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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes zur Tarifeinheit

Die Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes

Diese Anfrage wurde als Teil der Kampagne „Frag den Bundestag“ gestellt.

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l Wissenschaftliche Dienste                Deutscher Bundestag Ausarbeitung Der Gesetzentwurf zur Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht Ausgewählte Fragestellungen © 2015 Deutscher Bundeslag                               WD 6 • 3000 • 254114
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Wissenschaftlic he Dienste                Ausarbeitung                                                      Seite 2 wo 6. 3000. 254/14 Der Gesetzentwurf zur Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht Ausgewählte Fragestellungen Aktenzeichen:                       WD 6 - 3000 - 254/14 Abschluss der Arbeit:               3. Februar 2015 Fachbereich:                        WD 6: Arbeit und Soziales Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlic hen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschon Bundostoges, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fochberelchsleitung. Der Deutsche Bundestag behiilt sich die Rechte der VoröiTcntlichung und Verbreitung vor. Beldes bedarf der Zuslimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1 , 11011 Berlin.
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Wissenschaftliche Dienste            Ausarbeitung                            Seile 3 WD 6 - 3000- 254/14 Inhaltsverzeichnis 1.          Einleitung                                                     4 2.          Rechtliche Grundlagen der Tarifeinheit                         4 2.1.        Der Begriff der Tarifeinheit nach der Rechtsprechung bis 2010  5 2.2.        Aktuelle Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts              6 3.          Der Inhalt des Gesetzentwurfes                                 6 4.          Verfassungsrechtliche Beurteilung                              8 4.1.        Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG                             8 4.2.        Eingriff in den Schutzbereich                                 10 4.2.1.      Eingriff oder bloße Ausgestaltung?                            10 4.2.2.      Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit                 11 4.2.2.1.    Tarifabschlüsse und Organisation                              11 4.2.2.2.    Arbeitskampf                                                  12 4.2.3.      Eingriff in die individuelle Koalitionsfreiheit               14 4.2.4.      Zwischenfazit                                                 14 4.3.        Verfassungsrechtliche Rechtfertigung                          15 4.3.1.      Wahrung der Funktionsfahigkeit der Tarifautonomie             16 4.3.1.1.    Schutz vor Überbietungswettbewerb und Arbeitskämpfen          18 4.3.1.2.    Ordnungsfunktion der Tarifeinheit                             21 4.3.1.3.    Wahrung der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit              22 4.3.1.4.    Mehrheitsprinzip und Nachzeichnungsrecht                      24 4.3.2.      Kollidierende Rechtsgüter Dritter                             25 5.          Fazit                                                         27 6.          Literaturverzeichnis                                          28
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Wissens chaftlich e Dienste             Ausarbeitung                                                           Seite 4 wo 6. 3000- 254/14 1.    Einleit ung Der Gesetz entwur f der Bunde sregier ung zu einem Gesetz zur Tarifei nheit (Tarifeinheitsgesetz)l, der derzeit dem Bunde srat zur Beratung vorliegt, sieht vor, dass zukünftig in einem Betrieb, in dem sich die Geltungsbereiche versch iedene r Tarifverträge übersc hneide n, der Tarifvertrag derje- nigen Gewerkschaft angew endet werde n muss, die in diesem Betrieb die meiste n Beschäftigten organi siert. Hinter grund des Gesetz entwur fes ist nach Angabe der Bunde sregier ung das Urteil des Bunde sar- beitsge richts vom 7. Juli 2010 , in dem es den in ständig er Rechts prechu ng gepräg ten Grund satz 2 der Tarifei nheit aufgegeben hat. Seitdem können konkur rierend e Gewerkschaften