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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Interne Weisungen & Dokumente zum Umgang mit Rassismus

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RECHTSEXTREMISMUS — das betrifft mein Kind? RECHTSEXTREMISMUS Ratgeber für Eltern Warum diese Broschüre? [Einleitung] 1
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Impressum Thüringer Beratungsdienst für Eltern, Kinder und Jugendliche – Ausstieg aus Rechtsextremismus und Gewalt Postadresse: Schleidenstraße 19 07745 Jena Telefon:   0 36 41 / 29 90 74 Telefax:   0 36 41 / 35 78 06 Email:     info@ausstieg-aus-gewalt.de Internet:  www.ausstieg-aus-gewalt.de Redaktion: Sebastian Jende, Susann Juch, Stefan Junge , Anne Fischer, Sophia Linhart Gestaltung: SevenLives – Agentur für Kommunikation und Design, Jena Druck: S-Druck Regensburg Jena, 2011
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VORWORT                                                                     stehen, erscheint es angeraten, dass diese Auseinandersetzung durch profes- sionelle Hilfe unterstützt wird. Dafür ist zu prüfen, ob, welche Form und unter Wenn Kinder und Jugendliche in die rechtsextreme Szene geraten, sind vor        welchen Bedingungen professionelle Hilfe verfügbar ist. allem die betroffenen Familien häufig ratlos und überfordert, auch weil sie sich allerlei Fragen stellen: Wie konnte das passieren? Konnten wir das nicht       Für die professionellen Helfer gilt es, die Ressourcen der Betroffenen zu verhindern? Mit welchen Konsequenzen sind wir nun konfrontiert? Hinzu           ermitteln und zu stärken, Potenziale zur Unterstützung zu erkennen und zu kommt, dass von außen Fragen nach Schuld und Verantwortung an die Fami-         aktivieren sowie die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Thema lien, den Freundeskreis und pädagogische Einrichtungen gerichtet werden         Rechtsextremismus zu fördern. Dafür ist wichtig, Informationen über rechts- und die Betroffenen weiter verunsichern. Schuldzuweisungen sind in solchen      extreme Organisationen, ihre Ideologien und Handlungsweisen zu vermit- Situationen jedoch nicht hilfreich. Stattdessen ist eine sachliche Auseinander- teln, rechtliche Grundlagen und Verfahrensweisen transparent zu machen setzung mit den jeweiligen Entwicklungen und ihren Bedingungen geboten,         und Beratungs- bzw. Hilfsangebote vorzustellen. Als besonders wirksam hat wozu der Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse beitragen kann.               es sich außerdem erwiesen, Kontakte zu anderen Betroffenen zu vermitteln und vielfältige Möglichkeiten der Unterstützung zu erschließen. Es sollte im Die wissenschaftliche Forschung der letzten Jahre hat u. a. gezeigt, dass       Rahmen dieser Auseinandersetzung vor allem darum gehen, dass die Betrof- -- wir mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen rechtsextremer Orientie-         fenen Angebote zur Reflexion erhalten sowie Handlungsfähigkeit (zurück) rungs- und Handlungsmuster bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen          gewinnen. konfrontiert sind, -- die Ursachen und Bedingungen für die Entwicklung rechtsextremer Affini-           Die vorliegende Broschüre bietet in diesem Zusammenhang Informationen täten komplex und vielfältig sind,                                          und Hilfestellung. Auf der Grundlage langjähriger Erfahrung und fundierter -- Familien durch die Hinwendung eines Mitglieds zur rechtsextremen Szene       Kenntnisse der mit dem Ausstieg aus der rechtsextremen Szene verbundenen stark verunsichert und belastet werden, was sich z. B. in schweren Konflik-  Prozesse greift das Team des Thüringer Beratungsdienstes häufig gestellte ten oder durch den Verlust von Vertrauen zeigen kann,                       Fragen auf und gibt Informationen, die zu einer Auseinandersetzung mit rele- -- inzwischen eine Vielzahl an Präventions- und