Das Urteil gegen Globke

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Lfd.Nr.1068 Zu diesem Kreis gehörte der Angeklagte. Der erste bei den Akten befindliche undatierte Entwurf des Gesetzes über den Staatsrat enthält einen von ihm handschriftlich hinzugefügten §2, in dem es heisst: "Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ist der Staatsrat in seiner jetzigen Zusammensetzung aufgelöst." In welchem Geiste an diesem Gesetz gearbeitet wurde, zeigt ein von Ministerialrat Dr. Schütze für den Staatssekretär angefertigter Vermerk vom 10.Juni 1933, in dem es heisst: "Ich glaube vielmehr, dass die Zukunft insoweit eine Rückentwicklung bringen wird, als mindestens wesentliche Teile der Gesetzgebung wieder dem Landtage zugeführt werden, sobald die Landtage selbst eine den neuen Verhältnissen entsprechende Umgestaltung erfahren haben werden. Es wird alsdann darauf ankommen, eine klare Scheidungslinie zwischen den gesetzgeberischen Zuständigkeiten des neuen Landtages und denen der Regierung zu finden. Für diese zukünftige Regelung will es mir angebracht erscheinen, neben den Landtag, der nicht unter allen Umständen mit Sicherheit mit der Regierung konform zu gehen braucht, eine zweite Kammer zu setzen, die personell völlig von der Regierung abhängig ist. Es bietet sich dann die Möglichkeit, jedes der Regierung nicht zusagende Gesetz in der zweiten Kammer zu Fall zu bringen." Am 29.Juni 1933 drängte Göring auf beschleunigte Vorlage des Gesetzes. Bereits am 4.Juli 1933 legte der Angeklagte als zuständiger Referent einen abschliessenden Entwurf vor. Danach gehörten dem Staatsrat Regierungsmitglieder, Gauleiter der NSDAP, höhere SA- und SS-Führer sowie Vertreter des öffentlichen Lebens und "sonstige um Staat und Volk verdiente Männer" an. Mit Ausnahme der Minister wurden die Mitglieder des Staatsrates vom Ministerpräsidenten ernannt, der auch den Staatsrat leitete. Der Staatsrat hatte nur beratende Funktion. Der bisherige Staatsrat wurde aufgelöst. Am 8.Juli 1933 erklärte Göring vor den Vertretern der Presse über den Staatsrat: "Selbstverständlich ist es, dass dieser Staatsrat nur ein beratendes Organ ist. Abgestimmt wird nicht, das wäre eine Sünde wider den nationalsozialistischen Geist und ein Rückfall in parlamentarisch-demokratische Gebräuche. Auch hier herrscht durchaus das Führerprinzip. Und doch kommt dem Staatsrat eine ungeheure Aufgabe zu, und er trägt eine gewaltige Verantwortung ... Das ist der erste grosse schöpferische Akt der preussischen Staatsregierung für das künftige Verfassungsleben Preussens." Das Gesetz wurde als Regierungsgesetz beschlossen und am 10.Juli 1933 im Gesetzblatt verkündet. Auch an weiteren gesetzgeberischen Massnahmen auf diesem Gebiet nahm der Angeklagte teil. So arbeitete er mit an Bestimmungen über Reisekosten und Aufwandsentschädigungen der Staatsräte und am Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Staatsrat und des Gesetzes über den Provinzialrat vom 31.Juli 1933. Er veranlasste die Abgabe der Verwaltungs- und Personalakten der Beschäftigten des Staatsrates an das Staatsministerium, wobei er auf die Entlassungsmöglichkeit eines Beamten nach §4 des Berufsbeamtengesetzes hinwies. Er korrespondierte über die Staatsratsbibliothek und informierte seine Mitarbeiter vertraulich über die zur Staatsratseröffnung vorgesehenen Festlichkeiten. Am 15.September 1933 wurde der Staatsrat mit einer Rede Görings eröffnet, in der dieser erklärte: "Wir stehen heute an diesem Wendepunkt des Staatslebens. Die nationalsozialistische Staatsverfassung, die in diesem Staatsrat zum Ausdruck kommt, gilt heute nicht nur in Preussen, sie wird hinausstrahlen in das ganze Reich. Sie ist der erste Versuch, zu beweisen und zu zeigen, dass dieses System der Arbeit das richtige ist. Deshalb dürfen wir vom Wendepunkt des Staatslebens 87
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Lfd.Nr.1068 sprechen, dürfen davon reden, dass hier ein Grundstein nationalsozialistischer Staatsver- fassung in Preussen und damit auch im Reich gelegt wird. Denn wir sehen die letzte und grösste Bedeutung des heutigen Tages darin, dass mit der Schaffung eines neuen Staatsrates in Preussen der Grundstein zu einer wahrhaft nationalsozialistischen Staatsverfassung gelegt wird, dass insbesondere an Stelle des Staatsorgans, das auf dem durchaus undeutschen Boden des westlichen Parlamentarismus gewachsen war, ein Führergremium gesetzt wird, welches urgermanischem und damit rein nationalsozialistischem Denken und Fühlen entspricht. Wir sind ferner des Glaubens, dass die Auswirkung dieses Ereignisses sich nicht allein auf Preussen beschränken, sondern weit darüber hinaus den Gang der Entwicklung beeinflussen wird, überall da, wo nationalsozialistisch gedacht und regiert wird." Im "Völkischen Beobachter" erschien am 21.Oktober 1933 ein Artikel "Führerprinzip in der Thüringer Regierung", in dem die Abschaffung parlamentarischer Formen in Thüringen