2020 11 04 - BerlHG - Gutachten Battis

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Gutachten zur Zulässigkeit einer Rüge für Franziska Giffey

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eine Rüge als milderes Mittel zum Entzug des Doktortitels zu wählen, einen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzenden Ermessensfehler begeht. Es stellt fest, dass für die Behörde, angesichts des Schwere und vorsätzlichen Begehung der Täuschungshandlungen im konkreten Fall kein Anlass bestand „etwaige mildere Mittel, z.B. in Gestalt einer Rüge, zu erwägen“.26 Es fügt hinzu: „Abgesehen davon enthält weder die Promotionsordnung eine Ermächtigungsgrundlage hierzu, noch ist eine solche sonst ersichtlich. 27“ Zur richtigen Einordnung der Aussage des VG Düsseldorf ist entscheidend festzustellen, dass es in dem zitierten Satz eine Rechtsauffassung ausdrückt, welche für die zu entscheidende Sache unerheblich ist. Es handelt sich also bei der zitierten Feststellung bezüglich der Möglichkeit, eine Rüge auszusprechen, um ein Obiter Dictum des VG. Der Umstand, dass dieser rechtlich unerheblichen Feststellung eines VG in der Beantwortung der Rechtsfrage, ob eine Rüge rechtmäßig ergehen kann, häufig große Bedeutung beigemessen wird, zeugt davon, dass es sich bei dieser Rechtsfrage um eine ungeklärte handelt. In der Tat ist die Aussagekraft eines Obiter Dictums eines Verwaltungsgerichts begrenzt, wenn nicht gänzlich unerheblich. Angesichts des Kontexts, der Bedeutungslosigkeit und der Beiläufigkeit, mit welchem das VG Düsseldorf auf die Möglichkeit einer Rüge eingeht, erscheint es bereits verfehlt, aus dem zitierten Urteil den Schluss zu ziehen, dass nach dessen Auffassung, geschweige denn allgemein, eine Rüge unter keinen Umständen zulässig sei. Mit Blick auf das Urteil des VG Düsseldorf ist vielmehr bemerkenswert, dass das Gericht, obwohl es von dem Vorliegen einer erheblichen Täuschung ausgeht und damit der Tatbestand der hier relevanten § 20 Satz 1 der Promotionsordnung (PromO) der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in der Fassung vom 4. Juli 2020 i.V.m § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NW als zweifellos erfüllt betrachtet wird, in 36 Randnummer (162-197) eine umfassende Prüfung vornimmt, ob das bestehende Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde und mit den Grundrechten der Betroffenen vereinbar ist. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausübung des Ermessens wird von dem VG Düsseldorf völlig zurecht in dieser Ausführlichkeit durchgeführt, da die Ungültigkeitserklärung der Promotion (§ 20 Satz 1 PromO) sowie die Rücknahme nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NW einen schweren Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen darstellt. Was die Durchführung - und Notwendigkeit - dieser ausführlichen Ermessensüberprüfung zeigt, ist, dass selbst in solchen Fällen, in denen der Tatbestand der Normen, welche zu dem Entzug des Doktortitels ermächtigen, zweifelsohne erfüllt 26 Ebenda. 27 Ebenda. 11
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ist, die Rechtsfolge des Entzugs des Doktortitels einen so schweren Nachteil darstellen kann, dass sie gegebenenfalls nicht angeordnet werden darf. Im Ergebnis kann die Schwere der zu verhängenden Sanktion also dazu führen, dass diese trotz Erfüllung des Tatbestandes nicht verhängt werden darf - und tatbestandlich festgestelltes Fehlverhalten gänzlich ungeahndet bleibt. Wird davon ausgegangen, dass der Entzug des Doktortitels die einzige mögliche Sanktion im Rahmen von Verfahren zur nachträglichen