Interventionsansätzen ent-      vanten Aspekten der rechtsextremen Jugendszene einladen. Auf diese Weise wickelt wurde, um zu verhindern, dass Jugendliche in den Dunstkreis der     gibt die Broschüre Anregungen zur Bewältigung der Herausforderungen, die rechtsextremen Szene geraten bzw. sie aus diesen Kreisen herauszulösen,     mit rechtsextremen Orientierungs- und Handlungsweisen sowie entsprechen- -- erfolgreiche Prävention bzw. Intervention u. a. der professionellen Hilfe,   den Organisationsformen Jugendlicher für betroffene Familien und Fachkräfte der Partizipation der Betroffenen sowie der Kooperation zwischen relevan-   einhergehen und bietet Unterstützung bei den Prozessen des Ausstiegs aus ten Akteuren bedarf.                                                        der rechtsextremen Szene. Wenn Jugendliche in der rechtsextremen Szene eingebunden sind und Angehörige einen Ausweg aus dieser schwierigen Situation suchen, sind           Prof. Dr. Peter Rieker zunächst Informationen über die konkreten Gruppierungen vor Ort und über die spezifischen Bedingungen, die im konkreten Einzelfall zum Engagement         Universität Zürich in der Szene geführt haben, notwendig. Dafür ist es hilfreich, wenn die Ange-   Institut für Erziehungswissenschaft hörigen bereit sind, sich mit den rechtsextremen Angeboten sowie der Frage auseinanderzusetzen, wie diese für den betreffenden Jugendlichen attraktiv werden konnten. Angesichts der Belastungen, unter denen die Betroffenen 4                                                                                                                                                             5
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INHALTSVERZEICHNIS Vorwort - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 4 Inhaltsverzeichnis - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 7 1.  Warum diese Broschüre? [Einleitung] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 8 2.  Warum trifft es gerade uns? [Ursachen] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 11 3.  Wie bekomme ich mein Kind aus der Szene raus? [Lösungsansätze]- - - 15 4.  Was sind das für komische Zeichen? [Zeichen und Symbole] - - - - - - - - - 21 5.  Soll ich meinem Kind diese Jacke kaufen? [Rechtsextreme Kleidung und Marken] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 24 6.  Muss ich diese laute Musik ertragen? [Rechtsextreme Musik] - - - - - - - - 29 7.  Was fasziniert so sehr an dieser Szene? [Erlebniswelt Rechtsextremismus] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 33 8.  Was steckt dahinter? [Geschichtsbild, Ideologie, Strukturen] - - - - - - - - - 37 9.  Mein Kind, ein Schläger? [Gewalt] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 43 10. Was kommt noch auf uns zu? [Strafrechtliche Folgen] - - - - - - - - - - - - - - - 47 11. Was erschwert die Situation zusätzlich? [Problemverstärker] - - - - - - - - - 51 12. Weiterführende Verweise - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 55 6 Warum diese Broschüre? [Einleitung]                                                                                                                                    7
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1. WARUM DIESE BROSCHÜRE?                                                  zeigen, dass diese Zielgruppe besondere Anforderungen an eine effektive, nachhaltige Beratung stellt. Auf diese Erkenntnisse greift der Thüringer Bera- Manchmal finden sich Eltern plötzlich in einer Situation wieder, in der sich    tungsdienst für Eltern, Kinder und Jugendliche – Ausstieg aus Rechtsextremis- ihre Kinder von den eigenen demokratischen Grundeinstellungen entfernen        mus und Gewalt zurück und bietet seit 2009 thüringenweit Hilfe und Unter- und sich von der rechtsextremen Szene angesprochen fühlen. Dabei wird          stützung beim Ausstieg aus Rechtextremismus und Gewalt an. Wir – das Team der schleichende Prozess hinein in die Szene von Eltern häufig nicht bewusst    des Thüringer Beratungsdienstes – sind gleichermaßen Ansprechpartner für wahrgenommen, da mitunter ein „Versteckspiel“ zum Alltag der Jugendli-         Ausstiegswillige und deren Angehörige. 