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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Unterlagen zu Corona vor dem 26.01.2020

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AKTUELLE DATEN UND INFORMATIONEN ZU INFEKTIONSKRANKHEITEN UND PUBLIC HEALTH 2 Epidemiologisches 2020 Bulletin 9. Januar 2020 Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern-Mumps- Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung
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Epidemiologisches Bulletin 2 | 2020 9. Januar 2020 2 Inhalt Mitteilung der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut: Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern- Mumps-Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung 3 Die Empfehlungen zur Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) aufgrund einer beruflichen Tätigkeit werden in einer Empfehlung zur beruflich indizierten Impfung zusammengefasst und in Bezug auf Indikationsgruppen unter Berücksichtigung der vorliegenden Evidenz angeglichen. Bei der beruflichen Varizellen-Impfempfehlung gleicht die STIKO die Tätigkeitsbereiche für die Indikation zur 2-maligen Vari- zellen-Impfung von seronegativen Personen denen der beruflichen MMR-Impfempfehlung an. Ein verbes- serter Impfschutz unterstützt die Ziele der Impfempfehlungen der STIKO, das Auftreten impfpräventabler Erkrankungen, insbesondere auch das Auftreten von Fällen mit Komplikationen zu senken und kann zudem eine hilfreiche Maßnahme darstellen, die Elimination der Masern in Deutschland zu erreichen. Aktuelle Statistik meldepflichtiger Infektionskrankheiten 23 Informationen des RKI zur Häufung von Pneumonien unklarer Ursache in Wuhan, China 26 Zur aktuellen Situation bei ARE/Influenza in der 51 – 1. KW 2019/2020 26 Impressum Herausgeber Robert Koch-Institut Nordufer 20, 13353 Berlin Telefon 030 18754 – 0 Redaktion Dr. med. Jamela Seedat Telefon: 030 18754 – 23 24 E-Mail: SeedatJ@rki.de Redaktionsassistenz: Francesca Smolinski Telefon: 030 18754 – 24 55 E-Mail: EpiBull@rki.de Claudia Paape, Judith Petschelt (Vertretung) Allgmeine Hinweise/Nachdruck Die Ausgaben ab 1996 stehen im Internet zur Verfügung: www.rki.de/epidbull Inhalte externer Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung des Robert Koch-Instituts wider. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. ISSN 2569-5266 Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
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Epidemiologisches Bulletin 2 | 2020 9. Januar 2020 3 Mitteilung der Ständigen Impfkommission beim RKI Empfehlung und wissenschaftliche Begründung für die Angleichung der beruflich indizierten Masern-Mumps- Röteln-(MMR-) und Varizellen-Impfung Aktualisierte Empfehlung A: Beruflich indizierte MMR-Impfempfehlung Die Ständige Impfkommission (STIKO) harmoni- siert ihre Empfehlungen zur beruflichen Indikation der Masern-, Mumps- und Röteln-Impfungen. Die Empfehlungen zur Impfung gegen die 3 Erreger aufgrund einer beruflichen Tätigkeit werden nun- mehr in einer Empfehlung zur beruflich indizierten Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) zusammengefasst und in Bezug auf die Indikations- gruppen unter Berücksichtigung der vorliegenden Evidenz angeglichen. Die MMR-Impfung ist dem- nach für nach 1970 geborene Personen (einschließ- lich Auszubildende, PraktikantInnen, Studierende und ehrenamtlich Tätige) in folgenden beruflichen Tätigkeitsbereichen indiziert: Medizinische Einrichtungen (gemäß § 23 Absatz * 3 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ) inklusive Einrichtungen sonstiger humanmedizinischer Heilberufe** ▶▶ Tätigkeiten mit Kontakt zu potenziell infektiö- sem Material ▶▶ Einrichtungen der Pflege (gemäß § 71 