für gleiche Be- schäfti gtengr uppen versch iedene Tarifverträge abschl ießen, die innerh alb eines Betriebes mit zwinge nder Wirkun g zur Anwen dung komm en können . Die Bunde sregier ung ist der Entwurfsbe- gründu ng zufolge der Überzeugung, dass eine solche Tarifpl uralitä t die Funkti onsfäh igkeit der Tarifau tonomi e beeintr ächtige und den Betrieb sfriede n nachha ltig stören könne. Zu unters uchen ist, ob die vorgeschlagene gesetzl iche Regelung der Tarifei nheit einer verfas- sungsr echtlic hen Prüfun g am Maßstab der Koaliti onsfrei heit aus Art. 9 Abs. 3 Grund gesetz (GG)l standh ält. Die nachfo lgende n Ausfüh rungen bezieh en sich weites tgehen d auf den konkre t vorlie- genden Gesetzesentwurf. Es werde n dabei die wesent lichen im verfügbaren Schriftturn aufgewor- fenen verfass ungsre chtlich en Frages tellung en aufgegriffen und diskuti ert. 2.    Rechtl iche Grund lagen der Tarifei nheit Eine grunds ätzlich e Aussage zur Geltung von Tarifverträgen enthalt en bisher § 4 Abs. 1 in Ver- bindun g mit§ 3 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes (TVG). Danach gelten die Regelungen eines Ta- 4 rifvertrages unmitt elbar und zwinge nd zwisch en den Mitglie dern der Vertragsparteien und blei- ben gemäß § 3 Abs. 3 TVG solang e besteh en, bis der Tarifvertrag endet. Mit dem TVG hat der Gesetzgeber die Voraus setzun gen für ein gesetzlich gesiche rtes tarifvertrag- liebes Regelungsverfahren in Ausges taltung der verfass ungsre chtlich abgesi cherten Tarifautono- mie geschaffen. "Die Tarifve rtragsp arteien regeln auf dieser Grundlage (privat )autono m, mit wel- chen tarifpo litische n Forder ungen sie für ihre Mitglieder tarifvertragliche Regelungen mit wel- chem Tarifve rtragsp artner setzen wollen und letztlic h vereinbaren."~ 1     Bundesrntsdrucksnche 635/14 vom 29. Dezernbor 2014. 2     BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, allo Urteile sind nach )URIS zitiert. 3     Grundge setz fllr die Bundesr epublik Dtmtschland Vom 23. Mai 1949 (BGBI. S. 1), zuletzt geänder t durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Grundge setzes (Art. 91b) vorn 23. Dezember 2014 (BGBI. I S. 2438). 4     Tarifvertragsgesetz in der Fassung der Bekannt machun g vom 25. August 1969 (BGBI. I S. 1323), zuletzt geänder t durch Art. 5 des Tarifautonomiestärkungsgesetz vom 11. August 2014 {BGBI. I S. 1348). 5      BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 87.
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Wissenschaftliche Dienste                Ausarbeitung                                                          Seile 5 wo 6. 3000. 254/14 2.1. Der Begriff der Tarifeinheit nach der Rechtsprechung bis 2010 Unter dem Begriff der Tarifeinheit wird eine von der Rechtsprechung entwickelte Kollisionsregel für die Fälle des Aufeinandertreffens mehrerer Tarifverträge verstanden. Diese Regel besagt, dass auf ein Arbeitsverhältnis oder in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Anwendung finden soll. Der Grundsatz der Tarifeinheit wurde in zwei Konstellationen angewandt: Unstreitig gilt er in den Fällen der Tarifkonkurrenz, d.h., wenn ein Arbeitsverhältnis von mehreren Tarifverträgen zugleich erfasst wird. Darüber hinaus vertrat das Bundesarbeitsgericht bis 2010 die Auffassung, der Grundsatz der Tarifeinheit sei auch auf die Fälle der sog. Tarifpluralität anzuwenden. Tarif· pluralitätliegt vor, wenn der Betrieb des Arbeitgebers vom Geltungsbereichzweier von verschie· denen Gewerkschaften geschlossener Tarifverträge für Arbeitsverhältnisse derselben Art erfasst wird, an die der Arbeitgeber gebunden ist, während für den jeweiligen Arbeitnehmer je nach Ta· 6 rifgebundenheit nur einer der beiden Tarifverträge Anwendung findet. Der richterrechtliche Grundsatz der Tarifeinheit stellte damit eine Ausnahme von dem Gebot der unmittelbaren und zwingenden Geltung von Tarifverträgen nach§ 4 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 TVG dar. Für den Fall der Tarifpluralität in einem Betrieb soll nach dem Grundsatz der Tarifeinheit nur einer der bestehenden Tarifverträge Geltung beanspruchen können. Nach dem sog. Grundsatz der SpezialiUit verdrängte der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten stehende und deshalb den Eigenarten und Erfordernissen des Be- triebs und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung tragende Tarifvertrag die anderen Tarifverträge. Das Bundesarbeitsgericht begründete seine bi~herige Rechtsprechung mit den übergeordneten Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.? Weil das Tarifvertragsgesetz keine Regelun- gen für den Fall der Tarifpluralität enthalte, bestehe eine Regelungslücke. Bei dem Grundsatz der Tarifeinheit handele es sich um ein allgemein anerkanntes Rechtsprinzip. Die Gewerkschaft des spezielleren Tarifvertrages könne wegen der größeren Sachnähe das stärkere Recht für sich in Anspruch nehmen. Ferner gewährleiste nur die Gelttmg eines einzigen Tarifwerkes eine prak- tisch handhabbare und durchschaubare Regelung der Arbeitsbedingungen im Betrieb. Rechtliche und tatsächliche Unzuträglichkeiten, die sich aus einem Nebeneinander oder aus der Nichtan- wendung von Tarifverträgen in einem Betrieb ergeben, würden dadurch vermieden. 6     ZWANZIGER, Bertram. in: Tarifvertragsgesetz, 3. Aun. 2012, § 4 TVG, Rn. 940; BAG. Urteil vom 24. Januar 19!)0, Az.: 4 AZR 561/89. 7     Vgl. statt vieler BAG, Urteil vom 20. März 1991. Az.: 4 AZR 455/90, Rn. 23 ff.
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Wissenschaftlic he Dienste              Ausarbaitung                                                      Seite 6 wo 6. 3000. 254/14 2.2. Aktuelle Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 0 Mit den beiden entscheidenden Beschlüssen• und seinem Urteil vorn 7. Juli 2010 hat das Bun· desarbeitsgericht seine ständige Rechtsprechung bezüglich dar Tarifeinheit für die Fälle der Ta· rifpluralität aufgegeben. Als wesentliches Argument hierfür führte es an, der Grundsatz der Ta- rifeinheit sei mit der im Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Koalitionsfreiheit nicht vereinbar. Zur Ab- kehr von seiner bis dahin vertretenen Ansicht stellte das Bundesarbeitsgericht fest, dass die bis- herige Rechtsprechung in Fällen der Tarifpluralität dazu führe, dass in einem Betrieb der weniger spezielle Tarifvertrag seiner Wirkung beraubt werde. Dies könne aber weder auf eine gewohn- heitsrechtlich anerkannte Rechtsgrundlage noch auf übergeordnete Prinzipien der Rechtssicher- heit oder der Rechtsklarheit gestützt werden. Das Tarifvertragsgesetz enthalte keinen vorgehen· den allgerneinen Grundsatz der Tarifeinheit. Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesar· 10 beitsgerichts bleibt es daher bei der gesetzlichen Anordnung der Tarifgebundenheit in § 3 TVG: Alle Tarifverträge, die unterschiedliche Arbeitsverhältnisse in einem Betrieb betreffen, sind voll- umfeinglich wirksam. 3.    Der Inhalt des Gesetzentwurfes Seit der Abkehr des Bundesarbeitsgerichts vom Prinzip der Tarifeinheit können für dieselbe Be- schäftigungsgruppe unterschiedliche Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften gleichzeitig zur Anwendung gelangen. Hierdurch wird jedoch nach Ansicht der Bundesregierung die Funkti- onsfähigkeit der Tarifautonomie beeinträchtigt. Tarifkollisionen würden die Gefahr bergen, dass die Koalitionen der ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG überantworteten und im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe der Ordnung und Befriedw1g des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden könnten. Daher solle durch das geplante Gesetz zur Tarifeinheit ein gesetzlicher Rahmen geschaf- fen werden, innerhalb dessen die Koalition die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Arbeit- nehmer sinnvoll ordnen könnten. Das Tarifeinheitsgesetz soll nach der Gesetzesbegründung die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern. Um dies zu erreichen, soll als neue Vorschrift der § 4a TVG (neu} in das Tarifvertragsgesetz eingefügt werden, welche als .,Kernstück" des Gesetzes- 11 vorhabens anzusehen ist. § 4a Abs. 1 TVG (neu) legt den Regelungszweck der neuen Vorschrift fest. Danach sollen Tarif- kollisionen ..zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie 8     BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08 und Beschluss vom 23. Juni 2010, Az.: 10 AS 2/10. 9     BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/06. 10    BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 23, 65. 11    So DÄUBLER, Wolfgang. Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierun g zum Torifeinheitsges etz vom 9. Januar 2015, S. 5.
