Ruanda_Deutsche_Entwicklungszusammenarbeit_Hauptber_2016_0303467.pdf

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Gutachten zu deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda

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21 Die Zugeständnisse, die Habyarimana seinen innenpolitischen Gegnern unwillig machte (vor allem deren Regierungsbeteiligung), stärkten radikale Kräfte aus seiner ursprünglichen Herrschaftsbasis, die sich mit der Grün- dung der CDR, der Interahamwe-Milizen und der Impuzamugambi- Milizen verselbständigten. Anfang August 1993 wurde der Friedensvertrag von Arusha in Anwesenheit der Präsidenten Tanzanias und Burundis von Habyarimana und dem FPR-Vorsitzenden Kanyarengwe unterschrieben; u.a. wurde die Rückkehr der Altflüchtiinge einvemehmlich geregelt aber auch die Aufteilung der zentralen Machtpositionen des Landes. Für die Beurteilung des Vertragswerkes ist es wichtig zu begreifen, daß es für ei- nen konfliktbereiten Teil der Beteiligten wohl inakzeptabel war, nämlich für den engen Machtzirkel um Habyarimana und die Hutu-Extremisten. Es hätte schon der begleitenden Diplomatie bedurft, um in den Monaten nach dem Friedensschluß eine Stimmungsänderung herbeizuführen. Statt dessen reduzierte die nahezu bedingungslose Unterstützung durch Frankreich, aber auch der unablässige Einsatz aller Entwicklungshilfegeber indirekt die Kompromißbereitschaft des Regimes. Ein schwerer Schlag für den "Geist von Arusha" war dann die Ermordung des ersten, dazu frei ge- wählten Hutu-Präsidenten Melchior Ndadaye im benachbarten Burundi im Zuge eines Putschversuchs entscheidender Teile der Tutsi-Militärführung. Dies geschah ganze drei Monate nach dessen Wahl und hatte eine Verhär- tung der Fronten in Ruanda zur Folge. Zur gleichen Zeit waren vertragsgemäß über 2.000 Soldaten aus 24 Staaten (darunter die größten Kontingente aus Bangladesh, Ghana und Belgien) unter dem Namen UN Assistance Missioji for Rwanda (UNAMIR) entsandt worden, um die Implementierung des Arusha-Vertrages zu garantieren. Als es hart auf hart kam, erwiesen sich die "peace-keeping"-Truppen der UNO als schlecht vorbereitet mit dem falschen Mandat ausgestattet (unter Kapitel 6 statt 7 der UNO-Charta) und konfus. Mit dem Tod des Staatsprä- sidenten beim erwähnten Flugzeugabschuß am 6.4.1994 wurde die Ver- nichtungsmaschinerie in Gang gesetzt die sich schon längst in Vorberei- tung befand. Dennoch ist bis heute unklar, wer das Attentat zu verantwor- ten hat (Regime-Hardliner oder FPR?, mit Hilfe von Franzosen, Belgiern, Amerikanern?). Im ruandischen Genozid entiud sich geradezu ein Gewitter der Gewalt ca. 800.000 Menschen (Tutsi und moderate Hutu) verloren innerhalb weniger
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22 Wochen unmittelbar durch den Völkermord ihr Leben, bis Ende September hatten 2,1 Mio. ruandische Hutu im größten und am schnellsten vollzoge- nen Massenexodus der neueren Geschichte das Land verlassen (zumeist Richtung Zaire, daneben Tanzania und Burundi), 1,8 Millionen Menschen galten als internally displacea persons und eine weiterhin unbekannte Zahl von Flüchtiingen kam in den folgenden drei Jahren ums Leben (geschätzt 200.000). Am ruandischen Genozid waren wohl Hunderttausende als Täter und Helfer beteiligt was ihn von vorangegangenen Völkermorden unter- scheidet Wie zwangsläufig diese Explosion war, ist umstritten. Zu