Überprüfung wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist, so kann dies dazu führen, dass keinerlei Sanktion ergeht, obwohl zweifellos der Tatbestand der Tatbestand der Vorschriften, welche den Entzug des Doktortitels regeln, erfüllt ist. Das Urteil des VG Düsseldorf wird häufig mit einem Satz zitiert, welcher 16 Wörter umfasst und für die Entscheidung in der von ihm zu verhandelnden Sache unerheblich ist. Aus dieser apodiktischen Äußerung eine maßgebliche Entscheidung in der Frage, ob eine Rüge zulässig ist oder nicht, abzuleiten, liegt fern und steht im Widerspruch zu der von       dem      VG     im     Übrigen   vorgenommenen     Verhältnismäßigkeitsprüfung. Aussagekräftiger als der beiläufig formulierte und für die Entscheidung unerhebliche Satz ist die auf etwa sechs Seiten durchgeführte Überprüfung der Ausübung des Ermessens, welche der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dient. Aus der ausführlichen Überprüfung des Ermessens lässt sich das Folgende schließen: Der Auffassung, dass die Möglichkeit einer milderen Sanktion, nämlich der Rüge, vor der Verhängung der ausdrücklich vorgesehenen und strengeren Sanktion, dem Entzug der Doktorwürde, schütze und damit Fälle, in denen wissenschaftliches Fehlverhalten festgestellt wurde, nicht angemessen geahndet würden, wenn die Möglichkeit der Rüge bestünde, ist die Feststellung entgegenzusetzen, dass die Unzulässigkeit des milderen Mittels, der Rüge, zu dem gänzlichen Ausbleiben einer Sanktion führen kann. Zahlreiche, im Ergebnis sanktionslos gebliebene Verfahren belegen dies. Wird die Rüge als milderes Mittel für zulässig erachtet, so führt dies nicht zur Schwächung der Ahndung wissenschaftlichen         Fehlverhaltens,   sondern zu   einer   Ausdifferenzierung  der Rechtsfolgen, welche im Ergebnis Sanktionen nicht vereitelt, sondern ermöglicht - und zwar Sanktionen, die mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar, angemessen und sachgerecht sind. Auch das OVG Münster warf die Frage auf, ob die Erteilung einer Rüge als mildere Maßnahme zu einem Entzug des Doktortitels von einer Behörde erwogen werden müsse. 28 Wie in der vor dem VG Düsseldorf verhandelten Sache stellt auch hier das Gericht fest, dass angesichts der Schwere des Fehlverhaltens der Entzug des Doktortitels als verhältnismäßige Maßnahme rechtmäßig war und eine mildere Maßnahme nicht ergriffen werden musste. Im Gegensatz zu dem VG Düsseldorf trifft das OVG Münster 28 OVG Münster, 4. Januar 2018, 14 A 610/17, Rn. 69ff.. 12
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jedoch keine Aussagen darüber, ob eine Rüge ggf. rechtmäßig ergehen könnte, sondern lässt die Frage folgerichtig ausdrücklich offen.29 Zutreffend stellt es fest: „Ob ein nicht vorgesehenes Sanktionsmittel bei nur geringfügigeren Täuschungshandlungen statt der in einer Prüfungsordnung allein vorgesehenen Sanktion ergriffen werden kann, kann dahinstehen. Bei dem hier in Rede stehenden umfangreichen Plagiat, das die Befähigung der Klägerin zur selbständigen wissenschaftlichen Arbeit in Frage stellt, ist die Entziehung indiziert.