SGB XI)*** ▶▶ Gemeinschaftseinrichtungen (gemäß § 33 IfSG)**** ▶▶ Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unter- bringung von Asylbewerbern, Ausreisepflichti- gen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern (gemäß § 36 Absatz 1 Nummer 4 IfSG) ▶▶ Fach-, Berufs- und Hochschulen ▶▶ * ** *** **** Die Impfung soll mit einem MMR-Kombinations- impfstoff durchgeführt werden. Personen ohne frü- here Lebendimpfung gegen MMR oder mit unkla- rem Impfstatus sollen zweimal im Abstand von mindestens 4 Wochen geimpft werden; Personen, die bisher nur einmal gegen Masern, Mumps oder Röteln geimpft worden sind, sollen eine zusätzliche MMR-Impfung im Abstand von mindestens 4 Wo- chen zur vorangegangen Impfung erhalten. Ziel ist, dass für jede Impfstoffkomponente (M–M–R) mindestens eine 2-malige Impfung dokumentiert ist. Die Anzahl der notwendigen Impfstoffdosen richtet sich nach der Komponente mit den bisher am wenigsten dokumentierten Impfungen. Eine Ausnahme gilt jedoch bei der Röteln-Impfung von Männern. Für einen ausreichenden Impfschutz ge- gen Röteln reicht eine 1-malige Impfstoffdosis aus. Für Männer ist für die Masern- und Mumps-Impf- stoffkomponente eine 2-malige Impfung und für die Röteln-Komponente eine 1-malige Impfung er- forderlich. Es existieren keine Sicherheitsbedenken gegen weitere MMR-Impfung(en) bei bestehender Immunität gegen eine der Komponenten. Medizinische Einrichtungen (gemäß § 23 (3)) sind Krankenhäuser, Einrichtungen für ambulantes Operieren, Vorsorge- oder Rehabilitations- einrichtungen, in denen eine den Krankenhäusern vergleichbare medizinische Versorgung erfolgt, Dialyseeinrichtungen, Tageskliniken, Entbindungseinrichtungen, Behandlungs- oder Versorgungseinrichtungen, die mit einer der zuvor genannten Einrichtungen vergleichbar sind, Arztpraxen, Zahnarztpraxen, Praxen sonstiger humanmedizinischer Heilberufe**, Einrichtungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, in denen medizinische Untersuchungen, Präventionsmaßnahmen oder ambulante Behandlungen durchgeführt werden, und ambulante Pflegedienste, die ambulante Intensivpflege in Einrichtungen, Wohngruppen oder sonstigen gemeinschaftlichen Wohnformen erbringen. Der Begriff „Heilberufe“ findet sich in Art. 74 (1) Nr. 19 Grundgesetz. Hier wird auch das Heilgewerbe aufgeführt (www.gesetze-im-internet.de/ gg/art_74.html), das Heilpraktiker mit umfasst. Unter dem Begriff „Heilberufe“ wird eine Reihe von Berufsfeldern in der stationären und ambulanten Betreuung spezifiziert (www.bundestag.de/resource/blob/418610/198af9fae0d559572b69be74e301d0b9/wd-9-100-15-pdf-data.pdf). In § 71 des elften Sozialgesetzbuches (SGB XI) sind die ambulanten und stationären Pflegeinrichtungen definiert. Gemeinschaftseinrichtungen (gemäß § 33 IfSG) sind Einrichtungen, in denen überwiegend Säuglinge, Kinder oder Jugendliche betreut werden, insbesondere Kinderkrippen, Kindergärten, Kindertagesstätten, Kinderhorte, Schulen oder sonstige Ausbildungseinrichtungen, Heime, Ferienlager und ähnliche Einrichtungen.
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Epidemiologisches Bulletin 2 | 2020 9. Januar 2020 4 B: Beruflich indizierte Varizellen-Impfempfehlung Bei der beruflichen Varizellen-Impfempfehlung gleicht die STIKO die Tätigkeitsbereiche für die In- dikation zur 2-maligen Varizellen-Impfung von sero- negativen Personen (einschließlich Auszubildende, PraktikantIinnen, Studierende und ehrenamtlich Tä- tige) denen der beruflichen MMR-Impfempfehlung wie folgt an: ▶▶ Tätigkeiten mit Kontakt zu potenziell infektiö- sem Material ▶▶ Einrichtungen der Pflege (gemäß § 71 SGB XI)*** ▶▶ Gemeinschaftseinrichtungen (gemäß § 33 IfSG)**** ▶▶ Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unter- bringung