und die Ernennung von Staatsräten in diesem Land geschildert wird. Der Artikel wurde vom Angeklagten mit handschriftlichen Vermerken versehen zu den Akten genommen. Der Angeklagte kommentierte auch das Staatsratsgesetz in Freisler/Grauert II a 1. In der Einführung schrieb er: "Das Gesetz über den Staatsrat ist das erste Gesetz, in dem der Führergedanke, der die nationalsozialistische Bewegung beherrscht, eindeutig zum Ausdruck gekommen ist. Das Gesetz ist insofern richtungweisend für die Zukunft ... es ist nicht daran zu zweifeln, dass sich der völlige Umbau des preussischen Staatslebens über kurz oder lang auf der gleichen Grundlage vollziehen wird." Zu der Festlegung des §4, dass die Mitglieder des Staatsrats deutsche Staatsbürger sein müssen, vermerkte der Angeklagte: "Ein Reichsgesetz über das Reichsbürgerrecht ist in Vorbereitung." Auch die faschistischen Staatsrechtler bestätigten die Bedeutung des Staatsratsgesetzes. So schrieben Kluge/Krüger in ihrer Reichsbürgerkunde, 3.Auflage 1941, S.144: "Ein neugeschaffener Führerrat ist der Preussische Staatsrat." In seiner Schrift "Die Verfassung der nationalsozialistischen Revolution", 1933, führte Krüger aus: "Dem Staatsratsgesetz kommt somit grundsätzliche Bedeutung nicht nur für Preussen zu ... Danach kann erwartet werden, dass einmal der Reichsrat entsprechend umgewandelt wird, zum anderen aber werden sowohl der Reichstag wie die Landtage, die ja schon infolge Übergangs ihrer Gesetzgebungsrechte auf die Regierungen nur noch ein Schattendasein führten, ihre Gesetzgebungsrechte ganz verlieren und rein beratenden Körperschaften weichen müssen." (S.59) Zur Mitgliedschaft im Staatsrat vermerkte Krüger: "Die Mitgliedschaft entsteht also entweder von Amts wegen oder durch Ernennung. Hierin hat das Gesetz ebenfalls umstürzende Bedeutung, das zum ersten Male eine auf dem reinen Führerprinzip aufgebaute Körperschaft entstehen lässt. Wahlen finden nicht statt, Parteien bestehen nicht mehr." (S.59/60) Schliesslich schrieb Krüger zur weiteren Entwicklung in Preussen: "In gleicher Weise wie der Staatsrat sind bereits die preussischen Provinzialräte durch Gesetz vom 17.Juli 1933 ... umgebildet worden. Auch für die Reform des Gemeindeverfassungsrechtes wird das Staatsratsgesetz verbindlich wirken." (S.59) Wie bereits die faschistischen Staatsrechtler vorausgesagt hatten, wirkte die preussische Gleichschaltung, die z.B. bezüglich der Garantie der Einrichtung des Landtages einen 88
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Lfd.Nr.1068 weitergehenden Standpunkt vertreten hatte, als es im Reich der Fall war (keine unbedingte Garantie des Gesetzgebungsrechts des Landtages), beispielgebend für das Reich. Am 14.Oktober 1933 wurden die Landtage aufgelöst und ihre Neuwahl verhindert. Mit dem "Gesetz über den Neuaufbau des Reiches" vom 30.Januar 1934 (RGBl. I S.75) wurden die Volksvertretungen der Länder aufgehoben, die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich übergeleitet und die Landesregierungen der Reichsregierung unterstellt. Mit Gesetz vom 14.Februar 1934 (RGBl. I S.89) wurde der Reichsrat aufgehoben. Der Reichstag verlor seinen Charakter als parlamentarische Körperschaft, wie dies früher auf Grund der vom Angeklagten entworfenen Gesetze mit dem Preussischen Landtag geschehen war. Auch diese Entwicklung fand willfährige Kommentatoren. Kluge/Krüger stellten fest, dass nach dem Neuaufbaugesetz die Beschränkungen des Ermächtigungsgesetzes aufgehoben seien, die Regierung das unbeschränkte Recht erhalten habe, neues Verfassungsrecht zu setzen, und der Führergrundsatz an die Stelle des Mehrheitsprinzips getreten sei. Sie erklärten: "Es gibt nur eine Staatsgewalt, das ist der Wille des Führers. Er hat die gesetzgebende Gewalt; die Reichsregierung stimmt nicht mehr ab, sondern berät, und der Führer entscheidet, er hat die vollziehende Gewalt und ist oberster Gerichtsherr." (a.a.O. S.39/40) In ähnlicher Form legten Stuckart/Schiedermair in ihrem Grundriss "Neues Staatsrecht I" (zitiert nach 14.Auflage 1940) dar, dass mit den genannten Gesetzen das Führerprinzip zum Durchbruch gelangt und die Gesetzgebung zu einem echten Akt der Führung geworden sei (S.17). Die Aufhebung der Volksvertretungen der Länder wird als letzter Schritt der "Unschädlichmachung der Länderparlamente" bezeichnet, die als Hauptstützen des Weimarer Systems das Vertrauen des Volkes zum Staat zerstört und die Staatsführung gelähmt hätten (S.52). An die Stelle des Reichstags sei der Führer getreten. Der Reichstag habe der Reichsregierung bei schwerwiegenden Entscheidungen ratend zu Seite zu stehen, "ohne sich, wie die Reichstage des Zwischenstaates, in endlose Debatten und Streitigkeiten zu verlieren" (S.63). Diese kurz skizzierte staatsrechtliche Entwicklung im Reich und ihre Kommentierung lassen erkennen, dass die vom Angeklagten Globke entworfenen preussischen Gesetze ihrer ideologischen Grundlage und ihrer politischen