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Wissenschaftliche Dienste                Ausarbeitung                                                                Seite 7 wo 6- 3000 • 254/14 Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrages" vermieden werden. Hieran anschlie- ßend formuliert§ 4a Abs. 2 Satz 1 TVG (neu) -lediglich klarstellend-, dass der Arbeitgeber nach § 3 TVG an mehrere Tarifverträge mit unterschiedlichen Gewerkschaften gebunden sein kann. In der Literatur wird zwn Teil die Auffassung vertreten, dass auch eine so genannte gewillkürte Tarifpluralität weiterhin möglich sei, d.h. die beteiligten Gewerkschaften und Arbeitgeber könn- ten sich dahingehend einigen, dass für eine bestimmte Gruppe von Beschäftigten je nach Mit- 12 gliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft unterschiedliche Tarifverträge gelten sollen. Der Gesetzentwurf spricht jedoch lediglich von dem Recht der Gewerkschaften, ihre Zuständigkeiten wechselseitig abzustimmen und Tarifverträge jeweils für "verschiedene Arbeitnehmergruppen abzuschließen." Diese Formulierung dürfte sich daher eher so lesen, dass zwei verschiedene Ge- werkschaften in einem Betrieb gerade nicht für dieselbe Beschäftigungsgruppe verschiedene Ta- rifverträge abschließen können. Denn sobald die Tarifverträge nicht inhaltsgleich seien, bestehe- laut der Entwurfsbegründung- eine auflösungsbedürftige Tarifkollision.U Die Verdrängung der Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaften müsse daher selbst dann erfolgt, wenn mehrere Ta- rifverträge einvernehmlich mit dem Arbeitgeber geschlossen wurden. 14 Denn nach dem Wortlaut des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG (neu) wird die Anwendung der Rechtsnormen des Tarifvertrages der Mehrheitsgewerkschaft im Fall der Tarifkollision angeordnet. Es soll damit auch für den Arbeit· geber-jedenfalls nach dem Wortlaut und der Begründung des Gesetzesentwurfs- kein Wahl- recht hinsichtlich einer gewillkürten Tarifpluralität bestehen. Gelingt keine autonome Verständigung der Gewerkschaften und besteht eine Tarifkollision, d.h. überschneiden sich die Geltungsbereiche von inhaltlich nicht identischen Tarifverträgen, soll nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG (neu) der Grundsatz der Tarifeinheit greifen. Danach würde allein der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten in einem Arbeitsver- hältnis stehenden Mitglieder hat. Die Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaft(en) werden ver- drängt, unabhängig davon, welche Gegenstände der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft über- haupt regelt. Bei der Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse in einem Betrieb ist nach der Begrün- dung des Gesetzentwurfs ein "tarifrechtlicher" Betriebsbegriff zu Grunde zu legen. Die Minderheitsgewerkschaft, deren Tarifvertrag von der Mehrheitsgewerkschaft nach dem Grundsatz der Tarifeinheit verdrängt wird, erhält nach § 4a Abs. 4 TVG (neu) ein so genanntes Nachzeichnungsrecht, sofern ein bestehender und von ihr abgeschlossener Tarifvertrag verdrängt 15 wird. Auf diesem Wege kann sie die Geltung des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft auch für ihre Mitglieder erwirken. Ferner ist nach § 4a Abs. 5 TVG (neu) ein Anhörungsrecht gegen- über der Arbeitgeberseite vorgesehen, wenn diese mit einer konkurrierenden Gewerkschaft in 12    So DÄUBLER, Wolfgang. Gutachten z.um Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Ja- nuar 2015, S. 5f. 13    Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 9. 