von Asylbewerbern, Ausreisepflichti- gen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern (gemäß § 36 Absatz 1 Nummer 4 IfSG) ▶▶ Medizinische Einrichtungen (gemäß § 23 Absatz 3 Satz 1 IfSG*) inklusive Einrichtungen sonstiger humanmedizinischer Heilberufe** Aktualisierte STIKO Empfehlungen zu den beruflich indizierten Impfungen gegen Masern, Mumps, Röteln und gegen Varizellen Geänderte Tabelle 2 der STIKO-Empfehlungen mit den vorgesehenen Änderungen Impfung Kate- gegen gorie B Masern, Mumps, Röteln (MMR) B Varizellen Indikation Anmerkungen (Packungsbeilage/Fachinformation beachten) Nach 1970 geborene Personen (einschließlich Auszubildende, Insgesamt 2-malige Impfung mit einem MMR-Impfstoff (bei PraktikantInnen, Studierende und ehrenamtlich Tätige) in gleichzeitiger Indikation zur Varizellen-Impfung ggf. folgenden Tätigkeitsbereichen: MMRV-Kombinationsimpfstoff verwenden). ▶ Medizinische Einrichtungen (gemäß § 23 (3) Satz 1 IfSG) inklusive Einrichtungen sonstiger humanmedizini- scher Heilberufe ▶ Tätigkeiten mit Kontakt zu potenziell infektiösem Material ▶ Einrichtungen der Pflege (gemäß § 71 SGB XI) ▶ Gemeinschaftseinrichtungen (gemäß § 33 IfSG) ▶ Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern ▶ Fach-, Berufs- und Hochschulen Die Anzahl der notwendigen Impfstoffdosen richtet sich nach der Komponente mit den wenigsten dokumentierten Impfungen. Seronegative Personen (einschließlich Auszubildende, PraktikantInnen, Studierende und ehrenamtlich Tätige) in folgenden Tätigkeitsbereichen: Insgesamt 2-malige Impfung (bei gleichzeitiger Indikation zur MMR-Impfung ggf. MMRV-Kombinationsimpfstoff verwenden) ▶ Medizinische Einrichtungen (gemäß § 23 (3) Satz 1 IfSG) inklusive Einrichtungen sonstiger humanmedizinischer Heilberufe ▶ Tätigkeiten mit Kontakt zu potenziell infektiösem Material ▶ Einrichtungen der Pflege (gemäß § 71 SGB XI) ▶ Gemeinschaftseinrichtungen (gemäß § 33 IfSG) ▶ Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, Ausreisepflichtigen, Flüchtlingen und Spätaussiedlern Bei Frauen ist für jede der drei Impfstoffkomponenten (M–M–R) eine 2-malige Impfung erforderlich. Bei Männern ist für die Masern- und Mumps-Impfstoffkom- ponente eine 2-malige Impfung erforderlich. Zum Schutz gegen Röteln reicht eine 1-malige Impfung aus. Es existieren keine Sicherheitsbedenken gegen weitere MMR-Impfung(en) bei bestehender Immunität gegen eine der Komponenten.
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Epidemiologisches Bulletin 2 | 2020 9. Januar 2020 5 1. Wissenschaftliche Begründung 1.1 Hintergrund Bereits seit mehreren Jahren sind in Deutschland zur Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) keine Einzelimpfstoffe oder Zweifach-Kombina- tionsimpfstoffe mehr verfügbar. Bei Impflücken muss, unabhängig von der jeweiligen Indikation, der MMR-Kombinationsimpfstoff verwendet wer- 1 den. Hintergrund ist, dass die STIKO seit mehr als 25 Jahren die Impfung gegen alle drei Erreger emp- fiehlt. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) propagiert seit Jahrzehnten weltweit die Einführung zumindest der Masern- und Röteln-Impfung in alle nationalen Impfprogramme, so dass für Einzelimpf- stoffe nur noch selten eine Indikation besteht. Zusätzlich wurde der PatientInnenschutz in Kran- kenhäusern und anderen medizinischen Einrich- tungen nach Novellierung des Infektionsschutzge- setzes (IfSG) 20112 und Inkrafttreten des Präven- 3,4 tionsgesetzes 2015 noch einmal gestärkt. Nach § 23 Abs. 3 IfSG sind die Leiter von medizinischen Ein- richtungen verpflichtet, sicherzustellen, dass alle notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um nosokomiale Infektionen zu verhüten und die Wei- terverbreitung von Krankheitserregern in