Zielsetzung nach einen wesentlichen Bestandteil dieses neuen, faschistischen Staatsrechts bildeten. III. « Mitwirkung an dem preussischen Provinzialratsgesetz » Diese faschistischen Prinzipien wurden unter Mitwirkung des Angeklagten auch auf den örtlichen Bereich übertragen. Ende Juni 1933 begann man im Preussischen Innenministerium mit Entwürfen für ein Provinzialratsgesetz. Ein mit dem Datum 30.6.1933 versehener Entwurf hierfür trägt handschriftliche Vermerke des Angeklagten Globke. Der Provinzialrat wurde nach dem Vorbild des Preussischen Staatsrats als ein beratendes Gremium beim Oberpräsidenten nach dem Führerprinzip aufgebaut; seine Mitglieder sollten aus den Kreisen hoher Nazifunktionäre und aus dem öffentlichen Leben ernannt werden. Das Gesetz, dessen Formulierungen sich stark an das Staatsratsgesetz anlehnten, wurde als Regierungsgesetz unter dem Datum des 17.Juli 1933 beschlossen (GS S.254). In einer Erklärung des Amtlichen Preussischen Pressedienstes vom gleichen Tage, die am 18.Juli im "Völkischen Beobachter" veröffentlicht wurde, heisst es: "In geradliniger Fortentwicklung der Gedanken, die dem preussischen Gesetz über den Staatsrat vom 8.Juli 1933 zugrunde liegen, hat das Preussische Staatsministerium in seiner Sitzung vom 15.Juli 1933 ein Gesetz über den Provinzialrat beschlossen, das auch für die staatliche Provinzialverwaltung den Führergedanken verwirklicht und so für den künftigen weiteren Aufbau der 89
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Lfd.Nr.1068 preussischen Verwaltung richtunggebend ist ... Die bisherigen auf Grund des Landesverwaltungsgesetzes gebildeten Provinzialräte werden aufgelöst." Der Angeklagte Globke arbeitete intensiv an der Durchführung und weiteren Ausgestaltung dieser Gesetzgebung mit. Er verfasste eine nicht zu veröffentlichende Direktive vom 26.Juli 1933 und ein weiteres Rundschreiben vom 9.August 1933 über die Ernennung der neuen Provinzialräte; in das letztere nahm er auf Vorschlag von Dr. Danckwerts den Satz auf: "Auch setze ich als selbstverständlich voraus, dass die arische Abstammung der nach Gruppe 2 Vorgeschlagenen festgestellt ist." Globke arbeitete auch an den Änderungsgesetzen vom 15.Februar 1934 (GS S.57) und vom 11.April 1934 (GS S.117) mit. Auch die Provinzialratsgesetze wurden vom Angeklagten in Freisler/Grauert II a 12 kommentiert. In der Einführung zum Gesetz vom 17.Juli 1933 schrieb er: "Was der Staatsrat im Staat, ist der Provinzialrat in der Provinz." Zur Festlegung in §4, wonach ein Mitglied des Provinzialrats deutscher Staatsbürger sein musste, vermerkte Globke erneut: "Ein Reichsgesetz über das Reichsbürgerrecht ist in Vorbereitung." In der Einführung zum Änderungsgesetz vom 15.Februar 1934 legte der Angeklagte die Bedeutung dieser Gesetze für die Durchführung des nationalsozialistischen Führerprinzips auf der Provinzebene dar. Eine konsequente Fortsetzung dieser Gesetzgebung in Preussen war später die auf Reichsebene erlassene "Deutsche Gemeindeordnung" vom 30.Januar 1935, die das "Führerprinzip" bis in das letzte Dorf durchsetzte. Unter Federführung des Angeklagten wurde ein Bericht an den Preussischen Ministerpräsidenten zusammengestellt und am 6.Februar 1934 abgesandt, der eine Übersicht über die gesetzgeberischen Arbeiten des Innenministeriums seit dem 30.Januar 1933 enthielt. In diesem vom Angeklagten handschriftlich redigierten Bericht, der demnach seine eigene Einschätzung der von ihm entworfenen Gesetze wiedergibt, heisst es: "Nach der Machtergreifung durch die nationalsozialistische Bewegung ist das Verfassungsleben des preussischen Staates nach und nach immer mehr im nationalsozialistischen Sinne umgebaut worden. Insbesondere ist das Führerprinzip zur Durchführung gelangt ... Der Landtag ist aufgelöst und wird nicht mehr zusammentreten; sein Recht zur Gesetzgebung war bereits vorher dadurch praktisch illusorisch geworden, dass durch Reichsgesetz dem Staatsministerium die Befugnis zum Erlass von Gesetzen zugesprochen war. Zur Beratung des Staatsministeriums bei der Führung des Staates ist durch das Gesetz über den Staatsrat vom 8.7.1933 (GS S.241) der Preussische Staatsrat gebildet worden. Mitglieder des Staatsrates sind neben den Ministern und den Staatssekretären bewährte Führer der nationalsozialistischen Bewegung und um Staat und Volk sonst verdiente Männer, darunter Vertreter der Kirchen, von Wirtschaft, Arbeit, Wissenschaft und Kunst. ... Der neuen Ordnung der Verwaltung in der Provinz im nationalsozialistischen Sinne ist durch das Gesetz über den Provinzialrat vom 17.7.1933 (GS S.254) Rechnung getragen. In ihm ist dem Oberpräsidenten als dem Führer der Provinz ein beratendes Organ beigegeben, das sich neben den leitenden Beamten der Provinz aus um die nationalsozialistische Bewegung oder um die Provinz verdienten Männern zusammensetzt. Bei der Auswahl der Mitglieder des Provinzialrates wird die Tatsache, dass der Oberpräsident nunmehr auch Chef der provinziellen Selbstverwaltung ist, besonders dadurch berücksichtigt, dass in der Selbstverwaltung erfahrene Persönlichkeiten in den Provinzialrat berufen werden müssen ... Naturgemäss ist mit diesen Massnahmen die Reform des preussischen Verfassungslebens nicht abgeschlossen. Der Nationalsozialismus hat es aber immer 90