1. chen gehört. Dazu zählen unter anderem das Tragen von Kleidungsstücken                                                                                        1. mit fragwürdigen Aufschriften, Symboliken oder die plötzlich entwickelte           Wir bieten für Ausstiegswillige neben lebensweltorientierter Beratung zur Vorliebe zu besonderen Marken – deren Bedeutung häufig von den Jugend-          persönlichen Situation, Problemen und Ängsten auch konkrete Ausstiegshil- lichen verharmlost wird. Hinzu kommt, dass die Symboliken und Marken so        fen, die vorrangig auf die Integration auf dem Arbeitsmarkt und in ein szene- vielfältig sind und der modischen Schnelllebigkeit unterliegen, dass es für    freies Umfeld abzielen. Hierbei handelt es sich um die Entwicklung individu- Eltern ohne Erfahrung mit der rechtsextremen Szene oftmals schwierig ist, all  eller und selbstbestimmter Lebenspläne sowie die Förderung von schulischen diese Zeichen zu erkennen und entsprechend zu interpretieren. Selbst dann,     und beruflichen Perspektiven. Außerdem unterstützen und begleiten wir die wenn die Symbole gedeutet sind und Gewissheit über die momentane kriti-        Aussteiger ressourcenorientiert bei der Schaffung neuer sozialer Netzwerke. sche Entwicklung des Kindes herrscht, entsteht häufig Ratlosigkeit und die      Diese sind entscheidend für den nachhaltigen Szeneausstieg. Bei Bedrohun- Frage kommt auf: „Was kann ich tun?“ Oftmals müssen Eltern und Angehö-         gen von Ausstiegswilligen durch die rechtsextreme Szene kann schnell ein rige zunächst taten- und chancenlos zusehen, wie ihr Kind ausländerfeindlich   Kontakt zum Landeskriminalamt (LKA) hergestellt werden. oder rassistisch handelt, sich einer gewaltverherrlichenden oder gewalttäti- gen Clique anschließt oder sich sogar strafbar macht.                              Ein weiteres Beratungsangebot richtet sich an Eltern und Angehörige, deren Kinder sich in der rechtsextremen Szene bewegen. Dabei geht es nicht Das Anliegen dieser Broschüre ist es, Eltern von Kindern und Jugendli-     darum zu ergründen, was Sie als Eltern und Angehörige eventuell falsch chen, die sich einer rechtsextremen Clique oder Organisation zuwenden oder     gemacht haben könnten. Vielmehr sollen Sie ermutigt werden, den rechts- bereits zugewendet haben, eine erste Hilfestellung für das Erkennen und den    extremen Kindern bzw. Partnern beim Ausstieg unterstützend zur Seite zu Umgang mit entstehenden Problemen zu bieten. Dabei sind die Inhalte und        stehen. Im Vordergrund steht die Wertschätzung und Stärkung der Eltern- Ratschläge in etwas abgewandelter Form auch auf Angehörige und andere          rolle, die Anerkennung individueller Befindlichkeiten sowie die Abklärung Bezugspersonen übertragbar. Es werden Einblicke in typische, relevante Fra-    von Befürchtungen und Ängsten. Ziel ist es, gemeinsam mit Ihnen praktisch gen im Zusammenhang mit Rechtsextremismus gegeben und Handlungsalter-          umsetzbare Verhaltensmaßnahmen zu erarbeiten, mit denen Sie einen kon- nativen für den weiteren Verlauf aufgezeigt. Dabei greifen wir insbesondere    sequenten und ausstiegsorientierten Umgang mit ihren Kindern pflegen auf unsere Erfahrungen aus der Arbeit mit gewalttätigen und rechtsextremen     können. Kindern und Jugendlichen zurück. Anmerkungen: Der Begriff Rechtsextremismus wird in der aktuellen Diskus- Bereits seit 2004 bietet der Verein Drudel 11 das Thüringer Trainings- und sion problematisiert und unterliegt wie jede Begrifflichkeit Einschränkungen. Bildungsprogramm an, welches ein spezialisiertes vorurteilsreduzierendes       In dieser Broschüre verwenden wir Rechtsextremismus als Arbeitsbegriff und Aggressionsschwellentraining