den verschärfen- den Faktoren, die inzwischen nicht mehr von den Konfliktursachen zu trermen sind, gehört die dichte Besiedlung bzw. die demographische Ex- plosion in den beiden Kleinstaaten Ruanda und Burundi (zusammen 55.000 qkm). Zwischen Unabhängigkeit (1962) und Genozid in Ruanda (1994) hat sich die Bevölkerung beider Staaten mehr als verdoppelt (von ca. 6 auf ca. 14 Mio. Einwohner). Während es keinen Zweifel über die direkte Verant- wortiichkeit von Politikern und Militärs für die Verschärfung des Konfhkts und die Auslösung der Gewaltsamkeiten gibt so ist doch stets die latente Rationalität der Eliminierung von konkurrierenden Anwärtern auf knappe Ressourcen zu bedenken. \ Die intemationale Gemeinschaft reagierte schockiert auf den Genozid und versprach wiederholt großzügige Hilfe, die im Nothilfebereich alles in al- lem sicherlich Früchte tmg. Nicht alle Hilfeleistenden waren willkommen; im Dezember 1995 wurden 38 Organisationen ausgewiesen, 150 blieben aber im Land. Zum wichtigsten Allianzpartner wurden die USA, die das neue Regime um den starken Mann und Vizepräsidenten Kagame militä- risch so umfangreich unterstützten, wie dies Frankreich mit dem Vorgän- gerregime getan hatte. Außerdem wurde ein internationales Tribunal im benachbarten Tanzania eingerichtet (November 1994), das allerdings nur langsam mit seiner Arbeit beginnen konnte und noch kein Urteil gefällt hat. Die Drahtzieher der Genozids hatten sich in der Regel durch Flucht ins Ausland retten können; nun wurden die meisten schleppend nach Arusha ausgeliefert, nur um dort geringere Strafen zu erwarten als in Ruanda selbst wo sich die Gefängnisse durch ErmitÜimg oder Denunziation schnell und stetig mit Verdächtigen unterschiedlichen Kalibers füllten.
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23 Auch nach dem Genozid haben sich grundlegende Konstanten der besten- falls als Nullsummenspiel verstandenen ruandischen Politik kaum verän- d e r t Während die von außen aufgezwungene Strukturanpassimgspolitik von Weltbank und IWF vor dem Krieg einen konfliktverschärfender Faktor darstellen mochte, indem sie die Zahl staatiich alimentierter Elitepositionen verringerte und damit keinen Platz für soziale Aufsteiger mehr ließ, hat nun der effektive soziale Abstieg der meisten Hutu-Beamten stattgefunden, die keine Aussicht auf lukrative gehobene Posten mehr haben - mit kon- fliktverschärfenden Folgen. Seit Kriegsende dominiert eine (dazu noch im Ausland sozialisierte) Min- derheit Trotz aller Versuche, Hutu-Vertreter und - "im Geiste von Arusha" - sogenannte Oppositionspolitiker auf oberster Ebene in das neue Regime einzubinden, ist es der FPR nicht gelungen, eine repräsentative Regierung zu bilden. Die Regierung orientiert sich - unter Ausschluß der ehemaligen Einheitspartei MRND - an den Verteilungsschlüssel der Arusha-Verhand- lungen, was insofern wenig Sinn macht als alle Parteien außer der FPR in- zwischen ein Schattendasein führen. Prominente Hutu-Verteter, die bei ei- nem Revirement 1995 ihre Posten verloren (Twagiramungu, Sendashonga), belasteten die engere Staatsführung im folgenden erheblich, auch wenn manche Anschuldigung nicht nachvollziehbar erschien und beide inzwi- schen in Ruanda selbst allseits als diskreditiert gelten. Die neue Regierung spielte in der zairischen Krise einen aktiven Part bei der Unterstützung der erfolgreichen Rebellion