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Lfd.Nr.1068 abgelehnt, ohne Rücksicht auf eine organische Entwicklung seine Programmpunkte theoretisch auf einmal durchzuführen, sondern er hat es als richtig erkannt, die gesetzgeberische Verwirklichung seiner Ideen je nach dem auftretenden Bedürfnis allmählich zu betreiben. Diese Einstellung gibt die Gewähr dafür, dass die Gesetze Hand in Hand mit der politischen Entwicklung gehen und dass die Überzeugung von der Notwendigkeit der gesetzgeberischen Massnahmen Allgemeingut des ganzen Volkes ist ... Auch auf dem Gebiete der Gemeindeverfassung und -verwaltung ist den Anforderungen der neuen Zeit Rechnung getragen worden." D. Die Teilnahme des Angeklagten an der Kennzeichnung, Verfolgung und Ausrottung der jüdischen Bürger in Deutschland und in den von den Faschisten zeitweilig besetzten Gebieten Der Antisemitismus ist von den herrschenden Klassen im deutschen Volke seit Jahrhunderten bewusst zur Ablenkung von den wirklichen Urhebern der Nöte der unterdrückten Volksschichten ausgenutzt worden. Die falschen Vorstellungen, die den unwissenden Menschen von Generation zu Generation von der geschichtlichen Rolle, den religiösen Bräuchen und sonstigen Lebensgewohnheiten des jüdischen Volkes vermittelt wurden, ermöglichten es immer wieder, bei der Zuspitzung der durch die Ausbeuterklassen hervorgerufenen gesellschaftlichen Missstände den Zorn der verelendeten Massen gegen die Juden zu lenken. So kam es in der Vergangenheit oft zu Pogromen, bei denen Tausende jüdischer Menschen getötet, ihre Wohn- und Arbeitsstätten geplündert und gebrandschatzt wurden. Die bürgerlichen Revolutionen überwanden in den meisten europäischen Ländern den Antisemitismus und brachten den Juden die rechtliche und soziale Gleichstellung. Die verspätete und unvollendet gebliebene bürgerliche Revolution in Deutschland beschränkte die jüdische Emanzipation auf die Gleichstellung der Juden vor dem Gesetz. Im deutschen Volksdenken wurde der Antisemitismus jedoch erhalten. Sein Wesen veränderte sich lediglich insofern, als die vorwiegend religiöse Ursache des Antisemitismus im Mittelalter zugunsten des Vorwandes des antagonistischen Völker- und Rassengegensatzes zurücktrat. Am stärksten veränderte sich die Funktion des Antisemitismus mit der Anmeldung des Anspruches auf Weltherrschaft durch den aggressiven junkerlich-bourgeoisen deutschen Imperialismus, dem der "Rassismus" die Rechtfertigung für die imperialistische Aggression und die Unterdrückung fremder Völker gab. Die Propagandisten des "Alldeutschen Verbandes" brachten vor dem ersten Weltkrieg die Losung auf, die Deutschen seien ein "Volk ohne Raum", deshalb habe ihnen das Schicksal die schwachbesiedelten Gebiete Osteuropas zugedacht; die "völkische Hochzucht" des deutschen Volkes berufe es, über "Völker niederer Rasse" zu herrschen. Houston Stewart Chamberlain entwickelte in seinem Buch "Die Grundlagen des XIX.Jahrhunderts" eine "Geschichtsphilosophie", nach der die Menschheit fast alle bedeutenden Kulturschöpfungen den "Ariern" (Indogermanen) und unter diesen hauptsächlich den Germanen verdanke. Diese Ideen übten auf die deutschen Chauvinisten von Wilhelm II. bis zu Hitler starken Einfluss aus. Ein weiterer "Rassentheoretiker", Otto Ammon, versuchte statistisch nachzuweisen, dass der Anteil der germanischen Rasse unter den Angehörigen der "höheren Stände" besser erhalten sei als in den niederen Schichten, womit die Herrschaft der ersteren infolge ihrer besseren Blutzusammensetzung notwendig sei. Politische Abenteurer wie Hitler und seine engsten Gefolgsmänner erkannten schon bald nach dem verlorenen ersten Weltkrieg, dass dessen Ausgang die deutschen Imperialisten nicht von ihrer Zielsetzung nach Erlangung der Weltherrschaft abgebracht hatte. Sie stellten sich in den Dienst des deutschen Imperialismus. Im Jahre 1919 wurde die NSDAP gegründet. Sie stellte sich als Ziel eine antikommunistische Massenbewegung. Unter Ausnutzung der Unwissenheit breiter Bevölkerungsschichten wurde der Friedensvertrag von Versailles, der Sieg der Bolschewiki über den Zarismus in Russland 91
