Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen

Strategiepapier des Bundesinnenministeriums. Mehr Informationen dazu hier.

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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH Szenario 4: „Abgrund“ Das vierte Szenario unterstellt eine unkontrollierte und unkontrollierbare Entwicklung. Eine Eindäm- mung der Virusepidemie gelingt nicht. Ausgangsbeschränkungen werden für den Rest des Jahres festgeschrieben. Dies bedeutet eine dauerhafte Reduktion der wirtschaftlichen Aktivität auf ein nied- rigeres Niveau. Unterstellt ist eine weitere Verringerung der Wirtschaftsleistung nach vier Monaten mit Ausgangsbeschränkungen. In dieser Situation würde das BIP um 32 Prozent einbrechen, die Industrie um 47 Prozent. Bei weite- ren sich verstärkenden Zweitrundeneffekten und sich festsetzenden Negativerwartungen wäre eine beschleunigte Abwärtsdynamik nicht auszuschließen. Dieses Szenario kommt einem wirtschaftlichen Zusammenbruch gleich, dessen gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen kaum vorstellbar sind. Bewertung Die Abschätzungen zeigen bei allen Unsicherheiten, dass unter allen Umständen auf Szenario 1 („Schnelle Kontrolle“) hingearbeitet werden muss. Szenario 4 („Abgrund“) wäre eine unvorstellbare wirtschaftliche Katastrophe, die gesellschaftlich zu kaum vorstellbaren Konsequenzen führen würde. Vermutlich würde eher die Behandlung der Erkrankten infrage gestellt, als das eine dauerhafte Stillle- gung des Landes hingenommen würde. Szenario 3 („langes Leiden“) droht bei einer immer weiteren Verlängerung der Ausgangsbeschränkungen zu einer solchen zu werden und sich in Szenario 4 („Ab- grund“) zu verwandeln. Auf diesem Weg ist nie klar, ob er in den Abgrund führt – dies wird negative Dynamiken freisetzen, die Abwärtsentwicklungen beschleunigen. Szenario 2 („Rückkehr der Krise“) stellt eine starke Schrumpfung ohne Rückkehr in Richtung des alten Niveaus im nächsten Jahr dar. Szenario 1 („Schnelle Kontrolle“) gibt die Chance, mit einer wirtschaftlichen Bilanz aus der Krise zu kommen, die der Weltwirtschaftskrise 2009 ähnelt. Dies ist schlimm genug, wäre aber ein Hoffnungs- schimmer. Entscheidend ist, dass es zum einen gelingt, die exponentielle Verbreitung des Virus zu stoppen und die Ansteckungsrate (R0) vor Ostern auf unter 1 zu senken. Zum anderen muss es gelin- gen, durch Eingriffe, die das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in Deutschland nicht zerstö- ren, eine Rückkehr zu unkontrollierten Ansteckungswellen zu verhindern. Dazu muss die Anste- ckungsrate maximal bei ca. 1 gehalten werden. Hierzu kann ein umfassendes Testen, die Identifika- tion von Kontaktpersonen über elektronische Bewegungsprofile, die Isolation von Erkrankten und Verdachtsfällen, ggf. die Unterbindung von Großveranstaltungen oder Zugangsbeschränkungen für Alteneinrichtungen beitragen. Dauerhafte oder auch nur längere Ausgangsbeschränkungen müssen hingegen vermieden werden. Notwendige wirtschaftspolitische Maßnahmen Phase I der COVID-19-Bekämpfung wurde spätestens mit den teilweisen Ausgangsbeschränkungen ab dem 16. März 2020 mit Schulschließungen, Mobilitätseinschränkungen, Geschäftsschließungen, Büro- und Produktionsschließungen etc. eingeleitet und durch Versammlungsverbote etc. verschärft. Um nach dem Ende der Ausgangsbeschränkungen (Phase II) die Neuerkrankungsrate zu senken und dann auf einem stabilen Niveau zu halten, damit ein erneuter unkontrollierter Ausbruch verhindert werden kann, sind umfangreiche gesundheitspolitische Maßnahmen notwendig (vgl. Abschnitt 4). Diese Maßnahmen und dafür notwendigen Strukturen müssen kurzfristig realisiert und aufgebaut werden, um nach den Osterferien in glaubwürdig in Phase II eintreten zu können. Nur mit einem ab- sehbaren Ende der Ausgangsbeschränkungen kann eine Rückkehr zum bisherigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben gewährleistet werden. 11