gegen Mobutu. Der er- wünschte Nebeneffekt war die Auflösung der zurecht als Sicherheitsrisiko empfundenen Flüchüingslager nahe der Grenze, in denen die alten Autori- tätsstrukturen durch Militärs der geschlagenen Armee und zivile Würden- träger des alten Regimes aufrechterhalten wurden. Während dieser Opera- tionen wurden wohl Tausende von Flüchtiingen getötet siehe dazu Teil III). Schon zuvor hatte die gewaltsame Auflösung des Flüchtiingslagers Kibeho in der von Frankreich im Laufe der umstrittenen "opération turquoise" eingerichteten Sicherheitszone tausende Opfer gefordert. Eine zusätzliche Polarisierung in Ruanda trat mit der dramatisch zuge- spitzten Sicherheitslage nach der zwangsweisen Rückkehr der Flüchtiings- lagerinsassen aus dem Zaïre und aus Tanzania ein. Der Krieg kehrte mit dem Frühjahr 1997 nach Rwanda zurück und wurde von Beginn an auf beiden Seiten brutal und gegen die Zivilbevölkerung geführt so daß ein
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24 Klima der Wiederversöhnung gar nicht erst entstehen konnte. Die Hutu- Milizen griffen bevorzugt Gefängnisse an, u.a. um Gesinnungsgenossen zu befreien, ermordeten der Kollaboration verdächtigte Hutu und genozi- düberlebende Tutsi. Vereinzelt wurden Mitarbeiter intemationaler Hilfsor- ganisationen vermutiich gezielt getötet Bisweilen konnten die Milizen 2.000 Kämpfer für einen Angriff zusammenführen. Die RPA, der bewaffne- te Arm der FPR und inzwischen faktisch die ruandische Nationalarmee, machte sich ebenfalls schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig, darunter außergerichtlicher Exekutionen von verdächtigten Milizsympathi- santen (mehrere Tausend). Genaue Zahlen sind nicht zu bekommen, da im Westteil des Landes ein Monitoring der Menschenrechtslage aus Sicher- heitsgründen unterbleibt; die divergierenden Zahlenangaben unterliegen oft propagandistischen Absichten. Einige regierungskritische Personen (Oppositionelle, zwei Journalisten) kamen unter verdächtigen Umständen im In- und Ausland zu Tode. Unklar bleibt wieviele Menschen in den zu- gemauerten Vulkangrotten bei Kanama ums Leben kamen (November 1997). B Sicherheitspolitische, wirtschaftliche und soziale Hauptprobleme Ruan- das im Jahre 1998 1. Die Sicherheitslage A Die im Prolog genannte empirische Voraussetzung für wirksame Ent- wicklungshilfe, ein raisonnables Maß an persönlicher Sicherheit, ist in Ruanda nur partiell gegeben. Nach dem Sieg der Front Patriotique Rwandais (FPR) 1994 ist es der neu installierten Regierung zunächst gelungen, das Territorium und seine Bevölkerung, sieht man von vereinzelten Angriffen aus dem Ausland ab, zunächst praktisch vollständig zu kontrollieren. Die Hoffnung, die er- wähnten Angriffe aus dem Ausland durch die gewaltsame Auflösung der Flüchtlingslager insbesondere im Kiwugebiet im Zaire beenden zu können, hat sich auf Dauer indes nicht erfüllt Die Wiedereingliederung der überlebenden zurückgekehrten Flüchtiinge zum Jahreswechsel 1996/97 ist im allgemeinen relativ unproblematisch verlaufen, doch mit den eher friedlich zurückgekehrten Flüchtiingen von 1994 kam ins- besondere auch aus dem Zaire eine große Zahl ehemaliger Militärs (ex-