“30 Von den zitierten Gerichtsentscheidungen ist jene des Berliner VGs also die einzige, in der entschieden wurde, dass eine Rüge auf eine Vorschrift wie jene der § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG nicht gestützt werden dürfe. Weitere Belege für diese Rechtsauffassung lassen sich in den übrigen Urteilen nicht finden.31 2. Die Rüge in der Literatur Aus der in dem Gutachten des Abgeordnetenhauses zitierten Literatur lässt sich ebenfalls keine einheitliche Beantwortung der Frage entnehmen, ob eine Rüge auf eine Vorschrift wie jene der § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG gestützt werden kann. Nach der Auffassung von Gärditz etwa erlaubt eine Vorschrift wie jene der § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG nur eine Entscheidung zwischen der Verhängung der ausdrücklich genannten Aktion oder der Untätigkeit der Behörde.32 Die Feststellung, dass die Behörde nach dem „Alles-oder-nichts-Mechanismus“ zu handeln habe, wird allerdings zugleich gefolgt von der Feststellung, dass diese Lösung unbefriedigend sei. Treffend formuliert Gärditz: "Hochschulrechtspolitisch sinnvoll wäre eine Auffächerung der Rechtsfolgen, die wegen Täuschung im Promotions- oder Habilitationsverfahren verhängt werden können. (…) Der Alles-oder-nichts-Mechanismus zwingt die Fakultäten zu einem eher holzschnittartigen Vorgehen, zwischen zwei Extrempolen zu wählen, und hält keine Rechtsfolgen für minderschwere Fälle bereit, die nicht als Bagatellen qualifiziert werden können und damit durchaus eine Reaktion erfordern. In diesen Fällen wäre es sachgerecht, wenn eine Reaktion mittlerer Schwere zugelassen würde, namentlich eine Rüge oder die prinzipale Feststellung einer Täuschung, mit der nicht der Entzug des Grades oder der Lehrbefähigung verbunden ist.“            33 29 OVG Münster, 4. Januar 2018, 14 A 610/17, Rn. 69ff. 30 OVG Münster, 4. Januar 2018, 14 A 610/17, Rn. 69ff. 31 Für eine Zusammenstellung zahlreicher Urteile welche über die Rechtmäßigkeit des Entzuges von Doktortiteln entschieden siehe: Schwarz u. Mangold, Verfahrensfragen bei der Aberkennung akademischer Grade, DVBL 14 (2013), 883, Fn.1. 32 Gärditz, Fn. 20 (34). 33 Ebenda. 13
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Der Alles-oder-nichts-Mechanismus ist unproblematisch, sofern nur eine Bagatelle vorliegt oder aber eine vorsätzliche Täuschung vorliegt. 34 In Grenzfällen hingegen, insbesondere in Fällen in denen fahrlässiges wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt, kann der Alles-oder-nichts-Mechanismus zu unbefriedigenden Ergebnissen                       führen.   35 Nach dieser Auffassung sollten die relevanten Vorschriften geändert und die Möglichkeit der Differenzierung geschaffen werden. Die Möglichkeit der Rüge wird in dieser Ansicht im Übrigen nicht schlechterdings ausgeschlossen, sondern sie wird alleine auf Grund der derzeit unbefriedigenden Gesetzeslage als nicht zulässig betrachtet. An der verfassungsrechtlichen Möglichkeit und der Sinnhaftigkeit der Einführung einer Rügemöglichkeit wird unterdessen kein Zweifel gelassen. Haase argumentiert hingegen, dass Prüfungsbehörden Sanktionen verhängen könnten, die nicht ausdrücklich vorgesehen seien, solange diese weniger belastend wirkten, als die geregelte Sanktion. 36 Für die Entziehung des Doktorgrades gelten insofern die allgemeinen prüfungsrechtlichen Anforderungen.37 „Andererseits bleibt es der Prüfungsbehörde bei einem leichten Verstoß unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots unbenommen, eine Sanktion zu verhängen, die zwar nicht in der Prüfungsordnung vorgesehen ist, den Prüfling aber weniger belastest als die ausdrücklich geregelte.“             38 Diese Auffassung wird gestützt von der Ansicht, dass in Prüfungs- und Sanktionsverfahren         dem       Verhältnismäßigkeitsgrundsatz               eine    hervorragende Bedeutung zukommt.           