ist. Es richtet sich unter anderem an rechtsex-   Fremdbezeichnung für diese vielschichtige Szene. Inhaltlich beziehen wir uns treme Gewaltstraftäter und bildungsferne Jugendliche. Die Erfahrungen aus      auf die Definition der Autoren des Thüringen-Monitors. Rechtsextremismus diesem Programm bezüglich des Umganges mit rechtsextremen Jugendlichen         ist demnach eine Einstellung, „die folgende Merkmale aufweist: Erstens Extre- 8                                                                                                                                               Einleitung  9
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mismus in dem Sinne, dass grundlegende Werte, Institutionen und ‚Spielre-      2. WARUM TRIFFT ES GERADE UNS? geln‘ des demokratischen Verfassungsstaates abgelehnt werden; zweitens eine prinzipiell diskriminierende Ideologie, nach der in Überlegenheit der „Warum trifft es gerade uns?“ ist eine der am häufigsten von Betroffenen eigenen sozialen Gruppe und Minder- bzw. Unwertigkeit von Nichtangehöri-   gestellten Fragen. Dabei ist die Frage nach dem „Warum“ meist nicht ange- gen dieser Gruppe unterschieden wird sowie drittens ein Streben nach Vor-  messen zu beantworten. Oftmals resultiert die Ursachenforschung direkt in herrschaft der eigenen Gruppe.“ (Thüringen-Monitor 2000, S. 14).           der Frage nach dem eigenen Anteil, also: „Was habe ich falsch gemacht?“ Daran schließen sich oft Scham- und Schuldgefühle der Betroffenen an. Die 1. Obwohl aus Gründen der Lesbarkeit im Text die männliche Form gewählt       innere Auseinandersetzung mit möglichen Einflussfaktoren und Bedingun- wurde, beziehen sich alle Angaben auf Angehörige beider Geschlechter.      gen, die das eigene Kind in die rechtsextreme Szene geführt haben, mag ver- ständlich sein. Die entstehenden Selbstzweifel und Versuche der Ursachen-      2. zuschreibung sind jedoch aus unserer Erfahrung nur selten erleichternd oder hilfreich. Das liegt daran, dass es komplexe Prozesse und ein Zusammenwir- ken verschiedenster Faktoren sind, die einen Einstieg in die rechtsextreme Szene begünstigen. Die Weiterentwicklung in der Szene wird später zu einem eigendynamischen Selbstläufer. Oft tritt die Zuwendung von Jugendlichen zu rechtsextremen Cliquen und Organisationen in der Pubertät auf. In dieser häufig schwierigen Lebens- phase durchlaufen Jugendliche ein aufreibendes, aber normales Wechsel- spiel. Sie sind in der Ablösung vom eigenen Elternhaus und der gleichzeitigen Suche nach Anerkennung, neuen Bezugsgruppen und dem eigenen Platz in der Gesellschaft hin- und hergerissen. Rechtsextreme Gruppen bieten den Jugendlichen, wonach sie sich sehnen: Anerkennung „von außen“ mit weni- gen Bedingungen, Geselligkeit, Unterstützung, Kameradschaft, aber auch Abenteuer und Auflehnung gegen bestehende Strukturen. Einerseits haben die Familie bzw. die Eltern einen prägenden Einfluss auf ihre Kinder. So fördern z. B. ein autoritärer Erziehungsstil, eigene rechtsex- treme Einstellungen etc. die Hinwendung zu rechtsextremen Gruppierun- gen und lassen sie die dort gelebten Normen und Werte als positiv erfahren. Andererseits unterliegen Kinder und Jugendliche vielseitigen außerfamili- ären Einflüssen. Daher erscheint es grundsätzlich unlogisch, die Schuld an der aktuellen Lage den Eltern zuzuweisen. Gefragt sind eine differenzierte Betrachtung der Ursachen sowie eine Teilung der Verantwortlichkeit. Aller- dings werden durch die Suche nach Ursachen nur Faktoren für den Einstieg der Kinder in die rechtsextreme Szene offengelegt. Selten sind die Lösungen hier schon enthalten. Die eigene Verantwortung der Kinder bzw. der Jugend- 10  Einleitung                                                                                                                                         11