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25 FAR, d.h. Mitglieder der ehemaügen offiziellen ruandischen Armee, und Milizen) zurück, die den Weg in den Untergrund gewählt und den We- sten, insbesondere den Nordwesten des Landes mit Morden, Sabo- tageakten imd kriegerischen Auseinandersetzungen überzogen haben. Insbesondere die Präfekturen Gisenyi und Ruhengeri, eingeschränkt auch das Gebiet im Südwesten (Präfekturen Cyangugu, Kibuye und Gi- tarama), gelten seither als unsicheres Gebiet in dem die Angriffe der genannten, Gerüchten zufolge aber auch neu gebildeter Gruppen und die massiven Vergeltungsschläge der Armee zu einer für EZ unhaltbaren Situation geführt haben: Die Sicherheit der Experten und ihrer ruan- dischen Mitarbeiter und counterparts ist nicht gewährleistet die Bevöl- kerung demoralisiert und verängstigt zum Teil auf der Flucht; es kommt permanent zu Sabotageakten, Angriffen auf Gemeindebüros, Fahrzeuge, Gesundheitszentren, Schulen und Flüchtlingslager und ille- galen Straßensperren. Im übrigen ist besonders darauf hinzuweisen, daß bei solchen Überfällen Ausländer, etwa Europäer, nicht anders behan- delt werden als die eigentiiche Zielgruppe des Überfalles. Die Guerilla ist sich offensichtiich bewußt daß sie weithin als Vertreterin der Kräfte angesehen wird, die den Völkermord von 1994 begangen haben, daß ih- re intemationale Reputation auch durch brutales Vorgehen gegen Aus- länder nicht weiter gemindert werden kann. Die Bevölkerung befindet sich im übrigen in einer klassischen Zwick- mühle: Aus Gründen der Solidarität mit Klan, Fanülie oder Ethnie (?) hat sie der Guerilla Unterstützung zu leisten; es ist fast undenkbar, mit den Regierungskräften zusammenzuarbeiten und etwa Guérilleros an diese zu verraten. Kommt sie aber dieser sozialen Pflicht auf Koope- ration mit den eigenen Verwandten nach, setzt sie sich den massiven und teilweise völlig unverhältnismäßigen Repressalien der Regierungs- sicherheitskräfte aus. (Der Gerechtigkeit halber muß allerdings erwähnt werden, daß es in einzelnen Fällen - völlig unsystematisch - zu Bestra- fungen von Armeekommandeuren wegen Übergriffen gekommen ist Sanktionen, die allerdings in einigen Fällen mehr symbolisch waren und iasofem eine Beleidigung für die Opfer darstellten.) Das gilt insbesonde- re für Frauen und Kinder, die Spielball und Opfer in diesem auswegslo- sen Solidaritätskonflikt sind.
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26 Eine den Gutachtem während ihres Aufenthaltes in Kigali zugänglich gemachte Reiseempfehlung für entsandtes deutsches Personal, das den entsprechenden Vorgaben des Sicherheitsbeauftragten der Vereinten Nationen folgt enthält dementsprechend Reiserestriktionen unter- schiedlicher Schärfe. Frei zugänglich sind von den in einer Liste auf- geführten 154 Kommunen ledigHch 74 (48,1%), 51 (33,1%) sind der schwierigsten Sicherheitsstufe 3 („Nur in Notfällen [Lebensretter, Not- hilfe, etc.], höchste Vorsichtsmaßnahmen, massiver Schutz benötigt Ge- nehmigung durch UN-Security Officer in Kigali erforderlich") zu- geordnet die anderen Kommunen liegen dazwischen. Kenner der Sicherheitslage im intemationalen Bereich halten diese Kate- gorisierung, die auch für deutsches entsandtes Personal für verbindlich erklärt worden ist allerdings für übertrieben vorsichtig; immerhin sind nach deren Aussagen 50-60 Kommunen, d.h. ca. ein Drittel des ruan- dischen Territoriums mit mehr als einem Drittel der Bevölkerung (der Nordwesten ist dichter besiedelt als der Rest des Landes) für Ausländer aufgrund der Sicherheitslage nicht zugänglich. Im übrigen wird