ihren In- stitutionen zu verhindern.2 Soweit es zur Erfüllung von Verpflichtungen aus § 23 Abs. 3 IfSG in Bezug auf Krankheiten, die durch Schutzimpfungen ver- hütet werden können, erforderlich ist, darf der Ar- beitgeber gemäß § 23a IfSG personenbezogene Da- ten eines Beschäftigten über dessen Impf- und Serostatus erheben, verarbeiten oder nutzen. Im Zuge der neuen Gesetzgebungen wurde der STIKO nahegelegt, die Empfehlungen zur beruflich indi- zierten Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln vor dem Hintergrund der aktuellen Epidemiologie und Impfstoff-Verfügbarkeit erneut zu evaluieren und ggf. Empfehlungen zu vereinheitlichen. Eine Vereinheitlichung soll zu mehr Klarheit und leich- teren Umsetzung der Empfehlungen im klinischen Alltag beitragen. Da insbesondere der Impfschutz gegen Masern bei Personal in medizinischen Einrichtungen aufgrund der hohen Ansteckungsfähigkeit und möglichen Kontakten zu vulnerablen PatientInnen optimal sein muss, wurde darüber hinaus geprüft, ob eine beruf- lich indizierte 2-malige MMR-Impfung Vorteile ge- genüber der 1-maligen Impfung hat. Im Zuge der Überarbeitung sollte ebenfalls geprüft werden, ob die Indikationsgruppen der beruflichen Varizellen-Impf- empfehlung denen der beruflichen MMR-Impfemp- fehlung, soweit angebracht, angeglichen werden kön- nen. Hintergrund hierfür ist, dass i) die Berufsgrup- pen, die von der bisherigen Varizellen-Impfempfeh- lung erfasst werden, denen der Empfehlungen zu den Masern-, Mumps- und Röteln-Impfungen bei berufli- cher Indikation ähnlich sind, ii) die Übertragungsrisi- ken in den betrachteten Settings vergleichbar sind und iii) Kombinationsimpfstoffe gegen alle 4 Erreger zur Verfügung stehen. 1.2 Epidemiologie und Komplikationen der zu verhütenden Erkrankungen Bei Masern, Mumps, Röteln und Varizellen handelt es sich zum Teil um hoch ansteckende Infektions- krankheiten. Für alle Erreger gilt, dass neben dem direkten und indirekten PatientInnenkontakt be- reits bei Aufenthalt in der Nähe des Erkrankten eine Infektionsgefahr durch Tröpfchen oder Tröpfchen- kerne besteht. Masern gehören zu den ansteckendsten Infektions- krankheiten beim Menschen überhaupt. Sie werden in der Regel durch das Einatmen infektiöser Tröpf- chen oder seltener aerogen über Tröpfchenkerne (Sprechen, Husten, Niesen) sowie durch Kontakt mit infektiösen Sekreten aus Nase oder Rachen 5–9 übertragen. Masern-Viren wurden noch nach 2 Stunden in der Luft eines Raumes nachgewiesen, in dem sich ein an Masern Erkrankter aufgehalten hatte. Ansteckungen von Personen, die sich in den gleichen Räumen aufgehalten hatten wie ein an Ma- sern Erkrankter, ohne dass ein direkter Kontakt stattgefunden hatte, wurden beschrieben. Ein direkter Kontakt ist also nicht für die Übertragung der Ma- sern erforderlich.6,7,10 Infolge des hohen Kontagiosi- täts- und Manifestationsindex erkranken faktisch alle nicht-immunen Menschen nach Exposition. Die höchste Kontagiosität besteht bereits in der Prodro-
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Epidemiologisches Bulletin 2 | 2020 9. Januar 2020 malphase mit unspezifischen, katarrhalischen Sym- ptomen, wie Fieber, Schnupfen, Tracheobronchitis und Konjunktivitis. Das charakteristische makulo- papulöse Masern-Exanthem der Haut entsteht am 2. – 4. Tag nach Auftreten der initialen Symptome. Nach überwundener Erkrankung hinterlässt die In- fektion in der Regel eine lebenslange Immunität. Masern induzieren post infectionem für 12 Monate oder länger eine Einschränkung der Funktion des Immunsystems (z. B. Depletion von präexistenten Gedächtniszellen), die für andere Infektionskrank- heiten prädisponiert.11–14 In den 1950er und 1960er Jahren (d. h. vor Einfüh- rung der Impfung) starben