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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Themenkorridor 2 Wirklichkeit im Kontext von Sprache, Literatur und Medien – Individuum im Spannungsfeld zwischen Ideal und Wirklichkeit unter besonderer Berücksichtigung von Erzählformen am Beispiel „Frau Jenny Treibel“ von Theodor Fontane Aufgabenart: Literarischer Text - erörternd eA Theodor Fontane L’Adultera (1880) Auszug aus dem 15. Kapitel 5 10 15 Zur Information: Seit zehn Jahren lebt Melanie de Caparoux, die einer Adelsfamilie der französischen Schweiz entstammt, mit dem ungleich 1 älteren Kommerzienrat van der Straaten, den sie als Siebzehnjährige geheiratet hat, in einer Durchschnittsehe zusammen. Sie verliebt sich in 2 den jungen Frankfurter Patriziersohn Ebenezer Rubehn. Die vorliegende Szene spielt sich in der Nacht ab, die Melanie und Rubehn für ihre gemeinsame Flucht nach Italien gewählt haben. Keiner sprach. Endlich aber trat Christel [Anm.: das Dienstmädchen der Van Straatens] von hinten her an ihre junge Herrin heran und sagte: »Jott, liebe, jnädige Frau, muß es denn... Bleiben Sie doch. Ich bin ja bloß solche alte, dumme Person. Aber die Dummen sind oft gar nicht so dumm. Und ich sag' Ihnen, meine liebe Jnädigste, Sie jlauben jar nich, woran sich der Mensch alles jewöhnen kann. Jott, der Mensch jewöhnt sich an alles. Und wenn man reich ist und hat so viel, da kann man auch viel aushalten. Un vor mir wollt' ich woll einstehn. Un wie jeht es denn? Un wie leben denn die Menschen? In jedes Haus is 'n Gespenst, sagen sie jetzt, un das 1 Kommerzienrat ist ein Ehrentitel, der im Deutschen Reich, vor allem bis 1919, an Persönlichkeiten der Wirtschaft verliehen wurde. 2 Als Patrizier bezeichnete man Angehörige der Oberschicht der Gesellschaft bis in die Moderne. Seite 1 von 7 Text
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Berufliches Gymnasium 20 Zentralabitur Deutsch 2013 is so'ne neumodsche Redensart! Aber wahr is es. Und in manches Haus sind zweie, un rumoren, daß man's bei hellen, lichten Dage hören kann. Un so war es auch bei Vernezobres. Ich bin ja nu fufzig, und dreiundzwanzig hier. Und sieben vorher bei Vernezobres. Un war auch Kommerzienrat un alles ebenso. Das heißt, beinah.« »Und wie war es denn?« lächelte Melanie. 25 30 35 40 45 »Jott, wie war es? Wie's immer is. Sie war dreißig, un er war fufzig. Un sie war sehr hübsch. Drall und blond, sagten die Leute. Na, un er? Ich will jar nich sagen, was die Leute von ihm alles gesagt haben. Aber viel Jutes war es nich... Un natürlich, da war ja denn auch ein Baumeister, das heißt eigentlich kein richtiger Baumeister, bloß einer, der immer Brücken baut vor Eisenbahnen un so, un immer mit 'n Gitter un schräge Löcher, wo man durchkucken kann. […] »Und trennten sie sich? Oder blieben sie zusammen? Ich meine die Vernezobres«, fragte Melanie, die mit halber Aufmerksamkeit zugehört hatte. »Natürlich blieben sie. Mal hört' ich, weil ich nebenan war, daß er sagte: ›Hulda, das geht nicht.‹ Denn sie hieß wirklich Hulda. Und er wollt' ihr Vorwürfe machen. Aber da kam er ihr jrade recht. Un sie drehte den Spieß um un sagte: ›was er nur wolle? Sie wolle fort. Un sie liebe ihn, das heißt den andern, un ihn liebe sie nicht. Un sie dächte gar nicht dran, ihn zu lieben. Und es wär' eijentlich bloß zum Lachen.‹ Und so ging es weiter, und sie lachte wirklich. Un ich sag' Ihnen, da wurd' er wie 'n Ohrwurm und sagte bloß: ›sie sollte sich's doch überlegen.‹ Un so kam es denn auch, un als Ende Mai war, da kam ja der Vernezobresche Doktor, so 'n richtiger, 3 der alles janz genau wußte, der sagte, ›sie müßte nach 's Bad ‹, wovon ich aber den Namen immer vergesse, weil da der Wellenschlag am stärksten ist. Un das war ja nu damals, als sie jrade die große Hängebrücke bauten, un die Leute sagten, er könnt' es alles am besten ausrechnen. Un was unser Kommerzienrat war, der kam immer bloß sonnabends. Un die Woche hatte sie frei. Un als Ende August war, oder so, da kam sie wieder un war ganz frisch un munter un hatte or'ntlich rote 4 Backen un kajolierte ihn. Und von ihm war gar keine Rede mehr.« Melanie hatte, während Christel sprach, ein paar Holzscheite auf die 50 3 zur Kur 4 kajolieren: schmeicheln, liebkosen Seite 2 von 7 Text