dringend von Überlandfahrten am späten Nachmittag und nachts auch in grundsätzlich „sicheren" Regionen abgeraten. Auch wenn die Empfehlungen und Vorschläge der Vereinten Nationen über- trieben sein sollten, stellen sie für die Arbeit der deutschen EZ eine schwere Hypothek dar. Von den Gutachtem besuchte Projekte (Wiedereingliederung der Flüchtiinge; Rehabilitation der Ecoles Techniques Officielles, Centres de Formation des Jeunes) sind unmittel- bar betroffen und können ihr vorgesehenes Programm nur teilweise verwirklichen. Die „Angreifer", wie ihre offizielle Bezeichnung lautet sind keine ho- mogene Armee mit einer klaren hierarchischen Fühnmgsstruktur, son- dern viele kleine Gruppen von alten Militärs und Milizen der früheren Einheitspartei. Sie haben den Weg in den Untergrund gewählt weil sie wegen der Beteiligung am Völkermord 1994 Strafverfolgung in Ruanda befürchten müssen. Mit derartig versprengten Gruppen sind Verhand- lungen oder Vereinbarungen nicht oder doch nur schwer möglich. Ge- spräche auf lokaler Ebene werden allerdings für möglich gehalten und sollen dem Vernehmen nach bereits stattgefunden haben. Auf der ande- ren Seite ist klar, daß Gefechte mit Tausenden von Angreifem auf der
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27 Rebellenseite eine, wenn auch nicht unbedingt einheitliche, Füh- rungsstruktur voraussetzen. Die Regienmg hat das Sicherheitsproblem des Landes lange Zeit herun- tergespielt und seine „Lösung" (im Sinne der Regierung) für die jeweils umnittelbar bevorstehende Zeit versprochen. Dieser Zeitraum wurde immer wieder ausgedehnt zur Zeit wird vom Jahresende 1998 gespro- chen. Diese Versprechungen sind mit größter Vorsicht zu betrachten: Zur Zeit befindet sich beispielsweise eine Mission von 20 bis 25 Russen im Lande, die über Waffenverkäufe, u.a. Kampfhubschrauber, an die ru- andische Regierung verhandeln oder schon verhandelt haben, was mit anderen Worten nichts anderes heißt als daß die Regierung sich inzwi- schen auf einen langen Konflikt einrichtet. Die Gutachter wurden im übrigen informiert daß es neuerdings harte Beweise (also nicht Gerüch- te!) dafür gibt daß die angolanische UNITA sich auf der Seite der Hutu- Guerilla am Untergrundkampf beteilige. Beunruhigend erscheint auch, daß die Untergrundkämpfer Haßpropaganda über Radiostationen nach der Art des berüchtigten Radio Television des Milles Collines ausstrah- len. Der oder die Sender werden im Ostkongo oder auch auf ruandi- schem Territorium vermutet; genaue Informationen darüber gibt es nicht. -Nach Auskunft von informierter Stelle hat sich die Sicherheitslage seit dem Jahreswechsel 1997/98 verschlechtert wenn auch nicht drama- tisch. Zur politischen Bewertung des Bürgerkrieges siehe Teil III dieses Gut- achtens. 2. Wirtschaftliche Hauptprobleme Einige der Probleme des heutigen Ruanda haben mit Bürgerkrieg und Völkermord seit 1990 zu tun (dazu gleich), doch sind die meisten Pro- bleme des neuen Ruanda die bekannten Probleme des alten Ruanda, an die daher kurz erinnert sei: a) Langzeitprobleme: Ruanda ist eines der ärmsten Länder der Welt ein vorwiegend agra- risch-subsistenzwirtschiifüich geprägtes least developed country (über 90% der Arbeitskräfte arbeiten, der sozio-ökoomischen Volkszäh- lung von 1996 zufolge, in der Landwirtschaft). Es hat knappe