39 Ein differenziertes Vorgehen und eine „Abstufung der Sanktionen"40 ist in diesem Bereich ein verfassungsrechtliches Gebot. „Nennt die Prüfungsordnung etwa nur das Nichtbestehen der Prüfung als eine Sanktion im Falle eines Täuschungsversuchs, schließt das nicht aus, unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu weiteren Differenzierungen zu gelangen, die hinter diesem schwereren Eingriff zurückbleiben.“    41 34 Ein vorsätzliche Täuschung kann auch bei kollusivem Zusammenwirken von Doktorand/in und Gutachter/in bestehen, da Addressat der Täuschung nicht nur der/die Gutachter/in ist, sondern die einschlägige wissenschaftliche Gemeinschaft, siehe: Gärditz, Fn. 20 (23f.). 35 Zur Beurteilung von (grob) fahrlässigem Fehlverhalten siehe: Gärditz, Fn. 20 (20f.). 36 Haase, Fn. 7, Rn. 342. Die allgemeinen Regelungen werden verdrängt, wenn speziellere Regelungen vorliegen. 37 Ebenda, Rn. 358. 38 Ebenda, Rn. 342. 39 Niehues/Fischer/Jeremias, Fn. 12, Rn. 240. 40 Ebenda. 41 Ebenda. 14
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Im Zusammenhang dieser allgemeinen prüfungsrechtlichen Überlegungen ist im Übrigen die besondere Schwere der Folgen eines Entzugs eines Doktortitels zu berücksichtigen. Löwer schreibt treffend: „Die Titelentziehung ist im Ergebnis gegenüber dem sozialen Umfeld ein öffentlicher Akt, der ausweist, dass jemand den moralischen Anforderungen, den er hätte genügen müssen, in einem erheblichen Maße nicht genügt hat. Wenn der Titel berufliche Einstiegsvoraussetzung gewesen ist, geht mit der Titelentziehung faktisch zwingend der Verlust der aktiven beruflichen Stellung einher.“42 Wie bei jedem staatlichen und verwaltungsrechtlichen Handeln, das in Grundrechte eingreift, ist auch bei dem Entzug des Doktortitels die Schwere des Eingriffs in die Verhältnismäßigkeitsprüfung und damit die Ausübung des Ermessens einzubeziehen.43 Der Entzug des Doktortitels stellt ohne Zweifel einen sehr schweren Grundrechtseingriff dar. Zugleich steht außer Frage, dass es auch Grenzfälle gibt, in denen der Tatbestand der Norm, welche zum Entzug des Doktortitels ermächtigt, möglicherweise und gerade so, jedoch nicht mit zweifelloser Klarheit erfüllt           ist. 44 Gärditz sieht solche Grenzfälle, in denen seiner Ansicht nach eine besonders gründliche Abwägung notwendig ist, etwa in fahrlässigem wissenschaftlichen         Fehlverhalten.     45 Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass sich die Literatur in Beantwortung der Frage, ob eine Vorschrift wie jene der § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG zur Rüge ermächtigt, nicht einig ist. Die einzige Aussage, welche allen Stimmen der Literatur zu entnehmen ist, ist jene, dass weitere Differenzierungsmöglichkeiten zwischen dem Entzug eines Doktortitels einerseits oder vollständiger Untätigkeit andererseits sinnvoll wären. Sie ermöglichten, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen. Der „Alles- oder-nichts-Mechanismus“, wie er sich aus einer Beschränkung auf die ausdrücklich genannten Rechtsfolgen ergäbe, wird allgemein als unbefriedigend betrachtet. Um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genüge zu tun, so die weithin einhellige Auffassung, hat die handelnde Universität über mehr Handlungsmöglichkeiten zu verfügen, als die Wahl der             schwersten                oder                gar             keiner             Sanktion. 42 Löwer, Aus der Welt der Plagiate, RW 3 (2012), 116 (125). 43 Zu dem Verhältnis von Hochschulgesetzen und Verwaltungsverfahrensgesetzen siehe Pokorny, Die Bedeutung der Verwaltungsverfahrensgesetze für die wissenschaftlichen Hochschulen, 2002. 44 Hierzu siehe Rieble, Das Wissenschaftsplagiat, 2010, 31ff.; zur Wichtigkeit klarer Verfahren und Maßstäbe zur Beurteilung von wissenschaftlichem Fehlverhalten siehe: Rixen, In der Guttenberg-Falle, Süddeutsche Zeitung, 29. Januar 2013, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/bildung/umgang-mit-wissenschaftlichen-verfehlungen-in-der-guttenberg-falle-1.1585524 (zuletzt besucht am 3. November 2020). 45 Gärditz, Fn. 20 (19ff.). 15
