchweg niedrigere Fahrgeschwindigkeiten gemessen. Zudem sank die Varianz der Geschwindigkeiten und es stellte sich ein homogenerer Verkehrsablauf ein. Die Abschnitte mit einer Höchstgeschwindigkeit wiesen neun bis elf Prozent weniger Unfälle auf, wobei die Anzahl der Unfälle mit Personenschaden um acht Prozent geringer war; die Anzahl der Getöteten und Schwerverletzten sank um 20 Prozent bis 23 Prozent (Ernst u.a., 1977). Als Konsequenz aus diesen Studien wurde damals in Abwägung zwischen diesen Forschungsergebnissen und anderen Interessen in Deutschland (West) die „Richtgeschwindigkeit 130“ eingeführt. Mit Bezug auf die Veränderung der gefahrenen Geschwindigkeiten erwies sich diese bald als wirkungslos. 8
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