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH Um die wirtschaftlichen Schäden darüber hinaus zu begrenzen, sind folgende wirtschaftspolitische Maßnahmen erforderlich, teilweise auch bereits beschlossen: - - - - - - - Ausweitung der Kurzarbeit zur Begrenzung der Arbeitslosigkeit wie in der Finanzkrise 2009/10 ist bereits beschlossen. Das reduziert auch die Solvenzrisiken der Unternehmen. Liquiditätshilfen zur Sicherung der kurzfristigen Überlebensfähigkeit der betroffenen Un- ternehmen über Förderbanken (Kredithilfen) und Steuerstundungen wie bereits be- schlossen. Direkte Unternehmenstransfers, zeitlich befristet für Unternehmen, die gleichzeitig im Angebotsschock und Nachfrageschock feststecken und die jenseits der Liquiditätsprob- leme durch die COVID-19-Krise wirtschaftlich existenziell getroffen sind. Beteiligung an Unternehmen durch einen Staatsfonds: Der jetzt projektierte Wirtschafts- stabilisierungsfonds sollte dafür auch die Kapitalbeteiligung an großen Unternehmen vor- sehen. Die staatliche Beteiligung muss mit einer klaren Perspektive des Ausstiegs nach der Krise versehen werden. Auf Ebene der Bundesländer liegt die Zuständigkeit für die Kleingewerbetriebenden, allein wegen der Nähe und der administrativen Vorteile. Steuerliche Entlastungen, um massive Verluste durch die wirtschaftliche Krise zu begren- zen. Hier liegen Chancen für einen positiven Impuls aus der Krise heraus, der auch als Startschuss für einen erneuten Aufschwung gesehen werden kann. Stabilisierung der Kommunalfinanzen, die durch Mehrausgaben im Zuge des öffentlichen Stillstands und den erwartbaren Einbruch der Gewerbesteuer massiv unter Druck gera- ten werden. Hier müssen die Bundesländer ihrer Verantwortung nachkommen. Konjunkturelle Maßnahmen nach Ende der Krise, wenn nachfrageseitige Impulse not- wendig sind. Eine besondere wirtschaftspolitische Herausforderung dürfte darin bestehen, dass der Exit aus dem Krisenmodus mit weitgehendem Stillstand des öffentlichen Lebens die verschiedenen Bran- chen unterschiedlich fordert. - - - Wenn nach Ostern die Einschränkungen des öffentlichen Lebens sukzessive aufgehoben werden können, dürften die Konsumbereiche schnell wieder reaktiviert werden. Die Menschen wollen und können konsumieren. Die staatliche Hilfe bliebe in den meisten Fällen auf Liquiditätsüberbrückung plus einmalige Transfers begrenzt. In vielen, vor allem unternehmensnahen Dienstleistungsbereichen, könnte die Geschäfts- tätigkeit dann ebenfalls wieder anlaufen, z.B. Wirtschaftsprüfer, Inspektion, Autoservice. Bei verschiebbaren Leistungen wie z.B. Bauleistungen ist die Erwartung einer nachhalti- gen Stabilisierung entscheidend. Die international tätigen Unternehmen sind in der Krisenphase sowohl durch fehlende Zulieferung, insbesondere aus dem Ausland, als auch durch die Nichtverfügbarkeit von Arbeitskräften beschränkt. Letzteres wird sich entspannen, wenn die Schulen und Kitas wieder öffnen, für Ersteres kann nur durch die Verfügbarkeit der Transportkapazitäten etc. auf nationaler Ebene ein Beitrag geleistet werden. Die Asymmetrie mit Blick auf die Zeitprofile der Wirtschaftskrise in anderen Volkswirtschaften bleibt eine anhaltende Be- lastung für eine international verflochtene Volkswirtschaft wie die deutsche. Hier sind die Unternehmen in ihrer Anpassungsflexibilität gefragt. Das würde aber auch bedeuten, dass die international tätigen Unternehmen länger auf wirtschaftspolitische Unterstüt- zung angewiesen sein können (beispielsweise durch Kapitalbeteiligungen). 12