in der Bundesrepublik jedes Jahr zwischen 50 und 470 Menschen an Ma- sern.15 Insbesondere bei Kindern unter 5 Jahren und bei Erwachsenen können Masern zum Teil zu schweren Komplikationen führen. Zu den häufigen Komplikationen einer akuten Masern-Erkrankung in Industriestaaten gehören eine Otitis media (7 % – 9 %), die bakterielle Pneumonie (1 % – 6 %) so- wie Durchfälle (8 %). In einem von 1.000 – 2.000 Fällen tritt im weiteren Verlauf der Infektion eine akute oder eine postinfektiöse Enzephalitis auf.16,17 Eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Spätfolge der Masern ist die subakute sklerosierende Pan- enzephalitits (SSPE). Diese wird nach WHO-Anga- ben bei 4 – 11 von 100.000 Masern-Fällen beobachtet und tritt durchschnittlich etwa 7 Jahre nach einer 18–20 akuten Masern-Infektion auf. Kinder haben ein deutlich höheres Risiko. So wurde das Risiko, eine SSPE zu entwickeln, für Kinder, die im Alter < 5 Jah- ren an Masern erkrankten, auf 30 – 60 von 100.000 Masern-Fällen, für Kinder, die im ersten Lebensjahr erkranken, sogar auf rund 170 von 100.000 Masern- Fällen geschätzt.18,19 In Ländern mit einem hohen Einkommen liegt die Letalität der Masern-Erkran- kung zwischen 0,01 % und 0,1 %.17,21,22 Personen mit einer primären oder sekundären Immundefizienz oder Immunsuppression haben ein besonders ho- hes Risiko, schwere Organkomplikationen, wie zum Beispiel eine progrediente Riesenzellpneumonie oder die Masern-Einschlusskörper-Enzephalitis (MIBE) zu entwickeln und/oder an den Masern zu versterben.5 Erkenntnisse aus kontrollierten Stu- dien im Rahmen von Masern-Ausbrüchen deuten darauf hin, dass schwangere Frauen ein erhöhtes Risiko haben, Komplikationen durch Masern zu er- 6 leiden. Masern können während der Schwanger- schaft mit einer erhöhten Abortrate und Frühge- burtlichkeit assoziiert sein; sie führen jedoch nicht 23–25 zu Fehlbildungen beim Kind. Im Jahr 2018 wur- den an das Robert Koch-Institut (RKI) 543 Masern- Fälle übermittelt. Für das Jahr 2019 gingen bis De- zember 2019 Daten von 516 Masern-Fällen ein (Stand: 6.1.2020). In der Bevölkerung sind von den Masern weiterhin insbesondere 0- bis 5-jährige Kin- der, Jugendliche und jüngere Erwachsene betroffen. Der Mensch ist der einzige bekannte natürliche Wirt für das Röteln-Virus. Röteln-Viren sind moderat in- fektiös. Die Übertragung erfolgt durch infektiöse Tröpfchen über den Respirationstrakt. Eine Übertra- gung ist 7 Tage vor bis 7 Tage nach Auftreten des Ex- anthems möglich. Eine Infektion nach der Geburt (postnatale Röteln) führt zu einem üblicherweise leichten Krankheitsbild. Bis zu 50 % der Infektionen verlaufen, besonders bei Kindern, asymptomatisch. Komplikationen wie Arthralgien und Arthritiden werden selten, eine Enzephalitis sehr selten beob- achtet. Das Virus kann in der Schwangerschaft je- doch über die Plazenta auf das ungeborene Kind übertragen werden. In der Frühschwangerschaft kann es zu schweren Schädigungen und Fehlbil- dungen der ungeborenen Kinder (kongenitales Rö- teln-Syndrom) und/oder zu Fehl-, Tot- oder Frühge- burten kommen. Während der ersten 10 Schwanger- schaftswochen liegt die Gefahr einer Schädigung des ungeborenen Kindes nach einer Röteln-Infekti- on der Mutter bei bis zu 90 %.26 Röteln hinterlassen in der Regel eine lebenslange Immunität. Die An- zahl der an das RKI übermittelten Röteln-Fälle geht seit 2016 (n = 94 Fälle) kontinuierlich zurück. Im Jahr 2018 gingen am RKI, unter Berücksichtigung der WHO-Falldefinition mit eingeschlossenen klini- schen Fällen, Daten von 58 Röteln-Fällen (2017: n = 74) aus 11 Bundesländern ein. Dies entspricht einer Inzidenz von 0,7 Fällen pro 1 Mio. Einwohner (2017: 0,9 pro 1 Mio. Einwohner). Die Inzidenz liegt damit im Bereich der von der WHO angestrebten Indikatorinzidenz von unter 1 Fall pro 1 Mio. Ein- wohner. Eine Transmission der Röteln findet höchst- wahrscheinlich nur noch selten in Deutschland statt. Nur 28 % der übermittelten Fälle waren aller- dings labordiagnostisch bestätigt worden (2017: 18 %). Da einige andere Infektionen eine ähnliche Symptomatik erzeugen, ist damit zu rechnen, dass