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28 Landressourcen und keine nennenswerten Bodenschätze, der Ex- portproduktionssektor ist extrem schwach und hängt von nur zwei Exportgütem ab, die Auslandsschuld ist hoch, der Staatsapparat überdimensioniert und die Armee zu teuer. Einkommensunterschie- de zwischen Stadt und Land sind enorm; eine Geschäftsmittelklasse fehlt; das Bildungs- und Gesundheitssystem sind ungenügend; die Bevölkerung ist seit Jahrzehnten an Hilfe aus dem Ausland gewöhnt und von ihr abhängig und weist zu wenig Eigeninitiative und Selbstdisziplin auf. Die Bevölkerungsdichte ist angesichts der skiz- zierten Wirtschaftsstruktur extrem hoch, periodisch treten Hungers- nöte auf. Dieses Syndrom ist seit Jahrzehnten frotz eines bis in die erste Hälfte der achtziger Jahre beachtlichen realen Wachstums der Wirtshaft pro Kopf im Kern unverändert oft beschrieben worden und daher hier nicht weiter zu vertiefen. b) Zur aktuellen Situation: Bereits vor dem Völkermord von 1994 war das ruandische Sozicd- produkt pro Kopf, u.a. als Folge nichtbewältigter externer Schocks, dramatisch zurückgegangen. Es hat 1993, nach verschiedenen, leicht voneinander abweichenden Quellen, nur etwa drei Viertel des Wer- tes von 1986 betragen. Dieses ohnehin beklagenswerte Niveau ist als Resultat des Genozids 1994 nochmals etwa halbiert worden, und die Inflationsrate stieg in diesem Jahr auf nicht weniger als 62%. 1995 erholte sich das Bruttoinlandsprodukt um 35%, 1996 um weitere 12% und 1997 um geschätzte 15%, wobei die Inflationsrate auf 11% zu- rückgegangen ist Dennoch betmg das Bruttosozialprodukt pro Kopf 1996 nur 190 US-$ und das reale Sozialprodukt Ende. 1997 nur 80% des Niveaus vor dem Krieg, was auch annähemd 80% des Wertes pro Kopf ausmachen dürfte. Die Bevölkenmgszuwachsrate ist mit weit über 3% pro Jahr die höchste Afrikas, die s)mthetische Fruchtbarkeitsziffer mit 7,11 Kin- dern pro Frau (von denen allerdings nur 5,26 Kinder überleben) immer noch extrem hoch, die Verbreitung von Familienplanung lag nach der Enquete Socio-Démographique von 1996 bei wenig über 10% der sexuell aktiven Bevölkerung, wobei traditionelle Methoden bereits mitgezählt worden sind. Bei einer Gesamtbevölkerung, die auf etwa 8 Millionen Menschen geschätzt wird, bedeutet dies, daß
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29 jedes Jahr zwischen 250 und 300.000 Menschen mehr ernährt ge- kleidet und behaust werden müssen! In Zusammenarbeit mit der intemationalen Gemeinschaft insbeson- dere der Weltbank und dem Intemationalen Währungsfonds, hat die ruandische Regierung versucht zunächst Instrumente der Wirt- schaftssteuerimg wieder in Funktion zu bringen, voran die Staats- bank (unter anderem wurde die Währung konvertibel und es gelang mit Hilfe der intemationalen Gemeinschaft ein Devisenpolster auf- zubauen, das fünf Monaten Importen entspricht) und die Miitisterien für Finanzen und für Planung, was u.a. eine Verbesserung der Ein- nahmenverwaltimg und die Erarbeitung eines Budget- und Investi- tionsprogrammes als Arbeitsinstrumente bedeutet hat. Hinzu kam die Zusammenstellung wesentiicher ökonomischer Statistiken als Basis für eine rationale Wirtschaftspolitik. Die makro-ökonomischen Erfolge, die eben schon erwähnt wurden, blieben nicht aus, und auch die Haushaltssituation hat sich ein wenig verbessert bleibt aber mehr als angespannt so daß das staatiiche Investitionsbudget zu et- wa 95%, das Budget der laufenden