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Lfd.Nr.1068 und das internationale Judentum in einen Zusammenhang gebracht. Nicht in dem volksfeindlichen Imperialismus, sondern in den Juden sollte das deutsche Volk seinen Feind sehen. Immer wieder betonten in der Folgezeit die faschistischen Führer, dass der Antisemitismus ihre Hauptwaffe sei. Hitler sagte, wenn es keinen Juden gäbe, so müsse man ihn ausdenken. Man müsse einen sichtbaren Feind haben und nicht nur einen unsichtbaren. Und Robert Ley erklärte in der Zeitung "Der Angriff" am 15.Mai 1944: "Die zweite deutsche Geheimwaffe ist der Antisemitismus, weil er, wenn er von Deutschland konsequent durchgehalten wird, eine Weltfrage werden wird, mit der sich alle Völker werden auseinandersetzen müssen." Die antisemitischen Gedanken und Forderungen, die der Führer des "Alldeutschen Verbandes", Justizrat Class, unter dem Pseudonym Daniel Frymann vor dem ersten Weltkrieg in seinem Buch "Wenn ich der Kaiser wär' - Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten" niedergelegt hatte, fanden im Prinzip Aufnahme in das am 25.Februar 1920 im Hofbräuhaus-Festsaal in München verkündete Programm der NSDAP. Darin heisst es: "(4) Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein. (5) Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muss unter Fremdengesetzgebung stehen. (6) Das Recht, über Führung und Gesetze des Staates zu bestimmen, darf nur dem Staatsbürger zustehen. Daher fordern wir, dass jedes öffentliche Amt, gleichgültig welcher Art, gleich ob in Reich, Land oder Gemeinde, nur durch Staatsbürger bekleidet werden darf. (8) Jede weitere Einwanderung Nicht-Deutscher ist zu verhindern. Wir fordern, dass alle Nicht-Deutschen, die seit dem 2.August 1914 in Deutschland eingewandert sind, sofort zum Verlassen des Reiches gezwungen werden." In dem Masse, wie die NSDAP ihren Einfluss im politischen Leben vergrössern konnte, steigerte sich die Propagierung des integralen Bestandteiles der faschistischen Rassentheorie, des Antisemitismus. Es verblieb aber nicht bei antisemitischen Äusserungen in Wort und Schrift, sondern zunehmend begannen die judenfeindlichen Kundgebungen sich in tätlichen Ausschreitungen gegen jüdische Friedhöfe, Synagogen und auch schon gegen jüdische Bürger unmittelbar zu zeigen. Die jüdischen Vereinigungen wandten sich schutzsuchend an die staatlichen Organe, insbesondere an das Preussische Innenministerium. So wies der Central-Verein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens den preussischen Innenminister am 4.Oktober 1928 darauf hin, dass seit seiner Eingabe vom 30.Mai 1927, womit auf die systematische Heimsuchung jüdischer Friedhöfe aufmerksam gemacht worden war, weitere Schändungen an dreizehn jüdischen Friedhöfen und fünf Synagogen vorgekommen seien. Der preussische Innenminister wies zwar die Regierungspräsidenten auf die antisemitischen Ausschreitungen hin. Als jedoch der preussische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung bei ihm anfragte, ob er zur Verhütung solcher Vorfälle besondere Weisungen für erforderlich halte, wurde ihm mitgeteilt, dass weitere Weisungen seitens des Preussischen Innenministeriums zunächst nicht beabsichtigt seien. In einem weiteren Schreiben vom 19.November 1928 teilte der preussische Innenminister dem preussischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung mit, dass er durch polizeiliche Massnahmen derartige Ausschreitungen niemals gänzlich verhindern könne, weshalb er auch dem bei ihm vorstellig gewordenen Verein eine Nachprüfung anheimgestellt habe, inwieweit die Synagogengemeinden eigene Schutzvorkehrungen durch Bewachung ihrer Gebäude und Anlagen treffen könnten. Eine dem Preussischen Innenministerium gleiche passive Haltung gegenüber den von den Faschisten inszenierten und stetig zunehmenden antisemitischen Ausschreitungen nahmen 92
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Lfd.Nr.1068 Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte ein. Hierfür lag dem Obersten Gericht umfangreiches Beweismaterial vor. Zwar wurden bei derartigen Vorfällen strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber meistens wurden infolge des offensichtlichen Nichtinteresses der Strafverfolgungsbehörden die Täter nicht ermittelt. Wurden sie bekannt, weil sie im Laufe der Zeit kaum noch Wert darauf legten, unerkannt zu bleiben, wurden staatlicherseits alle möglichen Rechtfertigungsgründe gesucht. Handelte es sich um jüngere Menschen, wurde konstatiert, dass ihrer Tat jugendliche Unreife und keinerlei politische Motive zugrunde gelegen hätten. In anderen Fällen wurde den faschistischen Terroristen, wenn sie im Anschluss an eine nazistische Zusammenkunft ihre Ausschreitungen begingen, mangelnde Zurechnungsfähigkeit infolge Alkoholgenusses zugute gehalten. Sahen die Gerichte aber keine andere Möglichkeit, als zu einer Verurteilung solcher Täter zu kommen, dann wurden die denkbar mildesten Strafen ausgesprochen, deren Höchstmass sechs Monate Gefängnis betrug, und diese Strafen dann oft noch nicht vollstreckt, sondern auf Bewährung ausgesprochen. Die ideologische Haltung der Beamten des Preussischen Innenministeriums zu den antisemitischen Ausschreitungen der immer dreister werdenden Faschisten kennzeichnete eine Veröffentlichung der "Zeitnotizen" vom 21.September 1928 mit der Überschrift "Kein Einschreiten gegen Friedhofsschänder". Sie lautete: "Anlässlich