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lichen, die sich der Szene angeschlossen haben, ist nicht zu unterschätzen.    Wenn Sie sich noch in der Phase der Unsicherheit darüber befinden, ob Sie es Sie sind die Hauptakteure und haben auch den Großteil der Verantwortung        tatsächlich mit Rechtsextremismus zu tun haben, kann diese Broschüre einen für ihre Handlungsweisen sowie auch optimalerweise für den Ausstieg zu tra-    Beitrag zur Aufklärung leisten (vgl. Kapitel Zeichen und Symbole; Rechtsex- gen. Mit Kind bzw. Jugendlicher sind natürlich nicht nur Jungen bzw. junge     treme Kleidung und Marken; Rechtsextreme Musik). Die Broschüre bietet des Männer gemeint. Auch Mädchen oder Frauen sind in der rechtsextremen            Weiteren Hinweise zum Umgang mit der Thematik Rechtsextremismus im Szene aktiv und mitunter genauso aggressiv. Allerdings wenden sie oftmals      Bezug auf Ihr Kind. subtilere Mittel an und setzen eher auf soziale Ausgrenzung unerwünschter Gegner. Trotz aller Einsichten über die verschiedenen Einflussfaktoren, die     Handlungsempfehlungen – Ursachen auf einen Jugendlichen bei seinem Einstieg in die rechtsextreme Szene ein-     -- Überprüfen Sie zunächst, ob es sich beim Freundeskreis des Kindes tat- 2. wirken, sehen sich Eltern oftmals mit Vorwürfen von außen konfrontiert. Sie        sächlich um eine rechtsextreme Clique oder Organisation handelt. Suchen       2. fühlen sich mit ihrem Problem allein gelassen und finden wenig oder gar             Sie dafür das Gespräch mit Ihrem Kind. keine Unterstützungsangebote.                                                  -- Machen Sie sich keine Schuldvorwürfe. -- Überlegen Sie, was die Ursachen für die Hinwendung zur rechtsextremen Die Erkenntnis, dass sich das eigene Kind möglicherweise in der rechts-        Szene sein könnten. Erwarten Sie aber nicht, dass sich die Probleme allein extremen Szene befindet, stellt den Familienalltag oft auf eine Zerreißprobe.       dadurch lösen werden. Dabei fällt es häufig schwer überhaupt zu entscheiden, ob das Kind einer        -- Suchen Sie die Ursachen nicht nur bei sich selbst. Ihr Kind unterliegt vielen rechtsextremen Clique oder Organisation zugehörig ist. Erschwerend kommt           Einflussfaktoren, die sich außerhalb des elterlichen Haushaltes befinden. hinzu, dass es für Kinder und Jugendliche normal ist, Grenzen auszutesten      -- Suchen Sie sich Hilfe, wenn Sie bemerken, dass sie die aufreibende Situa- und zu rebellieren. Die Pubertät trägt auch dazu bei, dass sich der Kleidungs-     tion nicht allein bewältigen können. stil häufiger ändert und auf Bekleidung mit provokativen Aussagen gesetzt wird. Dadurch werden rassistische, antisemitische, sexistische Äußerungen       Zusammenfassung – Ursachen und damit verbunden der schleichende Einstieg in die rechtsextreme Szene       -- Die Ursachen für die Hinwendung zu rechtsextremen Cliquen oder Orga- anfänglich häufig nicht bewusst wahrgenommen. Meist erkennen die Eltern             nisationen sind vielfältig und komplex. Einfache Ursachenzuschreibungen den Ernst der Lage erst, wenn das eigene Kind durch exzessiven Alkohol-            sind weder möglich noch sinnvoll. konsum, Aggressionen bzw. Gewalttätigkeiten oder Straftaten auffällig wird.    -- Schuld- und Schamgefühle der Eltern sind normale Begleiterscheinungen Gespräche mit dem Kind über seine aktuelle Situation werden in dieser Phase        in kritischen Entwicklungsphasen des Kindes. immer schwieriger. Oft leugnet oder verharmlost das Kind seine Zugehörigkeit   -- Der Einstieg in die rechtsextreme Szene verläuft meist schleichend und zur rechtsextremen Szene oder verweigert komplett die Kommunikation mit            oftmals bleibt er in den Anfangsphasen weitestgehend unbemerkt. den Eltern und anderen näheren Bezugspersonen aus dem familiären Umfeld.       -- Die Grenzen zwischen pubertärem Verhalten und rechtsextremen Hand- Diese Entwicklung scheint typisch zu sein, denn immer wieder berichten uns         lungsweisen sind fließend und erschweren es den Eltern zusätzlich, Klar- Betroffene – Aussteiger wie auch Familienangehörige –, dass relevante Kon-         heit über die aktuelle Entwicklung des Kindes zu erhalten. takte zur Familie und anderen Nahestehenden immer mehr reduziert werden,       -- Eine lösungsorientierte Herangehensweise an die aktuellen Probleme bie- bis letztendlich die rechtsextreme Szene zum alleinigen Bezugspunkt wird.          tet mehr Chancen zur Veränderung der Situation als die reine Suche nach den Ursachen. 12    Ursachen                                                                                                                                    Ursachen    13
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Weiterführende Literatur und Links                                              3. WIE BEKOMME ICH MEIN KIND AUS Mehr Informationen über mögliche Ursachen sowie vorbeugende Maßnah-                 DER SZENE RAUS? men und Hilfestellungen finden Sie bei: Rommelspacher, B. (2006): „Der Hass hat uns geeint“ – Junge Rechtsextreme    „Was kann ich tun, um mein Kind wieder aus der rechtsextremen Szene her- und ihr Ausstieg aus der Szene. Frankfurt a. M./New York: Campus             auszuholen?“ Diese Frage stellen sich die meisten Eltern, wenn sie erkannt haben, dass sich das eigene Kind rechtsextrem orientiert. Die Suche nach Rieker, P. (2009): Rechtsextremismus: Prävention und Intervention. Ein Über- Mitteln und Wegen, sein Kind wieder in vernünftige Bahnen zu lenken ist blick über Ansätze, Befunde und Entwicklungsbedarf. Weinheim/München:        sehr verständlich, nachvollziehbar und wichtig. Juventa 2.                                                                                 Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass es insbesondere für Eltern und www.ausstieg-aus-gewalt.de                                                   nahe Angehörige schwierig ist, einen funktionierenden Ansatzpunkt zu fin- den, um das Kind von der rechtsextremen Szene zu entfernen. Gerade weil         3. die Kinder bzw. Jugendlichen oftmals im pubertierenden Alter sind und sich von den eigenen Eltern eher abgrenzen wollen, ist es für Sie fast unmöglich die Kinder zu erreichen. Viele Eltern suchen zunächst das Gespräch und ver- suchen durch Verbote und Regeln den Alltag des Kindes zu beeinflussen. Die Kritik der Eltern und die Bitte, sich ein anderes Umfeld zu suchen, wer- den meist nicht in dem erhofften Maße angenommen und bringen nicht die erwünschten Erfolge. Führen Sie sich zunächst vor Augen, was Sie den Kin- dern bzw. Jugendlichen zu erklären versuchen: Die Freunde, die er hat, sind nicht gut für ihn. Die Dinge, die ihm momentan so wichtig sind und so großen Spaß machen, soll er nicht mehr tun. Hier wird offensichtlich, dass diese Stra- tegien in der Regel zum Scheitern verurteilt sind. Zudem werden die alltäglichen Gespräche in dieser Phase oftmals zum Kraftakt. Sie münden mitunter in einem gegenseitigen Schlagabtausch der politischen Einstellungen und Weltanschauungen. Es schleicht sich das Gefühl ein, nicht mehr an das Kind heranzukommen. Selbst in Familien, in denen die Beziehung bisher gut funktionierte, wendet sich der Betroffene mitunter ab und lässt sich nichts mehr von der eigenen Familie sagen. Einerseits ist diese Problematik ein normales Phänomen der Pubertät. Andererseits sind diese Verhaltensentwicklungen insbesondere in der rechtsextremen Szene üblich. Kontakte nach außen werden eher eingeschränkt bzw. ganz abgebrochen, bis nur noch der rechtsextreme Freundeskreis Bestand hat. Trotz der ernüchternden Erkenntnisse über die eigenen Möglichkeiten, das Kind tatsächlich dazu zu bewegen, sich einem anderen Freundeskreis zuzu- 14   Ursachen                                                                                                                                             15