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3. Die Rüge in der Praxis An der Charité wurde eine Rüge über ein Dutzend Mal ausgesprochen. 46 An der Universität Dortmund wurde ebenfalls bereits gerügt.47 Neben einer allgemein strengen Ahndung wissenschaftlichen Fehlverhaltens werden an der Universität Münster Rügen in Einzelfällen ausgesprochen, wenn dafür ausnahmsweise überwiegende Gründe sprechen.48 Die FU Berlin ist also keineswegs die einzige Universität, die zu dem Mittel der Rüge greift. Mit Blick auf die Praxis lässt sich feststellen, dass Universitäten die Rüge als ein sinnvolles Mittel zur Sanktion von wissenschaftlichem Fehlverhalten nutzen, welches die Verhängung der schwersten Sanktion, des Entzugs, nicht rechtfertigt. Dies sind insbesondere fahrlässig begangene Verfehlungen, die nicht nur Bagatelle sind. Freilich lässt sich aus der Praxis nicht auf den Inhalt der hier relevanten Normen schließen. Nichtsdestotrotz ist zu berücksichtigen, dass Universitäten, genau wie die weit verbreitete Meinung in der Literatur, die Rüge als sinnvolles Mittel betrachten, um Fehlverhalten zu sanktionieren und zugleich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Die Universitäten trifft die Pflicht, das einfache Recht unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Anforderungen auszulegen - und die genannten Universitäten kommen zu dem Ergebnis, dass die Differenzierung auf dem Bereich der Rechtsfolge ihnen ermöglicht, ihre verfassungsrechtliche Pflichten, sich ergebend aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, einzuhalten. Übergreifend lässt sich zusammenfassen, dass sich weder aus der Rechtsprechung noch der Literatur ein einheitliches Bild ergibt, nach welchem die Rüge ohne Zweifel als eine rechtswidrige Maßnahme zu qualifizieren ist. Vielmehr ergibt sich aus Rechtsprechung und Literatur, dass eine Differenzierung auf Seiten der Rechtsfolgen, wie sie von Universitäten bereits vielfach durchgeführt wird, sinnvoll, wünschenswert und verfassungsrechtlich geboten ist. Zudem besteht kein Zweifel daran, dass eine solche Differenzierung verfassungsrechtlich möglich ist, sofern der Gesetzgeber sie vorschreibt. VI. Die Rüge als verfassungsrechtlich zulässige und gebotene Maßnahme Die entscheidende Frage, welche schließlich zu klären bleibt, ist, ob die Verhängung einer Rüge auch dann möglich ist, wenn sie von dem Gesetz nicht ausdrücklich angeordnet wurde. Eine Rüge wäre dann keine zulässige Sanktionsmöglichkeit, wenn 46 Fn. 1, S. 3, mit weiteren Nachweisen. 47 Horstkotte, Fn. 21. 48 Den Autoren liegt hierzu Auskunft des ehem. Vorsitzenden des Senats der Universität Münster vor. 16
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ihre Verhängung gegen verfassungsrechtliche Anforderungen verstieße, sofern sie nicht ausdrücklich       vorgesehen        ist.   