14    BERG, Peler. Gesetzlich verordnete Torifeinheil reloadcd ·das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz :Viertel· jahressehr1ft für Recht und Politik.· 47 (2014), 1, S. 72- 80 (77); der DEUTSCHE ANWALTVEREIN siehl es zum in· dest als unklar an, ob § 4a TVG (neu) auch Fiille der gewillkürten Tarifpluralität erfasst und fordel'l insoweit eine Klarstellung. Stellungnahme zum Referentenentwurf. Novemllcr 2014. Stellungnahme Nr. 60/2014. S 4. 15    Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dozember 2014, S. 12.
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Wissenschaftliche Dienste               Ausarbeitung                                                           Seile 8 WD 6- 3000- 254/14 Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags eintritt. Die Gewerkschaft kann allerdings ihre Auffassung lediglich mündlich darlegen, ein Erörterungs- oder Verhandlungsrecht besteht, 16 wie sich aus der Entwurfsbegründung ergibt, nicht. Die Bundesregierung hebt in ihrer Begründung zum Gesetzentwurf hervor, dass die Tarifparteien nach wie vor eigenständig die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Beschäftigten sinnvoll ordnen und Tarifkollisionen vermeiden sollen. Der geplante § 4a TVG (neu) greife insbesondere nicht in das Arbeitskampfrecht ein. Im Streitfall würde auch künftig durch die Arbeitsgerichte geprüft, ob ein Streik verhältnismäßig sei oder nicht. 4.     Verfassungsrechtliche Beurteilung Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellt sich zunächst die Frage, ob der Abschluss von Tarifverträ- gen in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fällt. Des Weiteren kommt es darauf an. ob § 4a TVG (neu)- wegen der unterschiedlichen Anforderungen an cüe verfassungsrechtliche Rechtfer- tigung- als Ausgestaltung oder Beschränkung der Koalitionsfreiheit zu qualifizieren ist. Soweit es um die Ausgestaltung eines funktionsfähigen Tarifvertragssystems geht, kommt dem Gesetzge- ber ein weiter Gestaltungsspielraum zu; geht es demgegenüber um eine Beschränkung des Grund- 7 rechts, so ist eine Rechtfertigung nur unter strengen Voraussetzungen möglich. ' Geht man von einem Eingriff in das Freiheitsrecht aus. so ist in einem weiteren Schritt zu prüfen. ob die Regelung zur Tarifeinheit den§ 4 a TVG (neu)- ggf. unter Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht-verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. 4.1. Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG Das Grundgesetz konkretisiert die Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG mit dem Satz: ,.Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereini- gungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet." Daraus erschließt sich jedoch kaum die tatsächliche Reichweite des Grundrechts. Vielmehr ist zur Bestimmung des Schutzbereiches auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zurückzugreifen. Die Koalitionsfreiheit ist nach dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 GG zunächst einlndividualgrund- recht. Sie gewährleistet insoweit das Recht des Einzelnen zur Gründung einer Koalition, zum 16     Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 12 f. 17     Vgl. dazu LINSENMAIER, Wolfgong. in: Erfurlar Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG Rn. 82 ff.