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wenden, müssen Sie die Situation nicht gänzlich taten- und wortlos aushalten.   Ihres Kindes führen – es würde wahrscheinlich eher eine Verteidigungshal- Aus unserer Erfahrung können Sie durchaus dazu beitragen, dass das Zusam-       tung einnehmen. Zudem kann es für Ihr Kind demütigend sein, wenn es sich menleben trotz der bedenklichen Lage erträglich bleibt und dass insbeson-       vor seinen Freunden bloß stellen lassen muss und mit Problemen konfrontiert dere der Kontakt und die Gespräche nicht abreißen. Die Beziehung zu den         wird. Generell ist Gewalt – gleichgültig ob verbaler oder körperlicher Art – Eltern und nahen Angehörigen wird vor allem dann relevant, wenn sich der        in der Erziehung abzulehnen. Denn Gewalterfahrungen wirken meist sogar Jugendliche dazu entscheidet, sich von den rechtsextremen Kreisen zu tren-      problemverstärkend, z. B. fördern sie Misstrauen, Selbstzweifel, Isolation und nen. Da die Kontakte zur nicht-rechtsextremen Außenwelt über die Zeit deut-     zerstörerische Tendenzen. lich geschrumpft bzw. zum Teil ganz erloschen sind, wird die Familie dann wieder zum Ankerpunkt für den Start in ein neues Leben. Wenn das Kind               Hilfreicher ist es, sich in die Lebenswelt des Kindes hineinzuversetzen. bereit ist, aus der rechtsextremen Szene auszusteigen, kann es in der Familie   Lassen Sie sich erklären, was so faszinierend an der rechtsextremen Szene einen neutralen Raum finden, um sich aus den alten Strukturen zurückzuzie-       ist (vgl. Kapitel Erlebniswelt Rechtsextremismus). Darauf aufbauend können 3. hen. In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, dass das Zuhause ein Ort       Sie zusammen auch sinnvolle andere Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung         3. ohne Bezug zum Rechtsextremismus ist und bleibt.                                überlegen. In diesem Zusammenhang ist es auch günstig, den Umgang mit Medien zu thematisieren und Ihrem Kind Medienkompetenz zu vermitteln. Daher sollten Sie zu Hause klare Grenzen ziehen und Ihre Position in Bezug  Damit ist einerseits die Kenntnis der angemessenen Handhabung und Nut- auf das Thema Rechtsextremismus offenlegen. Verbannen Sie nach Möglich-         zung von Medien gemeint. Andererseits geht es darum, sich in der vielseiti- keit die gesamte rechtsextreme „Dekoration“ aus ihrem Haus. Damit gemeint       gen Medienwelt zu orientieren sowie eine kritische Distanz zu den gesehenen sind alle Plakate, Bilder, Fahnen etc. (vgl. Kapitel Zeichen und Symbole). Aber oder gehörten Beiträgen einzunehmen, um so politische oder kommerzielle auch das Hören lauter einschlägiger Musik (vgl. Kapitel Rechtsextreme Musik)    Interessen zu erkennen. Die Online-Plattform „Schau hin“ (www.schau-hin. und den Anblick von Kleidungsstücken rechtsextremer Marken, möglicher-          info) bietet Ihnen Informationen und Unterstützung in Bezug auf das Thema weise noch mit entsprechenden Aufdrucken, müssen Sie in Ihren vier Wän-         Medienkompetenz. den nicht dulden (vgl. Kapitel Rechtsextreme Kleidung und Marken). Schon im Hinblick auf die mögliche strafrechtliche Relevanz bestimmter Utensilien         Denken Sie auch daran, dass auch nicht alle Probleme sofort gelöst wer- (vgl. Kapitel Strafrechtliche Folgen) sollten Sie hier konsequent sein.         den müssen. Allein das Besprechen der Problemsituation bricht manchmal das Eis und Ihr Kind fühlt sich von Ihnen ernst genommen. Achten Sie darauf, Dafür sollten Sie früh das klärende Gespräch suchen und die Regeln des      dass Sie nicht zu sehr kritisieren und nur noch die schlechten Seiten an ihrem gemeinsamen Zusammenlebens absprechen. Beachten Sie dabei, dass Sie             Kind sehen. Dadurch können Sie sich in ein Wechselbad der Gefühle stürzen: selbst auch fair bleiben und nur Forderungen stellen, die Sie auch durchset-    zwischen der Zuneigung und uneingeschränkten Liebe zum Kind und der zen und kontrollieren können. Sprechen Sie dabei offen mit Ihrem Kind über      gleichzeitigen Ablehnung der aktuellen Lebensweise. Ihre Bedürfnisse und erklären Sie, warum Sie diese Regeln aufstellen. Ihr Kind muss genau verstehen was Sie meinen, damit es im Nachhinein Regel-             Vergessen Sie nicht, Ihrem Kind auch in Krisenzeiten Anerkennung für verstöße nicht mit Ausreden oder Missverständnissen rechtfertigen kann.         