Es    wurde         bereits      dargestellt,       dass   ein verfassungsrechtlicher Grundsatz, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Eingriffshandelns, für und nicht gegen die Zulässigkeit der Verhängung einer Rüge spricht. Ebenso entspräche die Möglichkeit der Rüge dem rechtspolitisch sowie verfassungsrechtlich gebotenen Ziel, Universitäten die Möglichkeit zu geben auf Rechtsfolgenebene zu differenzieren und Fehlverhalten angemessen zu sanktionieren. Zwei weitere verfassungsrechtliche Grundsätze könnten jedoch gegen die Möglichkeit einer Rüge sprechen, wenn diese nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Dies ist zum einen das Rechtsstaatlichkeitsprinzip und zum anderen das Demokratieprinzip. Aus beiden Prinzipien ergibt sich der Grundsatz, dass wesentliche Entscheidungen von dem Gesetzgeber zu treffen sind. 49 Sowohl aus dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip sowie aus dem Demokratieprinzip ergeben sich Anforderungen an die Bestimmtheit von Ermächtigungsgrundlagen, welche zu dem Eingriff in Grundrechte berechtigen. § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG stellt zweifelsohne eine Norm dar, die zu dem Eingriff in Grundrechte berechtigt, und hat daher diesen Anforderungen der Bestimmtheit zu genügen. Im Folgenden werden knapp die Anforderungen dargestellt, welche sich aus dem Rechtsstaatlichkeits- und Demokratieprinzip an die Bestimmtheit von § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG ergeben und welche Folgen sich daraus für die Anwendung der Norm ergeben (1.). Anschließend werden § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG, und die Maßnahmen der Rüge und des Entzugs, mit Hinblick auf die relevanten Bestimmtheitsanforderungen untersucht (2.). Für die Beurteilung, ob diesen Anforderungen, und damit dem Rechtsstaatlichkeits- und Demokratieprinzips, genüge getan wird, ist von entscheidender Bedeutung, ob die Rüge ein Minus oder ein aliud im Vergleich zu dem Entzug ist. Schließlich wird beurteilt, ob angesichts der vorgenommenen Qualifikation der Rüge als Minus oder aliud, die Möglichkeit eine Rüge auszusprechen, obwohl dies in den § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG nicht ausdrücklich vorgesehen ist, mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit sowie dem Grundsatz des Parlamentsvorbehaltes zu vereinbaren ist (3). Schließlich wird abschließend festgestellt, ob § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG Universitäten zu dem Ausspruch einer Rüge ermächtigt und so ermöglicht, Handlungsweisen zu wählen, welche dem Verhältnismäßigkeits- und Differenzierungsgebot gerecht werden (4.). 49 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar Band II, 3. Auflage 2015, Art. 20, Rn. 105ff.; zur dualen Struktur des Gesetzesvorbehalts siehe: Lepsius, Grundrechtschutz in der Corona Pandemie, in: Recht und Politik 3/2020, 258 (259ff.). 17
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1. Anforderungen an die Bestimmtheit von Eingriffsgrundlagen Aus dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip sowie dem Demokratieprinzip ergibt sich der der Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt - der Grundsatz, dass grundlegende Entscheidungen, die das Gemeinwesen betreffen, durch den Gesetzgeber getroffen werden müssen. 50 Der Grundsatz, nach dem grundlegende Entscheidungen von dem Gesetzgeber zu treffen sind, liefe weitgehend leer, wenn nicht auch bestimmte Anforderungen an die Dichte der Regelung gestellt würden, die der Gesetzgeber in einer bestimmten Angelegenheit erlässt. 51 Zur Bestimmung der notwendigen Dichte und Präzision wurde von dem BVerfG die „Wesentlichkeitstheorie“                     entwickelt. 52 Nach      der    „Wesentlichkeitstheorie“            hat     der      Gesetzgeber   alle    für    die Grundrechtsverwirklichung wesentlichen Fragen selber zu regeln.                                