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH Gerade vor diesem Hintergrund darf die wirtschaftspolitische Antwort auf die aktuelle Krise nicht rein national bleiben. Ebenso reicht es nicht aus, die Verantwortung für die europäische Dimension der wirtschaftspolitischen Antwort allein der Europäischen Zentralbank (EZB) zu überlassen. Vielmehr bedarf es einer koordinierten fiskalischen Strategie auf europäischer Ebene. Diese Anstrengungen müssen die finanzielle Unterstützung für andere Länder der EU einschließen, die sonst durch die Ein- dämmung der Krise finanziell überlastet wären (insb. Italien). Neben das PEPP der EZB sind daher weitere Instrumente zu setzen, etwa bestehende oder neu einzurichtende Kreditlinien des Europäi- schen Stabilitätsmechanismus ESM oder COVID-19-Gemeinschaftsanleihen. Die Diskussion um die konkreten Instrumente sollte nicht den Blick auf die Notwenigkeit einer koordinierten fiskalischen Strategie verstellen. 4. Schlussfolgerungen für Maßnahmen und offene Kommunikation 4 a. Worst case verdeutlichen! Wir müssen wegkommen von einer Kommunikation, die auf die Fallsterblichkeitsrate zentriert ist. Bei einer prozentual unerheblich klingenden Fallsterblichkeitsrate, die vor allem die Älteren betrifft, den- ken sich viele dann unbewusst und uneingestanden: «Naja, so werden wir die Alten los, die unsere Wirtschaft nach unten ziehen, wir sind sowieso schon zu viele auf der Erde, und mit ein bisschen Glück erbe ich so schon ein bisschen früher». Diese Mechanismen haben in der Vergangenheit sicher zur Verharmlosung der Epidemie beigetragen. Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseu- chung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden: 1) Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewie- sen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft krie- gen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Le- bensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstö- rend. 2) "Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden": Falsch. Kinder werden sich leicht anste- cken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann. 3) Folgeschäden: Auch wenn wir bisher nur Berichte über einzelne Fälle haben, zeichnen sie doch ein alarmierendes Bild. Selbst anscheinend Geheilte nach einem milden Verlauf können anscheinend jederzeit Rückfälle erleben, die dann ganz plötzlich tödlich enden, durch Herzin- farkt oder Lungenversagen, weil das Virus unbemerkt den Weg in die Lunge oder das Herz gefunden hat. Dies mögen Einzelfälle sein, werden aber ständig wie ein Damoklesschwert über denjenigen schweben, die einmal infiziert waren. Eine viel häufigere Folge ist monate- und wahrscheinlich jahrelang anhaltende Müdigkeit und reduzierte Lungenkapazität, wie dies schon oft von SARS-Überlebenden berichtet wurde und auch jetzt bei COVID-19 der Fall ist, obwohl die Dauer natürlich noch nicht abgeschätzt werden kann. Ausserdem sollte auch historisch argumentiert werden, nach der mathematischen Formel: 2019 = 1919 + 1929 13
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH Man braucht sich nur die oben dargestellten Zahlen zu veranschaulichen bezüglich der anzunehmen- den Sterblichkeitsrate (mehr als 1% bei optimaler Gesundheitsversorgung, also weit über 3% durch Überlastung bei Durchseuchung), im Vergleich zu 2% bei der Spanischen Grippe, und bezüglich der zu erwartenden Wirtschaftskrise bei Scheitern der Eindämmung, dann wird diese Formel jedem ein- leuchten. 