Erfolge zuzusprechen und es auch für kleine Fortschritte zu loben. Bekommt Nehmen Sie das Verhalten und die Aussagen Ihres Kindes ernst. Sicherlich        Ihr Kind nur noch Ärger wegen seiner Lebensweise und erfährt es keiner- fällt es nicht immer leicht, Problemgespräche zu führen. Versuchen Sie es       lei Wertschätzung mehr zu Hause, ist die feste Verankerung in der rechts- als normal zu betrachten, dass Meinungsverschiedenheiten entstehen. Kehrt       extremen Szene fast schon vorprogrammiert – denn hier bekommt es die man Probleme jedoch unter den Teppich, lösen sie sich selten von allein.        gewünschte Aufmerksamkeit und Bestätigung. Wichtig dabei ist noch, dass Sie die Gespräche nicht im Beisein von Freunden 16    Lösungsansätze                                                                                                                         Lösungsansätze  17
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Unsere Beratungserfahrung zeigt, dass es für Eltern und Angehörige extrem       Handlungsempfehlungen/Zusammenfassung – Lösungsstrategien belastend ist, die Situation allein auszuhalten. Meist müssen sie sich auf eine -- Bleiben Sie Ansprechpartner für Ihr Kind. längerfristige Auseinandersetzung mit dem Thema einstellen. Oftmals stehen      -- Ziehen Sie klare Grenzen und stellen Sie Regeln auf. Eltern unter enormem Stress, insbesondere wenn sie versuchen, mögliche          -- Diskutieren Sie fair, lösungsorientiert und ohne Demütigung. negative Konsequenzen von ihren Kindern fernzuhalten. Dadurch nehmen sie        -- Versuchen Sie nicht Ihr Kind vor allen negativen Konsequenzen zu bewah- ihnen jedoch die Verantwortung für ihr eigenes Handeln ab und erreichen             ren – dieses Unterfangen ist ohnehin aussichtslos. häufig noch eine Verschärfung der Situation. Niemand kann von Ihnen ver-         -- Auch wenn Ihr Hilfsangebot abgelehnt wird, halten Sie es weiterhin langen, all diese Probleme allein zu lösen und sich dabei selbst nicht zu ver-      aufrecht. gessen. Auch mit einem starken Leidensdruck, Ohnmachtsempfinden und              -- Nehmen Sie sich auch Zeit für Ihre eigenen Bedürfnisse. Trauer um den Weg, den das Kind eingeschlagen hat, sind Sie nicht allein.       -- Holen Sie sich Hilfe, wenn Sie bemerken, dass Ihnen die Situation über Daher gilt: Verantwortungsbewusste Eltern holen sich Hilfe! Suchen Sie sich         den Kopf wächst. 3. eine Vertrauensperson bzw. jemanden, der Ihnen mit Rat und Tat zur Seite                                                                                     3. steht. Der Thüringer Beratungsdienst steht Ihnen dafür einerseits als kompe-    Weiterführende Literatur und Links tenter Partner zur Seite, der mit Ihnen Strategien entwickelt, wie Sie mit der  Rommelspacher, B. (2006): „Der Hass hat uns geeint“ – Junge Rechtsextreme aktuellen Situation umgehen können. Andererseits ist der Beratungsdienst        und ihr Ausstieg aus der Szene. Frankfurt a. M./New York: Campus auch für Sie da, wenn es darum geht, sich um Ihr Wohlbefinden zu kümmern und Ihnen psychologischen Beistand zu bieten.                                   Mehr Informationen über mögliche Lösungsansätze finden Sie bei: www.ausstieg-aus-gewalt.de Informationen zum Thema Medienkompetenz erhalten Sie auf der Plattform „Schau hin“ – eine Initiative des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: www.schau-hin.info 18   Lösungsansätze                                                                                                                        Lösungsansätze 19
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