der immer wiederholten Verwüstungen von Judenkirchen durch Völkische - allein aus Westfalen wurde am 19.September der sechzigste (!) Fall gemeldet - erhebt sich die Frage, ob sich die zuständige Stelle genügend um die Verhinderung solcher Taten bemüht. Zwar laufen die Berichte im Preussischen Innenministerium ein, aber sie werden dort nur im Pulte des Ministerialrats Herrn Schönner gesammelt, ohne dass dieser Beamte aus den sich häufenden Akten die Veranlassung zu irgendeinem Einschreiten nähme, während es bei der Eigenart dieser Verbrechen wahrscheinlich ist, dass die Aussetzung einer Belohnung für Anzeigen Erfolge bringen würde. Die Abneigung des Herrn Schönner, gegen die in Betracht kommenden Kreise etwas zu unternehmen, ist auch in seinem Ressort zu sehr bekannt, als dass die ihm nachgeordneten Beamten den Mut zu irgendwelchen Vorschlägen in dieser Richtung aufbrächten." In einer dienstlichen Stellungnahme vom 22.September 1928 an den preussischen Innenminister bestreitet der genannte Ministerialrat Schönner die Berechtigung der ihm gemachten Vorwürfe mit folgenden Argumenten: "Die 'Zeitnotizen' werden von dem Schriftsteller Martin Sander herausgegeben. Dieser ist Strohmann für den in weiten Kreisen bekannten demokratisch-pazifistischen Schriftsteller Jakob Salomon, der unter dem Pseudonym Jakob schreibt. Seine Aufsätze zeigen starke Tendenzen zur kommunistischen Auffassung. Früher war er auch Mitarbeiter an der 'Menschheit' und der 'Weltbühne'. Wegen eines Artikels in der 'Weltbühne' gegen die Reichswehr ist er, wie noch bekannt sein dürfte, im Frühjahr 1928 zu längerer Freiheitsstrafe verurteilt, neuerdings aber amnestiert worden." Auf diese Weise wurden durch betonte Zurückhaltung seitens der zuständigen Staatsorgane die judenfeindlichen Aktionen der Nazis unmittelbar gefördert. Das Ergebnis dieser Haltung war, wie die Zeitung "Germania" am 21.Januar 1929 berichtet, die siebzigste Schändung jüdischer Friedhöfe. Wie "unpolitisch" diese Taten waren, zeigt die "Kölnische Volkszeitung" vom 4.Februar 1929, wonach die beiden festgestellten Schänder jüdischer Grabstätten freimütig bekannten, durch Lektüre nationalsozialistischer Schriften dazu angeregt worden zu sein. Am 13.November 1928 zertrümmerten zwei Jugendliche in Berlin-Köpenick auf dem jüdischen Friedhof mit Steinwürfen eine Anzahl von Grabtafeln und stiessen Grabsteine um. 93
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Lfd.Nr.1068 Das Verfahren wurde eingestellt, weil sich die Jugendlichen der Tragweite ihres Handelns nicht bewusst gewesen seien. In der Nacht vom 15. zum 16.Februar 1930 wurden mit festhaftender Anilinfarbe von fünf SA-Männern an der Synagoge in Berlin, Kottbusser Ufer 45/50, Nazi-Embleme und Losungen wie "Juda verrecke", "Juda den Tod", "Die Rache naht" angeschmiert. Sie wurden deswegen am 23.Juni 1930 vom Schöffengericht Berlin-Mitte zu je fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Die Angeklagten legten Berufung ein, auf die das Landgericht I Berlin die Strafen auf drei Monate Gefängnis herabsetzte und es dem Richter der ersten Instanz überliess, den Verurteilten auch noch Bewährungsfrist zuzubilligen. Am 5.Oktober 1930 drangen in Essen fünf Faschisten während des Gottesdienstes in die Synagoge, unterbrachen durch Radau den Gottesdienst, schlugen die beiden Vorbeter blutig und setzten sich dann auf die Steinstufen, an denen sie ihre Taschenmesser wetzten und Drohungen wie "Juda verrecke" und andere ausstiessen. Der Polizeipräsident von Essen berichtete zu diesem Vorfall am 24.Oktober 1930 an den Regierungspräsidenten, dass die Täter auf freien Fuss gesetzt worden seien und das Verfahren nicht vom politischen Dezernenten der Staatsanwaltschaft durchgeführt werde, da der Tat nicht vorwiegend politische Motive unterstellt würden. Die Unterstützung, die den hasserfüllten Aktionen der Faschisten gegen die jüdischen Bürger Deutschlands durch das Preussische Innenministerium zuteil wurde, beschränkte sich aber nicht auf die Duldung und Verdeckung des zu gefährlicher Kriminalität ausgewachsenen Antisemitismus. Vielmehr wurde dieses Kernstück der faschistischen Rassenlehre, hinter dem sich die politischen Ziele des deutschen Imperialismus verbargen, dort, wo es unauffällig möglich war, noch vor der Erlangung der politischen Macht durch die Faschisten auf eine der Verfassung der Weimarer Republik entsprechende legale Grundlage zu stellen versucht. An diesen Bestrebungen war auch der Angeklagte Globke beteiligt. Eine dieser Massnahmen, die die faschistische Judenverfolgung unmittelbar förderten, war die Neuregelung des Verfahrens bei Namensänderungen. I. Die Mitwirkung des Angeklagten an der Kennzeichnung der Juden durch Neuregelung des Verfahrens bei Namensänderungen Der Angeklagte wurde schon bald nach seinem Eintritt in das Preussische Ministerium des Innern der verantwortliche Referent für die Bearbeitung von allen Fragen, die die Namensänderung