4 b. „Worst Case Vermeidung“ als strategisches Ziel für D und EU ausgeben Es dürfte allen klar sein, dass einzelne Länder in der EU kaum allein erfolgreich sein können im Kampf gegen das Virus. Der wirtschaftliche und menschliche Austausch ist viel zu eng. Politische Schockwel- len kennen keine Grenzen. Eine Kernschmelze in einem einzigen EU-Mitgliedstaat würde weitläufige Auswirkungen haben. Deshalb ist eine aktive Rolle der EU hier mehr gefragt denn je. Deutschland kann hier nicht nur politisch, sondern auch organisatorisch und industriell eine Vorreiterrolle über- nehmen, sowohl bei der Eindämmung der Epidemie (Produktion/Beschaffung von Testkits und PCR- Maschinen, Entwicklung von mobilen Teststationen) als auch bei Massnahmen zur Mobilisierung der Gesellschaft zur Abfederung der sozialen und politischen Konsequenzen. 4 c. Maßnahmenplanung der Bevölkerung vermitteln 4 c 1 Testkapazität hoch Die bei weitem wichtigste Massnahme gegen ein Virus wie SARS-CoV-2 ist das Testen und Isolieren der infizierten Personen. Getestet werden sollten sowohl Personen mit Eigenverdacht als auch der gesamte Kreis der Kontaktpersonen von positiv getesteten Personen. Bei ungenügender Testkapazi- tät kann man das Testen einschränken auf Patienten mit schwerer Lungenentzündung und post mor- tem bei allen Verdachtsfällen, um wenigstens die Anzahl Tote genau bestimmen zu können. Jegli- chem Verzicht auf Testen führt jedoch mit Sicherheit zu einer schnelle exponentiellen Verbreitung des Virus. Die anzustrebende Testkapazität (hier unter Annahme von gleichzeitigen scharfen Ausgangsbe- schränkungen über mehrere Wochen) kann mit Faustregeln ermittelt werden (provisorische Erkennt- nisse, müssen verfeinert werden). In der exponentiellen Phase kann man in europäischen Ländern von einer vorläufigen (naive) Fallsterblichkeitsrate (Tote geteilt durch bestätigte Fälle) von 1% ausge- hen, wenn ein Grossteil aller Fälle durch Testen gefunden wird. Wenn die Fallsterblichkeit unter die- sem Wert liegt, muss davon ausgegangen werden, dass die Anzahl der Toten nicht richtig gezählt wird. Wenn die Fallsterblichkeit darüber liegt, Tote * 100, so viele Fälle müssten wir finden. Um sie zu finden, braucht man unter sehr guten Bedingungen 20* mehr Tests als die Anzahl Fälle, die man fin- den möchte. Rechenbeispiel Deutschland Ende März: wir schätzen, die tatsächliche Anzahl der Toten liegt bei 500-1000 (stark underreported). Das bedeutet, dass 50.000 bis 100.000 Fälle gefunden wer- den müssten. Wenn man einen Grossteil davon finden will, braucht man also z.B. 100.000 bis 200.000 Tests pro Tag im Verlauf von 10 Tagen, oder die Hälfte davon während 20 Tagen (wodurch der Zeitraum mit Ausgangsbeschränkungen aber länger wird und das Risiko eines Scheiterns grösser). Sobald die geschätzte nötige Testkapazität erreicht ist, wird die Anzahl neu gefundener Fälle pro Tag zunächst hochschnellen. Wenn die Schätzung richtig war, kommt sie nach der Zeitspanne (z.B. nach 10 Tagen) wieder herunter. Wenn nicht, war die nötige Testkapazität unterschätzt und muss drin- gend hinaufgeschraubt werden, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Das Testen erfordert innovative Lösungen, um sowohl die Auswertung im Labor also auch das Sam- meln der Rachenabstriche weniger aufwendig zu gestalten. Der Schutz der Personen in Kontakt mit potentiell infizierten Personen ist extrem wichtig. Dies wurde in Südkorea mit drive-in und Telefon- 14
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH zellen-Teststationen erreicht, wo die Rachenabstriche von den zu testenden Personen selber ausge- führt werden, ohne direktem Kontakt mit dem Testpersonal. Um an die Bevölkerung ein positives Signal auszusenden und um das Problem der Zufahrt zu den Teststationen zu lösen, vor allem für Per- sonen ohne eigenes Auto, könnten auch mobile Teststationen in der Form von Lieferwagen entwi- ckelt werden. Überdruck im Wageninneren (durch Luftfilter oder provisorisch durch Druckluftfla- schen) vermeidet das Eindringen von Viren. Die