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Wissens chaftlich e Dienste                Ausarbe itung                                                           Seite9 wo 6- 3000- 254/14 Beitritt zu einer Koalition und zum Verbleib in ihr sowie zu jeder koalitionsspezifischen Betäti- gung innerh alb und außerhalb des jeweiligen Verbandes. 18 Nach der Rechtsprechung des Bundes- arbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts ist der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG da- bei nicht von vornherein auf einen Kernbereich koalitionsgemäßer Betätigung beschränkt, die für die Erreichung des Koalitionszwecks unerlä sslich sind. Er erstreckt sich vielmehr auf alle koaliti- onsspezifischen Verhaltensweisen.111 Der Schutz der individ uellen Koalitionsfreiheit schließt des Weiter en die negative Koalitionsfreiheit ein, also das Recht, aus einer Koalition auszut reten oder Koalitionen generell fernzubleiben. 20 Geschützt ist zum anderen aber auch die Koalition selbst, also ihr Bestand, ihre organisatorische Ausgestaltung und alle ihre Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirt- schaftsbedingungen dienen. 21 Der Schutz erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhal- tenswe isen und umfasst insbesondere die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen einger äumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht. :z Damit ist gerade auch das Recht der Koalitionen geschützt, Tarifverträge abzuschließen. 23 Als Konsequenz können sich die Koalitionen aus eigenem Recht gegen störend e Einflüsse bei ihrer Gründung, organisatorischen Ausgestaltung, Selbstdarstellung und Zweckverfolgung zur Wehr setzen. Aus dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG, wonac h die Koalitionsfreiheit für jedermann und alle Berufe gewährleistet wird, wird im Schrifttum abgeleitet, dass gerade die Berufsgewerkschaft "keine Anomalie, keine Systemabweichung", ist, sondern eine vom Grundgesetz vorgesehene Be- tätigung der Koalitionsfreiheit. Damit sei die Organisation nach dem Berufsverbandsprinzip 24 verfassungsrechtlich in gleicher Weise geschützt wie die Organisation nach dem Industriever- bandsprinzip.25 DIETER!CHS betont die Systemkonformität des Wettbewerbs zwisch en unter- schied lichen Koalitionen im Zusammenhang mit dem Streit um koalitionspolitische Ziele und 16    LINSENMAIER, Wolfgnng. in: Erfurter Komme ntor zum Arbeilsr echt, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG, Rn. 30. 19     BVerfG, Beschluss vom 11. Novemb er 1995, Az.: 1 BvR 601/92: BAG. Beschluss vom 15. Oktober 2013, Az.: 1 ABR 31/12. 20    LJNSENMAIER, Wolfgang, ln: Erfurtcr Komme ntar zum Arbeitsr echt, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG, Rn. 32 mit Verweis auf BVerfG, Urteil vom 14.Juni 1983. Az.: 2 BvR 486/80. 21    BVerfG, Beschlu ss vom 26. Juni 1991, Az.: 1 BvR 779/85: Wn.Ms, Heinrich , in: Hiimme rich/ßoe cken/Oü well. NomosK omment ar Arbeitsr echt, 2. Aufl. 2010, Art. 9 GG. Rn. 53: LINSENMAJER, Wolfgang, ln: Erfurter Kommen- tor zum Arbeitsr echt, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG, Rn. 39 mit weiteren Nachwe isen. 22     BAG, Beschlu ss vom 27. Jnnunr 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 78 mit weiteren Nachwe isen. 23    BVerfG, Urteil vom 16. Novemb er 1954, Az.: 1 BvR 629/52, Rn. 24. 24    Dt FA&O, Udo, Gesetzlich auferleg te Tarifein heit als Verfassu ngsprob lem. Juli 2.014, S. 30 f. 25    GREII'I'ER, Stefan, Der Regelun gsvorsch lag von DGB und BOA zur Tarifein heit. ln: NZA 2010, S. 743-745 (744) mil Verweis auf l.OWJSCH; Man!Ted I RIEBLE, Volker, in: Löwisch /Rieble, Torifvertrugsgcsclz, 3. Aufl. 2.012, § 4 Rn. 139.