betrafen. Er eignete sich auf diesem Gebiet in den folgenden Jahren umfangreiche Kenntnisse an und blieb während der Dauer seiner Tätigkeit im Preussischen und später im Reichs- und Preussischen Ministerium des Innern (R.u.Pr.MdI) der federführende Bearbeiter dieser Fragen. In seiner Aussage als Zeuge im Wilhelmstrassenprozess erklärte er am 10.August 1948 (S.15434 des Protokolls) hierzu: "Ich war Referent für das Namensrecht und habe also an allen Fragen der Namensänderung mitgearbeitet." Gestützt auf §7 der Zweiten Verordnung zur Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung vom 29.Oktober 1932 (Pr.GS S.333), wurde am 21.Dezember 1932 die Verordnung über die Zuständigkeit zur Änderung von Familien- und Vornamen erlassen (Pr.GS 1932 S.361). Wie die sofort im Anschluss an diese Verordnung ergangenen weiteren Vorschriften beweisen, handelte es sich hierbei nicht nur um eine zur Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung bestimmte Massnahme. Es ging vielmehr darum, die Entscheidungen über Anträge auf Namensänderungen der Zuständigkeit der immerhin nach dem Gesetz unabhängigen Gerichte und damit gleichzeitig der Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu entziehen und sie den auf Weisungsbefugnis aufgebauten Verwaltungs- und Polizeibehörden zu übertragen. Die Übernahme der Namensänderungen war im Preussischen Innenministerium gut vorbereitet worden. Die hierzu notwendigen Arbeiten hatte der Angeklagte geleistet. Bereits am 94
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Lfd.Nr.1068 24.November 1932 wurde der vom Angeklagten ausgearbeitete Runderlass TE 263 I/32 (Sonderdruck Nr.32 MBliV. 1932 S.1202) herausgegeben, mit dem die technische Verfahrensweise bei Namensänderungen festgelegt wurde. Die für die sachliche Entscheidung massgeblichen Gesichtspunkte über Anträge auf Namensänderung arbeitete der Angeklagte jedoch in gesonderten Richtlinien aus, die ihres Inhalts wegen zum damaligen Zeitpunkt der Öffentlichkeit nicht bekannt werden durften. Mit einem vom Angeklagten verfassten Anschreiben - 1 Z 47/32 -, das den ausdrücklichen Hinweis enthielt, dass von einer Veröffentlichung der Richtlinien Abstand zu nehmen sei, wurden die Richtlinien am 23.Dezember 1932 - MdI I Z 47/32 - den Regierungspräsidenten, Landräten und Polizeibehörden zugeleitet. Die Richtlinien enthielten unter Ziffer VI einen Abschnitt "Judennamen", der mit seiner für die betreffenden Behörden verbindlichen Weisung, keine Änderungen jüdischer Namen in nichtjüdische vorzunehmen, offenkundig judenfeindlich war und schon eine Vorbereitung des faschistischen Namensrechts darstellte. Der Abschnitt lautet: "(1) Der Standpunkt, dass es einer Persönlichkeit jüdischer Herkunft zur Unehre gereiche, einen jüdischen Namen zu führen, kann nicht gebilligt werden. Bestrebungen jüdischer Personen, ihre jüdische Abkunft durch Ablegung oder Änderung ihrer jüdischen Namen zu verschleiern, können daher nicht unterstützt werden. Der Übertritt zum Christentum bildet keinen Grund, den Namen zu ändern. Ebensowenig kann die Namensänderung mit dem Hinweis auf antisemitische Strömungen oder auf das Bestreben eines besseren wirtschaftlichen Fortkommens begründet werden. (2) Dagegen werden anstössige jüdische Namen, die erfahrungsgemäss zu Spötteleien Anlass geben (wie Itzig, Schmul) oder Abneigung gegen den Träger erwecken können (Nachtschweiss, Totenkopf), gleich den anstössigen Namen deutschen Ursprungs geändert werden können, indessen in der Regel nur durch Gewährung eines anklingenden Namens (Issen, Schmal), des Namens eines nahen Familienangehörigen oder eines Phantasienamens, nicht durch Gewährung eines sonst vorkommenden Namens." Der Angeklagte, dem die sich immer mehr steigernden antisemitischen Ausschreitungen der Faschisten bekannt waren und der aus den Verlautbarungen der führenden Nazis auch wusste, dass sie im Falle der Erlangung der politischen Macht in Deutschland noch viel brutaler gegen die jüdischen Bürger vorgehen würden, schnitt, soweit es in seiner Macht lag, den Juden bewusst eine Möglichkeit ab, dem faschistischen Terror zu entgehen. Dass bei dem Angeklagten schon damals keinerlei Unklarheiten über den Charakter der antisemitischen Aktionen der Faschisten bestanden, gab er in seiner Zeugenaussage am 11.August 1948 vor dem Militärgerichtshof im sog. Wilhelmstrassenprozess zu. Er erklärte hier auf Befragen, dass die antisemitische Propaganda bereits vor 1933 offenkundig gewesen sei. Nach 1933 sei es zu Ausschreitungen gegen Juden an den verschiedensten Stellen Deutschlands gekommen. Auf eine weitere Frage äusserte der Angeklagte, dass er alle Verfolgungen von Juden für kriminell halte. Die vom Angeklagten im Jahre 1932 verfassten Richtlinien gaben für ihn in den folgenden Jahren immer die politisch-ideologische Grundlage; wenn er die Namensänderungen jüdischer Personen neu bearbeitete, so passte er lediglich den Inhalt der neuen Verwaltungsanweisungen jeweils verschärfend dem neuesten Stande der faschistischen Judenverfolgung an. Nachdem die Faschisten Anfang 1933 die Macht im deutschen Staate an sich gerissen hatten, steigerte sich folgerichtig auch der antisemitische Terror. Es wurde sofort begonnen, die jüdischen Bürger aus dem öffentlichen Leben auszuschalten, was mit brutalsten Methoden, wie der gewaltsamen Entfernung jüdischer Ärzte und Juristen aus ihren Arbeitsstätten, geschah, wobei es schon zu ersten Todesopfern kam. Jüdische Angestellte wurden entlassen, jüdische Kinder an dem Besuch der Schulen gehindert, jüdischen Künstlern ihre Betätigung vereitelt und ihre Werke vernichtet. Am 1.April 1933 antworteten die faschistischen 95