53  An die Regelungsdichte der Entscheidungen des Gesetzgebers sind hohe Anforderungen zu stellen,     wenn     die Entscheidung            Grundrechte nachhaltig            betrifft,   gewichtige Auswirkungen für die Allgemeinheit hat und umstritten ist. Besonders umstrittene Fragen müssen insofern in dem parlamentarischen Prozess entschieden werden. Über Notwendigkeit, Ausmaß und Verfahren einer Grundrechtsbeschränkung ist von dem Gesetzgeber in öffentlicher Debatte zu entscheiden.54 Des Weiteren ist zu beachten, dass sich aus dem Rechtsstaatsprinzip das Gebot der Rechtssicherheit ergibt.        55 Auch Rechtssicherheit setzt voraus, dass Rechtsnormen inhaltlich hinreichend bestimmt sind.                   56 Die rechtsstaatliche Anforderung der Bestimmtheit ist auf die inhaltliche Präzision einer Rechtsnorm gerichtet. Ihr Zweck ist, dass die Adressaten sich nach den Anforderungen richten können, welche diese Norm aufstellt, dass diese wissen, mit welchen Rechtsfolgen und Sanktionen sie ggf. zu rechnen haben und dass diese abschätzen können, welches Ausmaß ggf. erfolgende Freiheitseingriffe voraussichtlich annehmen werden. 57 Gesetze müssen eindeutig und berechenbar sein.58 Anforderungen, welche sich aus dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip sowie dem Demokratieprinzip für Eingriffsgrundlage ergeben sind nicht nur von dem Gesetzgeber 50 Dreier, Fn. 49, Rn.105ff.; Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Auflage 2020, § 6 Rn. 6. Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt siehe: Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Auflage 2020, § 6 Rn 9. 51 Maurer/Waldhoff, Fn. 50, Rn. 12. 52 Ebenda; Dreier, Fn. 49, Rn.113ff.; Hufen, Staatsrecht II, 8. Auflage 2020, § 9 Rn. 3ff.. 53 Maurer/Waldhoff, Fn. 50, Rn 14. 54 Dreier, Fn. 50, 116. 55 Sachs in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 20 Rn. 122ff.. 56 Sachs, Fn. 50, Rn. 126ff. 57 Sachs, Fn. 50, Rn. 122 u. 126. 58 Maurer/Waldhoff, Fn. 50, Rn 6. 18
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zu beachten, sondern auch von der Behörde, welche auf Grundlage einer Eingriffsgrundlage handelt. Der Schutz der Grundrechte und die Achtung der Verfassung ist von den unterschiedlichen Gewalten auf ihrer jeweiligen Ebene sicherzustellen. „Sodann fördert die Trennung von gesetzlicher und vollziehender Gewalt den Grundrechtsschutz weil dadurch institutionell zwischen der Ebene generell- abstrakten Normerzeugung (Gesetz) und Sender der individuell-konkreten Rechtserzeugung (Verwaltungsakt, Urteil) getrennt werden muss. Dieselbe Norm (das Gesetz) wird dadurch in zwei unterschiedlichen Regelungssituationen legitimiert, zum einen auf der abstrakten Konfliktebene (Rechtsgüterausgleich für eine Vielzahl für Fälle) und zum anderen auf der konkreten Vollzugsebene (Tatsachensubsumption im Einzelfall). In dieser Trennung liegt ein spezifischer freiheitsrechtlicher Mehrwert, der als Normkonkretisierung ausgedrückt wird.“59 Damit dieser freiheitsrechtliche Mehrwert erlangt werden kann, sind auf jeder Ebene verfassungsrechtliche Grundsätze, etwa solche die sich aus Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip ergeben, zu beachten und zu bestmöglicher Wirkung zu bringen. Die Rechtsanwendung hat insofern auf eine Art zu erfolgen, die den Anforderungen der Bestimmtheit Rechnung trägt 2. Minusmaßnahme oder Aliud Dem Grundsatz der Bestimmtheit wäre dann nicht Rechnung getragen, wenn die Rüge im Vergleich zum Entzug eine andersartige Maßnahme wäre. Insofern stellt sich die Frage, ob die Rüge als eine andersartige Maßnahme, ein aliud, oder eine Minusmaßnahme, eine wesensmäßig gleiche, jedoch weniger intensive Maßnahme einzuordnen