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Epidemiologisches Bulletin 2 | 2020 9. Januar 2020 7 bei diesen Fällen häufig keine akute Röteln-Infekti- on vorlag. Eine Untererfassung oder Fehldiagnostik von Röteln ist aufgrund der unspezifischen Symp- tomatik möglich. mittelt. Für das Jahr 2018 waren es 534 Mumps-Er- 32 krankungen. Die bundesweite Inzidenz betrug im Jahr 2018 0,6/100.000 Einwohner. 75 % der Mumps Erkrankten war ≥ 15 Jahre alt. Mumps ist eine ansteckende Erkrankung, die typi- scherweise zu einer Entzündung der Speicheldrüs- en führt und am häufigsten die Glandulae parotideae betrifft. Die Übertragung erfolgt vor allem durch in- fektiöse Tröpfchen oder aerogen durch Tröpfchen- kerne und direkten Speichelkontakt, seltener durch mit Speichel kontaminierte Gegenstände. Auf Ober- flächen und Gegenständen bleiben Mumps-Viren wenige Stunden infektiös. Die Kontagiosität ist 2 Tage vor Erkrankungsbeginn bis 4 Tage danach am größten. Nach der Erkrankung besteht eine jah- relange bis lebenslange Immunität.27 Reinfektionen 28 kommen vor, sind aber selten. Eine Mumps-Er- krankung kann durch die Beteiligung verschiedener Organsysteme kompliziert werden, deren Auftreten mit steigendem Alter häufiger werden. Dazu ge- hören Orchitis (15 % – 30 %), Mastitis (30 %), Oopho- ritis (5 %), aseptische Meningitis (1 % – 10 %), En- zephalitis (< 1 %) sowie Schwerhörigkeit bis hin zu Taubheit (4 %).27 Als Komplikationen der Mumps- Virusinfektion können zusätzlich eine Pankreatitis (4 %), Nephritis, Arthritis oder eine Anämie auftre- ten. Mumps während der Schwangerschaft ist nicht mit einer erhöhten Rate an kongenitalen Fehlbil- dungen assoziiert. Literaturberichte aus den 1960er Jahren, die auf eine erhöhte Abortrate infolge einer Mumps-Virusinfektion während des ersten Trimes- ters hinweisen, haben sich unter Berücksichtigung aktueller Daten nicht bestätigt. 29 Daten zur Mumps-Epidemiologie weisen darauf hin, dass nach Einführung der Impfung zum Schutz vor Mumps eine Verschiebung in höhere Erkrankungs- alter stattgefunden hat. Als Ursache für diese Al- tersverschiebung, die man auch in anderen Ländern beobachtet, ist am ehesten ein über die Zeit abneh- mender Impfschutz, die mangelnde Boosterung durch weniger zirkulierende Wildviren und/oder eine Diskrepanz zwischen den zirkulierenden Ge- notypen und dem im Impfstoff enthalten Geno- 30,31 typ A verantwortlich. Demnach sind auch nach vollständiger Grundimmunisierung mit 2 Impf- stoffdosen Mumps-Erkrankungen möglich. Seit Einführung der Meldepflicht im Jahr 2013 wurden zwischen 530 und 840 Erkrankungen jährlich über- Varizellen (Windpocken) werden durch die Erst- infektion mit dem Varizella-Zoster-Virus (VZV) ver- ursacht, das zur Familie der Herpesviren gehört. Va- rizellen sind durch ein charakteristisches Exanthem an Haut oder Schleimhaut gekennzeichnet, das schubweise über die Stadien „makulös“, „papulös“, „vesikulär“ verläuft. Nach etwa 7 Tagen bilden sich Krusten, die später abfallen. Typischerweise finden sich frische und ältere Effloreszenzen sowie einge- trocknete Bläschen nebeneinander. Die Erkrankung ist hochansteckend; das Virus wird hauptsächlich aerogen durch virushaltige Tröpfchenkerne aus dem Respirationstrakt oder aus Pustelflüssigkeit so- wie, wesentlich weniger effizient, als Schmierinfek- tion übertragen. Die