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Kohlen geworfen, so daß es wieder prasselte, und sagte: »Du meinst es gut. Aber so geht es nicht. Ich bin doch anders. Und wenn ich's nicht bin, so bild' ich es mir wenigstens ein.« 55 »Jott«, sagte Christel, »en bißchen anders is es immer. Un sie war auch bloß von Neu-Cölln ans Wasser, un die Singuhr immer jrade gegenüber. Aber die war nich schuld mit ›Üb immer Treu und Redlichkeit‹.« »Ach, meine gute Christel, Treu und Redlichkeit! Danach drängt es jeden, jeden, der nicht ganz schlecht ist. Aber weißt du, man kann auch treu sein, wenn man untreu ist. Treuer als in der Treue.« 60 65 70 75 80 »Jott, liebe gnädigste, sagen Se doch so was nich. Ich versteh' es eigentlich nich. Un das muß ich Ihnen sagen, wenn einer so was sagt, un ich versteh' es nicht, denn is es immer schlimm. Un Sie sagen, Sie sind anders. Ja, das is schon richtig, un wenn es auch nich janz richtig is, so is es doch halb richtig. Un was die Hauptsache is, das is, meine liebe Jnädigste, die hat eijentlich das liebe kleine Herz auf 'n rechten Fleck, un is immer für Helfen und Geben, un immer für die armen Leute. Un was die Vernezobern war, na, die putzte sich bloß un war immer vor'n Stehspiegel, der alles noch hübscher machte, und sah aus wie 's Modejournal und war eijentlich dumm. Wie 'n Haubenstock, sagten die Leute. Un war auch nich so was Vornehmes wie meine liebe Jnädigste, un bloß aus 'ne Färberei, türkischrot. Aber das muß ich Ihnen sagen, Ihrer is doch auch anders, als der Vernezobern ihrer war, un hat sich gar nich, un red't immer freiweg, un kann keinen was abschlagen. Un zu Weihnachten immer alles doppelt.« Melanie nickte. »Nu, sehen Sie, meine liebe Jnädigste, das is hübsch, daß Sie mir zunicken, un wenn Sie mir immer wieder zunicken, dann kann es auch alles noch wieder werden, un wir packen alles wieder aus, un Sie legen sich ins Bett un schlafen bis an 'n hellen lichten Tag. Un Klocker zwölfe bring' ich Ihnen Ihren Kaffee un Ihre Schokolade, alles gleich auf ein Brett, un wenn ich Ihnen dann erzähle, daß wir hier gesessen, und was wir alles gesprochen haben, dann is es Ihnen wie 'n Traum. (894 Wörter) Seite 3 von 7 Text
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Textvorlage Theodor Fontane: L'Adultera. Novelle. Hrsg. von Gabriele Radecke. Berlin 1998. Die Rechtschreibung folgt der Textvorlage. Erlaubte Hilfsmittel: Rechtschreiblexikon Auswahl- und Lesezeit: 20 Minuten Arbeitszeit: 5 Zeitstunden Aufgabenstellung: 1. Fassen Sie die Geschichte von der Familie Vernezobre in eigenen Worten zusammen. 2. Erläutern Sie, vor dem Hintergrund der literarischen Epoche, welches Bild das Dienstmädchen von der bürgerlichen Ehe zeichnet. 3. Erörtern Sie, ob Corinna in Frau Jenny Treibel der Argumentation des Dienstmädchens zustimmen würde. Seite 4 von 7 Aufgabenstellung
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Unterrichtliche Voraussetzungen In der 11. Jahrgangsstufe werden Analyse und Interpretation von literarischen Texten, aber auch Techniken der Erörterung eingeführt, die dann auch Bestandteil des Unterrichts in der Qualifizierungsphase bleiben, z.B. bei der Erarbeitung des Themenkorridors „Wirklichkeit im Kontext von Sprache, Literatur und Medien“. Im Rahmen dieses Korridors wird auch der Roman „Frau Jenny Treibel“ erarbeitet, so dass die inhaltlichen Kenntnisse gegeben sind. Lehrplan- und EPA-Bezug – erwartete Schülerleistung – Anforderungsbereiche Aufgabe 1: Fassen Sie die Geschichte von der Familie Vernezobre