ist. Die Gleichheit oder Andersartigkeit zweier Maßnahmen kann nach Art der Maßnahme, nach - und dies im grundrechtlichen Kontext besonders wichtig - ihrer Wirkung und nach dem verfolgten Ziel beurteilt werden. Art der Maßnahme Richtig wird an verschiedener Stelle festgestellt, dass der Entzug des Doktortitels nach § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG ein gestaltender Verwaltungsakt ist, eine ggf. auf § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG ergehende Rüge hingegen ein feststellender Verwaltungsakt        sei.60 Diese zutreffende Feststellung führt jedoch häufig zu dem unzutreffenden Schluss, dass ein gestaltender Verwaltungsakt und ein feststellender Verwaltungsakt wesensmäßig und 59 Lepsius, Fn. 49 (261). 60 Gärditz, Fn. 2, S. 6, m.w.N.. 19
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grundsätzlich unterschiedlich seien, insbesondere dass mit einem gestaltenden Verwaltungsakt nicht auch eine belastende Feststellung einhergehen könnte.61 Um das Verhältnis von feststellendem und gestaltendem Verwaltungsakt genauer zu bestimmen, ist zunächst die Rechtsnatur des feststellenden Verwaltungsakts von Bedeutung.        Ein     feststellender     Verwaltungsakt    stellt  das    Ergebnis     eines Subsumptionsvorgangs und ggf. einer Ermessensentscheidung fest. „Für einen feststellenden Verwaltungsakt ist kennzeichnend, dass er sich mit seinem verfügenden Teil darauf beschränkt, das Ergebnis eines behördlichen Subsumtionsvorgangs verbindlich festzuschreiben (BVerwG, NVwZ 2004, 349 [350] = BeckRS 2003, 25568; vgl. z.B. auch U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. [2008], § 35 Rdnr. 219).“   62 Regelungscharakter hat eine Feststellung, wenn sie darauf gerichtet ist Unsicherheiten zu beseitigen. Nach der Rechtsprechung des BVerwG liegt Regelungscharakter nicht nur dann vor, „(…) wenn Rechte des Betr. begründet, geändert oder aufgehoben werden, sondern – als Besonderheit des feststellenden Verwaltungsakts – auch dann, wenn sie mit bindender Wirkung festgestellt oder verneint werden (BVerwGE 77, 268 [271] = NJW 1988, 87 = NVwZ 1988, 144 L m.w. Nachw.). Ist eine Erklärung der Verwaltung darauf gerichtet, die im Verhältnis von Staat und Bürger (oder dem Staat gegenüberstehenden sonstigen Rechtssubjekten) bestehenden Unsicherheiten zu beseitigen, indem sie die generelle und abstrakte Regelung des Gesetzes verbindlich konkretisiert und/oder individualisiert, so legt die Verwaltung fest, was im Einzelfall rechtens sein soll, und trifft damit eine Regelung mit Außenwirkung i.S. des § 35 S. 1 VwVfG (vgl. BVerwGE 58, 37 [38f.] = NJW 1979, 2116).“        63 Wird auf Grundlage der § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG eine Rüge ausgesprochen, so wird festgestellt, dass der Tatbestand des § 34 Abs. 7 BerlHG erfüllt ist und dass das Ermessen dahingehend ausgeübt wird, dass ein Entzug des Doktortitels nicht stattfindet. Damit werden Unsicherheiten auf mehreren Ebenen ausgeräumt. In gleicher Weise räumt auch ein gestaltender Verwaltungsakt - im Falle der § 34 Abs. 7 und 8 BerlHG der Entzug - Unsicherheiten aus. Auch hier wird die Erfüllung des Tatbestandes festgestellt und das Ermessen auf eine bestimmte Art ausgeübt. Die Feststellung der Erfüllung des Tatbestandes zieht in dem Fall des Entzugs eine gestaltende Maßnahme nach sich, welche im Fall der Rüge ausbleibt. Die gestaltende 61 Ebenda. 62 BVerwG, Urteil vom 5. 11. 2009 - 4 C 3/09 (OVG Koblenz) , Rn. 15. 63 BVerwG, Urteil vom 5. 11. 2009 - 4 C 3/09 (OVG Koblenz) , Rn. 15. 20
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