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Lfd.Nr.1068 Machthaber auf die in der ganzen Welt laut werdenden Proteste mit einem allgemeinen Judenboykott im ganzen Reich. Angesichts dessen versuchten in grösserem Umfange jüdische Bürger, den Diskriminierungen, körperlichen Misshandlungen und wirtschaftlichen Boykottmassnahmen durch Änderung ihrer Namen zu entgehen. Am 3.April 1933 - M. B. 93/33 - schrieb der preussische Justizminister dem preussischen Innenminister: "Ich mache darauf aufmerksam, dass die Anträge von Juden auf Namensänderungen sich in der letzten Zeit ausserordentlich häufen. Hierdurch wird bezweckt, die Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse zu verbergen." Hierauf wurde in einem vom Angeklagten verfassten Schreiben am 7.April 1933 - I Z Allg. 17/33 - u.a. geantwortet: "Im übrigen bemerke ich, dass ich Anträgen auf Änderungen jüdischer oder jüdisch klingender Namen in einen christlichen Namen auch beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen nur entspreche, wenn der Antragsteller nachweist, dass er nicht jüdischen Stammes ist." Der Angeklagte nahm dies weiter zum Anlass, eine nicht zur Veröffentlichung vorgesehene Anweisung an die Regierungspräsidenten, Landräte und Polizeibehörden auszuarbeiten, mit der unter dem 15.Mai 1933 u.a. angeordnet wurde: "Grundsätzlich wird die Genehmigung einer Namensänderung, die den Zweck verfolgt, die nichtarische Abstammung zu verschleiern, nicht erteilt. Es ist daher erforderlich, dass aus allen mir erstatteten Berichten in Namensänderungsangelegenheiten hervorgeht, ob der Antragsteller arischer oder nichtarischer Abstammung ist. Abschnitt VI der mit meinem Runderlass vom 23.12.1932 - I Z 47/22 - (nicht veröffentlicht) übersandten Richtlinien bleibt unberührt. Jüdische Namen, deren Änderung danach in Frage kommt, werden aber nicht durch einen deutschen, sondern nur durch einen anderen jüdischen Namen zu ersetzen sein." Diese Linie vermittelte der Angeklagte in einem von ihm verfassten Schreiben vom 22.März 1934 - I Z 8 - auch dem Staatsministerium der Justiz in München. Auch hier wird ausgeführt, dass Anträgen von Personen jüdischer Rasse auf Änderung ihres jüdischen Namens nur entsprochen werden könnte, wenn der neue Name ebenfalls ein jüdischer ist. Im übrigen würden Anträge nichtarischer Personen ausnahmslos abgelehnt. Besondere Vorsicht sei übrigens auch geboten bei unehelich Geborenen, die behaupten, arischer Herkunft zu sein, obwohl ein Nichtarier die Vaterschaft anerkannt habe. Am 7.April 1933 - II B 5 200/28. 3a - wandte sich der Reichsminister des Innern an den Kommissar des Reiches für das Preussische Ministerium des Innern und teilte mit, dass die Reichskanzlei im Auftrage Hitlers angeregt habe, zur Vorbereitung einer "bewusst völkischen Gesetzgebung" sämtliche Änderungen jüdischer Personennamen, die seit November 1918 vorgenommen worden sind, rückgängig zu machen. Er bat, zunächst entsprechende Erhebungen anzustellen. Der damit beauftragte Angeklagte wandte sich zu diesem Zwecke mit Schnellbriefen vom 13.April 1933 - 1 Z Allg. 18/33 - an den preussischen Justizminister, die Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten von Berlin - letztere erhielten hierzu eine Frist von drei Wochen gesetzt. Diese Stellen sollten ihm die Zahl der in Betracht kommenden Namensänderungen von November 1918 an mitteilen. Am 6.Juni 1933 - 1 Z Allg. 18/33 - lieferte der Angeklagte seinen an den Reichsminister des Innern gerichteten Bericht. Der Bericht umfasste allerdings nur die Zeit von November 1918 bis November 1919, in der die Regierungspräsidenten für Namensänderungen zuständig waren. Die Zahlen aus der nachfolgenden Zeit der Zuständigkeit der Justizorgane lagen ihm noch nicht vor. Im Berichtszeitraum hatten etwa 350 Personen an Stelle eines jüdischen Namens einen deutschen Namen erhalten. Er betonte, dass nach 1918 verschiedentlich keine sehr strengen Massstäbe für die Änderung jüdischer Namen galten, dass aber mit dem Erlass der nichtveröffentlichten Richtlinien vom 23.Dezember 1932 und den weiteren Anweisungen vom 3.April und 15.Mai 1933 die Änderung eines jüdischen Namens in einen christlichen 96
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