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Wisse nschn filich e Diens te                Ausar beitun g                                                           Seite 10 wo 6- 3000 - 254/1 4 Strategien. Die Verfassung gehe davo n aus, dass sich die Konflikte zwischen den Koalitionspar- 26 teien autonom regeln lassen, und zwar .,durch Wettbewerb und Vertrag". Das Grun drec ht der Koalitionsfreiheit enth ält nich t nur die subjektiven Freiheitsrechte, sond ern darü ber hina us auch ein objektives Ordnungsprinzip, dessen gesellschaftspolitischer Ansp ruch über den Grundsatz der gesellschaftlichen Selbstorganisation hinausweist. Wie weit dieses Ord-   27 nung sprin zip geeignet ist, den Inha lt der Freiheitsrechte selbst zu begrenzen, ist im Schrifttum umstritten (siehe dazu unte n Punk t 4.3.1 .2, S. 21 f.). Das Bundesverfassungsgericht weis t zwar ebenfalls auf die institutionelle Bedeutung der Koalitionsfreiheit für die Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens hin, beto nt aber stets dere n indiv idue llen Gehalt. 4.2.    Eingriff in den Schutzbereich 4.2.1 .        Eingriff oder bloße Ausgestaltung? Fraglich ist, ob der in § 4a TVG (neu) vorgesehene Grundsatz der Tarifeinheit eine n Eingriff in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG darstellt. Für die Beantwortung ist entsc heid end, ob die vorgesehene Tarifeinheit als bloße Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit oder als dere n Beschränkung anzu sehe n ist. Sieh t man mit eine r im Schrifttum vertretenen Auffassung die Funktion der Koalitionsfreiheit allei n darin , die ,,strukturelle Unterlegenheit" der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern durc h die Zusammenfassung von Marktmacht bei der Aush andl ung von Arbeitsbedingungen zu überwinden, dann erfüllt sie keinen Selbstzweck, sondern dien t lediglich als ,.Mittel zu eine r 28 sinn volle n Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens" und ist nur ,.auf die effiziente Wahr- 29 nehm ung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen im Verbund gerichtet" • Ein so verstan-         30 dene s Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedürfte trotz Fehlen eines ausd rück liche n Gesetzesvor- behalts eine r einfachgesetzlichen Ausgestaltung durc h den Gesetzgeber. In diese m Sinn e formu- liert auch die Bundesregierung in Ihrem Gesetzentwurf: ,.Der Gesetzgeber schafft mit dem Tarif- vertragsrecht eine n gesetzlichen Rahmen, inne rhalb dessen die Koalitionen die Arbeits- und 31 Wirtschaftsbedingungen der Arbe itneh meri nnen und Arbeitnehmer sinnvoll ordn en könn                              en," 26     DtETERICH, Thom as, Geset zliche Tarife inhell als Verfa ssung sprob lom. ln: AuR 2011, Ausga be 2, S. 46-51 (46 f.). 27     SCHO LZ, Ruper l, in: Maun z/Dür ig. Grund gesetz -Kom menta r, 72. EL 2014, Art. 9 GG, Rn. 164. 28     Vgl. GtESEN, Richlll'd, Tarife inheit im Betrieb, in: NZA 2009, 11-16 (16 ff.): HROMADKA, Wolfgong, Entw urf eines Geset zes zur Regelung der Tarifk ollisio n, in: NZA 2008, S. 364-391 (380 ff.). 29     HROMADKA, Woifgang, Wied erher stellu ng der Tarif einhe it-Di eQua dratu r des Dreie cks. In: NZA 2014, 8.110 5· 1111 (1106). 30     GtESEN, Richa rd. Tarife inheit und Verfassung. In: ZfA 2011, S. 1-44 (39). 31     Bund esrats druck sache 635/1 4 vom 29. Dezem ber 2014, S. 1; ähnli ch LINSEN!I.~AIER, Wolfgang, in: Erfurt er Kom- menta r zum Arbei tsrech t, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG, Rn. 42.
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