Rachenabstriche werden in einer Laborkapelle einge- tütet, versiegelt, mit Alkohol desinfiziert und gelagert, wobei alle Handlungen durch Gummihand- schuhe ausgeführt werden. So kann ausserdem ein Zugehen auf die Bevölkerung signalisiert und Prä- senz in allen Vierteln markiert werden. Das massive Testen muss durch eine effiziente Kontaktsuche von positiv getesteten Personen unter- stützt werden, wobei ein Teil von Hand erfolgen kann nach dem Verfahren, dass das RKI schon vor- schlägt ("Mit wem waren Sie seit fünf Tage vor Anfang der Symptome in Kontakt?"). Um das Testen schneller und effizienter zu machen, ist längerfristig der Einsatz von Big Data und Location Tracking unumgänglich. Alle positiv getesteten Personen müssen isoliert werden, sei es zu Hause oder in einer Quarantäne- anlage; dies muss noch genauer abgeklärt werden. Selbst Einzelquarantäne zu Hause (ohne Mitbe- wohner) kann bei unsachgerechter Handhabung leicht zu weiteren Infektionen im gleichen Wohn- block führen. Sobald diese Massnahmen einmal eingespielt sind, können sie relativ kostengünstig über mehrere Jahre hinaus die wahrscheinlich immer wieder aufflackernden kleinen Ausbrüche sofort eindämmen. 4 c 2 Sozialkontakte absenken Unterstützend zu massivem Testen und vor allem bei relativ grossen Fallzahlen (mehr als ein paar Du- zend pro Tag) oder wenn die Testkapazität nicht schnell genug hochgefahren werden kann, werden Massnahmen zur „sozialen Distanzierung“ benötigt: Heimarbeit, Verbieten von Massenanlässen in Sport und Kultur, Schliessung der Schulen und Universitäten, Schliessung von selbst kleinen sozialen Anlässen wie Sportclubs, Schliessung von Restaurants und Bars, Schliessung von allen nicht lebens- wichtigen Läden, bis hin zur Schliessung von allen nicht lebenswichtigen Betrieben. Die Auswirkungen jeder Massnahme kann jeder selber abschätzen: es geht darum, die Ansteckungs- möglichkeiten zu reduzieren. Wenn es in einer Grossstadt ab und zu Fussballspiele mit 50.000 Teil- nehmern gibt, aber in den öffentlichen Verkehrsmitteln täglich Millionen sich begegnen, ist die Schliessung von Fussballspielen kaum mehr als symbolisch, vor allem bei einem Virus, das kaum wei- ter als über eine Distanz von 2 Metern ansteckend ist. In der jetzigen Phase der Epidemie können wir (hoffentlich) davon ausgehen, dass die Testkapazität sehr schnell hochgefahren werden kann. Davon ausgehend ist es besser, eine sehr scharfe, aber kurze Periode der Ausgangsbeschränkungen zu haben, nur bis die Massnahmen zu Testen und Isolie- ren greifen. Eine längere Periode der Ausgangsbeschränkungen ist weder wirtschaftlich noch sozial aufrecht zu erhalten. Ein wahrscheinlich plausibler, aber optimistischer Zeitplan für Deutschland in den nächsten Wochen könnte so aussehen: bestehend aus einer Kombination von Testen und Isolieren mit begleitendem scharfer, aber kurzer Ausgangsbeschränkung. Der Reproduktionsfaktor bei generation=4 gibt an, wie schnell sich das Virus ausbreitet: R=2.2: ungebremstes exponentielles Ausbreiten (*2.2. alle vier Tage); R=1: lineare Ausbreitung. R<1: Rückgang der Epidemie. Erste vorsichtige Schätzung des Verlaufs der Eindämmungsstrategie gegen Covid-19 15
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH Zeitrahmen Vor 16. März Ab 16. März Ab 23. März Ab 6. April Ab 13. April Ab 20. April Reproduktionsfaktor R=2.2 R=1.6 R=1.2 R=0.8 R=0.5 R=0.8 Massnahmen nur sehr lockere Präventivmassnahmen Schulschliessungen, Social Distancing Umfassende und striktere Ausgangsbeschränkungen Testkapazität massiv hochgefahren auf 50.000 pro Tag Testkapazität auf 100.000 pro Tag Schrittweise Lockerung der Ausgangsbeschränkungen; Wiederaufnahme des Schulbetriebes, sobald dies ohne erneutes Aufflammen der Epidemie möglich ist Ab 