Ausgaben zu, je nach Quelle, der Hälfte bis zwei Dritteln von ausländischer Hilfe abhängt wobei wiederum zwischen 38 und 50% (je nach Quelle) der laufenden Ausgaben für das großdimensionierte Militär verwendet werden. (Hinzugerechnet werden muß zu den Kosten des Militärs ein Fi- nanzierungsanteil unbekannter Höhe, der; ohne über das Budget zu Laufen, unmittelbar an das Militär geht. Genannt wird die Telekom- imikationsfirma RWANDATEL, deren Gewinne ebenso wie diejeni- gen einiger Teeplantagen direkt an das Militär fließen.) D.h. mit an- deren Worten, daß ausländische Assistenz direkt mindestens einen Teil der Militärausgaben trägt!. Insgesamt befindet sich die Wirt- schaft in einer Situation des Überganges von hektischen Notmaß- nahmen zu einer Normalisierung - oder sie tat es doch bis zum Aus- bruch des Bürgerkrieges 1997. Dieser Bürgerkrieg und eine lange Dürreperiode, die von einem massiv einsetzenden Regen abgelöst wurde, haben die Erholung ins- besondere im landwirtschaftlichen Sektor mindestens unterbrochen. Die Emährungslage hat sich zugespitzt; insbesondere aus dem Sü- den des Landes, in den Präfekturen Gikongoro und Butare, häufen
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30 sich die Meldungen, daß dort Menschen, insbesondere Kinder, ver- hungern. In Gisenyi imd im Norden Ruhengeris werden viele Felder aus Angst nicht mehr bebaut; die ganze Region am Fuße der Vulka- ne, die besonders fruchtbar ist kann die Selbstversorgung nicht mehr sichern und fällt praktisch als Kartoffel- und Gemüseüeferant aus. Ruanda hängt derzeit bezüglich der Versorgimgslage noch stär- ker am Tropf der intemationalen Gemeinschaft und der Hilfsorgani- sationen als sonst; wo diese massiven Hilfslieferungen, etwa wegen der Sicherheitslage, ausbleiben, sind vor allem Kinder vom Hunger- tod bedroht Viele Gnmdnahrungsmittel sind massiv im Preis ge- stiegen und für den Großteil der Bevölkerung unerschwinghch ge- worden. Es wird geschätzt daß über 50% der ländlichen Haushalte nicht ge- nügend Lebensmittel für den Eigenbedarf erzeugen und daher auf den Märkten zukaufen müssen; im übrigen ist die Nahrungsmittel- produktion Ruandas pro Kopf seit den 1980er Jahren ständig zurück- gegangen, 20 bis 25% aller Haushalte dürften unter einem chro- nischen Nahrungsmittelmangel leiden. Ein interregionaler Handel ist wegen des Fehlens und des Verlustes von Lagermöghchkeiten und der schlechten internen Transportverhältnisse erschwert. 3. Soziale Hauptprobleme nach dem Völkermord. a) Armut des Landes und seiner Bevölkerung; Zusammenfassend und allgemein kann zunächst daran erinnert werden, daß Ruanda nach den Entwicklungsindikatoren der Verein- ten Nationen im Jahre 1997 weltweit an zweitietzter Stelle stand. Selbst ein gerüttelt Maß an Vorsicht oder Mißtrauen gegenüber sol- chen Indikatoren täuscht nicht über die Tatsache hinweg, daß Ruan- da in der Tat eines der ärmsten und am wenigsten entwickelten Länder dieser Erde ist. Armut ist verbreitet - kaum eine überraschende Feststellung. Vor 1994 wurde eine Studie zur Verbreitung von Armut in Ruanda durchgeführt, die - was nach den mitgeteilten makro-ökonomischen Daten nicht verwundem kann - ermittelte, daß 53% der Bevölkerung 1993 (gegenüber 40% 1985) unterhalb der Armutshnie von 170 US-$ (in Preisen von 1985 zu Kaufkraftparitäten) lebte. Der weitere wirt-
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