in eigenen Worten zusammen. Die Schülerinnen und Schüler fassen die vom Dienstmädchen erzählte Geschichte zusammen, indem sie die wichtigsten Punkte herausarbeiten und Details weglassen. Es wird erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler die zentralen Aussagen des vorliegenden Textes erkennen und inhaltlich richtig wiedergeben. Die Geschichte des Dienstmädchens hat die Intention, ihre Herrin von ihrem Plan abzuhalten, mit ihrem Liebhaber durchzubrennen. Daher betont Christel die Oberflächlichkeit ihrer ehemaligen Dienstherrin, die auf einem Kuraufenthalt anscheinend einsieht, dass die Aufrechterhaltung ihrer Ehe letztlich der Trennung vorzuziehen sei. Am Ende will Christel Melanie dazu bringen, ebenfalls bei ihrem Ehemann zu bleiben und ihre Pläne als „Traum“ zu betrachten. Die Schülerinnen und Schüler beachten die Regeln und den Aufbau einer Inhaltsangabe. Sie organisieren Ihren Schreibprozess unter Beachtung der formalen Regeln. Anforderungsbereich I Seite 5 von 7 Erwartungshorizont
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Aufgabe 2: Erläutern Sie, vor dem Hintergrund der literarischen Epoche, welches Bild das Dienstmädchen von der bürgerlichen Ehe zeichnet. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten die Strukturen der untersuchenden Analyse an literarischen Texten (Lehrplan Deutsch Berufliches Gymnasium, S. 27). Die Schülerinnen und Schüler erläutern das Gesellschaftsbild und Wertvorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, insbesondere die bürgerliche Ehevorstellung und die Stellung der Frau in dieser Zeit. Das Dienstmädchen versucht Melanie zu überzeugen, den Wert der Ehe über ihre Liebe zu Rubehn zu stellen. Anforderungsbereiche I und II Aufgabe 3: Erörtern Sie, ob Corinna in Frau Jenny Treibel der Argumentation des Dienstmädchens zustimmen würde. Die Schülerinnen und Schüler ziehen begründete Schlüsse aus den Ergebnissen einer Texterschließung (hier des Korridortextes) und urteilen eigenständig (Lehrplan Deutsch Berufliches Gymnasium, S. 29). Es wird erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler ausgewählte Aussagen des Dienstmädchens zu denen der Corinna in Jenny Treibel in Beziehung setzen. In diesem Zusammenhang weisen sie grundlegende Kenntnisse über die Romanhandlung nach. Dabei soll Corinna als Angehörige des Bildungsbürgertums bestimmt werden. Corinna ist zwar eine charakterstarke und zielstrebige Persönlichkeit, strebt aber auch keine Liebesheirat an, sondern sieht die Ehe in erster Linie als Versorgungsinstrument und als Möglichkeit, ihren eigenen materiellen und gesellschaftlichen Status aufzuwerten. Anforderungsbereiche II und III Seite 6 von 7 Erwartungshorizont
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Berufliches Gymnasium Zentralabitur Deutsch 2013 Bewertungskriterien für die Noten „gut“ und „ausreichend“ Die Note „gut“ verlangt - bei Schwerpunktsetzungen - die differenzierte und kompetente Erfüllung des Erwartungshorizonts, ohne jedoch auf Vollständigkeit im Detail zu drängen. Differenzierungsmöglichkeiten ergeben sich u.a. bei der Darstellung der Figur der Corinna, die zwar klare Ansprüche formuliert, aber letztlich doch den Ehevorstellungen des Bürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert verhaftet bleibt. Die sprachlich- stilistische Gestaltung der Arbeit muss flüssig, korrekt sowie verständlich und der Aufbau klar gegliedert sein. Für die Note „ausreichend“ sind die oben beschriebenen Ausführungen weniger diversifiziert und die Figur der Corinna wird nicht vollständig in ihrer Widersprüchlichkeit dargestellt. Die Gedankengänge sollen nachvollziehbar entwickelt und verständlich formuliert sein. Der Aufbau muss erkennbar geordnet, der Stil verständlich und die sprachliche Gestaltung muss weitgehend fehlerfrei sein. Seite 7 von 7 Erwartungshorizont
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