27. April R=0.5 Testkapazität auf 200.000 pro Tag, effiziente und gut ein- gespielte Kontaktsuche von Hand und durch Big Data (Lo- cation Tracking usw.) *Die Angaben zu R in dieser Tabelle sind geschätzte Werte basierend auf Beobachtungsdaten von al- len Ländern, über die verlässliche Daten vorliegen, sowie aus Fachpublikationen. Bei einer Modellie- rung des Verlaufs der Epidemie sind diese Werte Input-Parameter. Simulationen können den Wert R und seine Veränderung während der Epidemie nicht genauer bestimmen, sie bleiben immer Aus- gangsannahmen. Bezüglich der Zahl täglich neu gefundenen Fälle erwarten wir, dass sie erst ab 13. April oder vielleicht sogar ab 20. April sinken wird (anscheinender Inflexionspunkt), da wir ein grosses Backlog an noch nicht gefundenen Fällen haben, dass bei Hochfahren der Testkapazität erst langsam aufgearbeitet werden muss. Den tatsächlichen Inflexionspunkt der Infektionen erwarten wir am 6. April. 4 c 3 Betten und Sauerstoffkapazität hochfahren Selbst bei einem erfolgreichen Eindämmen der Epidemie kann die vorhandene Kapazität für die nö- tige Krankenhauspflege leicht überfordert werden. Dabei sollten sich die Anstrengungen nicht auf das abstrakte Konzept der "Betten auf der Intensivstation" konzentrieren, sondern auf die spezifisch nötige Infrastruktur, insbesondere auf die Sauerstoffversorgung und die Anzahl der Beatmungsgeräte sowie die entsprechende Personalausstattung. Der Höhepunkt des entsprechenden Bedarfs wird erst ca. drei Wochen nach Erreichen des Höhepunkts der Neuinfektionen erreicht. 4 c 4 Gemeinsam distanziert: Gesellschaftliche Trägerschaft der Covid-19 Eindämmung durch deutschlandweite und transparente Aufklärungs- und Mobilisierungskampagne Die gegenwärtige Krise durch COVID-19 hat das Potential das Vertrauen in die demokratischen Insti- tutionen in Deutschland nachhaltig zu erschüttern. Dem kann und muss entgegengewirkt werden. Dies gelingt am besten, wenn der Staat – Bund, Länder und Kommunen – proaktiv und koordiniert auftritt und somit nicht als „lähmender“, sondern als mobilisierender Faktor tätig und sichtbar wird. Wichtigste Botschaft der Kommunikation staatlicher Akteure: Das Virus ist ein Risiko für alle. Es wird unser Leben kurz-, mittel- und langfristig verändern. Wir haben das Risiko erkannt, arbeiten auf allen Ebenen zusammen, orientieren uns an der wissenschaftlichen und praktischen Evidenz und handeln entschieden aber nicht panisch. Nur mit einem Zusammenkommen und Wirken von allen Kräften in der Gesellschaft können wir die Verlangsamung der Neuinfizierungen und schließlich Eindämmung des Virus schaffen. Der Staat braucht dazu die Mithilfe aller Bürgerinnen und Bürger, nur dann kön- nen wir das Virus schnellstmöglich eindämmen und ein demokratisches Zusammenleben (sowohl po- litisch, sozial als auch wirtschaftlich) garantieren. Dies erfordert von allen staatlichen Behörden eine umfassende und abgestimmte Information und Aufklärung sowie konkrete Handlungsanweisungen. Wir müssen davon ausgehen, dass ein beträchtli- cher Teil der sich informierenden Bevölkerung durch Medienberichte und soziale Medien vermutet, 16
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VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH dass im Moment die Anzahl der Fälle und die Anzahl der Toten weit unterschätzt werden. Die Bot- schaft, dass jetzt die Testkapazität massiv hochgefahren wird, wird vermutlich mit Erleichterung auf- genommen. Auch die Ankündigung, dass es dadurch kurzfristig zu einem steilen Ansteigen der Fall- und Todeszahlen kommen kann, wird wahrscheinlich schon erwartet. Es ist wichtig, gleich von An- fang an klarzustellen und offensiv zu kommunizieren, dass erfolgreiche Massnahmen sich erst mit erheblicher Verzögerung auf die Anzahl gefundener Neuinfektionen und die Anzahl der Todesfälle auswirken werden. Neben umfassender Information und Aufklärung von Seiten staatlicher Behörden, ist der Staat in be- sonderer Weise auf die zivilgesellschaftliche Solidarität angewiesen. Dieses „Zusammen“ muss mit- gedacht und mitkommuniziert werden. Dazu braucht es ein gemeinsames Narrativ (#wirbleibenzu- hause, oder «gemeinsam distanziert» - «physische Distanz – gesellschaftliche Solidarität») und im besten Fall viele Gesichter (Prominente, Politikerinnen und Politiker, Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftler), die sich mit der Kampagne identifizieren. Die Mobilisierungskampagne für eine (noch) stärkere zivilgesellschaftliche Solidarität richtet sich an zwei verschiedene Gemeinschaften: an die physische Nachbarschaftsgemeinschaft und an die On- line-Gemeinschaft. Die Nachbarsgemeinschaft wird mobilisiert, um mit der Versorgung der Personen in Heimquarantäne mitzuhelfen und um Risikogruppen abzuschirmen. Hier gilt es die Vielzahl von zi- vilgesellschaftlichen Einrichtungen miteinzubeziehen, bspw. die kirchlichen Vereinigungen, sowie po- litische Stiftungen (Lokalbüros) und das Vereinswesen (z.B. Sportvereine, Schützenvereine, Nachbar- schaftshilfen etc.). Der direkte Kontakt zu dieser Gemeinschaft kann durch mobile Teststationen her- gestellt werden, so dass die Gemeinschaft praktisch vor der Haustür in ständigem Kontakt zu den mit der Eindämmung der Epidemie beauftragten lokalen Gesundheitsbehörden ist. Gleichzeitig können für sie Unterstützungsangebote geschaffen werden (Apps zur Kommunikation, Koordination). Diesen Helferinnen und Helfern gilt schon jetzt politisch zu danken und sie zur Verstärkung ihrer Aktivitäten aufzufordern und gleichzeitig für die Eigeninitiative zu loben. Wichtig ist dabei aber eine Vernetzung und Koordination, damit die Hilfeleistung effizient koordiniert werden kann. Die Online-Gemeinschaft hat ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Ohne Mobilisierung und Solidarisie- rung verstärkt sie die Verbreitung von Falschinformationen und kann zur Radikalisierung führen. Ein Teil der Gemeinschaft kann jedoch sicher in das Abfedern der sozialen Auswirkungen der Ausgangs- beschränkungen, des Schutzes von Risikogruppen und der Quarantäne eingebunden werden. Es gibt schon wichtige Angebote in dieser Hinsicht, diese sollen und müssen ausgebaut werden (medizini- sche Betreuung, psychologische Angebote oder einfach gemeinsame Freizeitbeschäftigung online). Auch hier können zivilgesellschaftliche Einrichtungen helfen (s.o.) ebenso Prominente (z.B. We Kick Corona-Initiative von Joshua Kimmich und Leon Goretzka, #wirbleibenzuhause). Denkbar wäre auch ein Aufruf zum gemeinsamen «Fakten-Check» von Informationen und weiteren Hackathons um die Herausforderungen mittels digitaler Ansätze zu bewältigen. Auch hier gilt es ein Gefühl des «gemein- sam distanziert» zu fördern. Auch ältere Personen können sich relativ leicht mit Smartphones und sozialen Medien zurechtfinden, brauchen aber oft technische Hilfe und vor allem persönliche Ratschläge, wie man sich erfolgreich auf den verschiedenen Plattformen bewegt. Um einem Generationenkonflikt (Millennials stecken Äl- tere an) entgegenzuwirken, könnten und sollten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aktiv in die Aufklärungs- und Informationskampagne eingebunden werden. Nur mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und gemeinsam distanziert voneinander kann diese Krise nicht nur mit nicht allzu grossem Schaden überstanden werden, sondern auch zukunftsweisend sein für eine neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat. 17
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