Ansteckungsfähigkeit beginnt 1 – 2 Tage vor Auftreten des Exanthems und dauert bis etwa 5 – 7 Tage danach bis zum Verkrusten der 33,34 Bläschen an. Gegen die Windpocken besteht nach durchgemachter Krankheit in der Regel eine lebenslange Immunität. Reinfektionen kommen vor, sind aber sehr selten. Wie andere Herpesviren (HSV-1 und HSV-2) auch, verbleibt jedoch VZV in Nervenganglien und kann noch nach Jahren reakti- vieren, um dann einen Herpes zoster (Gürtelrose) hervorzurufen. Die Komplikationsrate der Varizel- len ist bei Jugendlichen und Erwachsenen am höchsten.35 Die Komplikationen reichen von bakte- riellen Sekundärinfektionen der Hautläsionen, neu- rologischen sowie gastrointestinalen Komplikatio- nen bis zu Lungenentzündungen. Bei immunkom- promittierten Personen, die an Windpocken erkran- ken, kann es durch die Dissemination des Virus zu schweren, teilweise lebensbedrohlichen Komplika- tionen mit Multiorganbeteiligung kommen. Eine weitere besonders vulnerable Gruppe sind nicht- immune Schwangere, die ein erhöhtes Risiko für 36 einen komplizierten Verlauf der Varizellen haben. Erkranken Schwangere in den ersten 20 Schwan- gerschaftswochen, kann es außerdem bei bis zu 2 % der Kinder zu einem fetalen Varizellen-Syndrom kommen, das durch Fehlbildungen und Anomalien des Zentralen Nervensystems (ZNS) sowie Augen- anomalien charakterisiert ist und mit einer Letalität von etwa 30 % einhergeht.35 Erkrankt eine Mutter in
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Epidemiologisches Bulletin 2 | 2020 9. Januar 2020 8 der Zeit um den Geburtstermin (5 Tage davor bis 2 Tage danach) an Varizellen, konnte sie keine pro- tektiven Antikörper transplazentar auf ihr Kind übertragen. Für dieses besteht ein etwa 30 %iges Risiko, zwischen dem 5. und 10. – 12. Lebenstag an Varizellen zu erkranken. Die neonatalen Varizellen verlaufen ohne postexpositionelle Prophylaxemaß- nahmen in 25 % – 30 % tödlich.37 Auch bei Frühge- borenen mit einer deutlichen immunologischen Unreife gepaart mit geringen mütterlichen Leihan- tikörpern (insbes. bei Geburt vor der 28. SSW) kön- nen Varizellen in den ersten 6 Lebenswochen lebensbedrohlich sein. nen des medizinischen Personals erfolgten bei 91 % durch Übertragungen von PatientInnen und bei 9 % durch andere Beschäftigte. Eine nosokomiale Über- tragung durch medizinisches Personal auf Patient- Innen konnte bei 10,5 % der mit Masern infizierten 39 PatientInnen nachgewiesen werden. Schwere Krank- heitsverläufe nach Masern-Infektion und eine hohe Komplikationsrate aufgrund bestehender Grund- krankheiten sind bei den betroffenen PatientInnen dokumentiert.16,40,42,43,49–57 Besonders gefährdet sind Ri- sikopersonen wie nicht-immune Schwangere, deren Neugeborene, Frühgeborene, und immunsuppri- mierte oder immundefiziente PatientInnen. Ausbrüche in medizinischen Einrichtungen, in Gemeinschaftseinrichtungen und Einrichtungen für Asylsuchende und Geflüchtete In den Jahren 2014 – 2018 wurden dem RKI Daten von insgesamt 430 Masern-Ausbrüchen mit 3.178 Masern-Fällen übermittelt (s. Tab. 1, S. 25). Als Aus- brüche gelten Häufungen von 2 und mehr Fällen. Für rund 21 % dieser Ausbrüche wurde das Umfeld einer medizinischen Einrichtung (wie Praxen oder Kliniken), Betreuungseinrichtungen (wie Kinder- gärten und Schulen oder Wohnstätten), sowie Ein- richtungen für Asylsuchende und Geflüchtete ange- geben. Rund 28 % aller Masern-Fälle traten in die- sen Umfeldern auf. Personal in medizinischen Einrichtungen hat im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ein deutlich hö- heres Risiko, mit Masern oder Mumps in Kontakt zu kommen. Je nach lokaler Situation kann das An- steckungsrisiko für Masern bei medizinischem Per- sonal um ein Mehrfaches erhöht sein: In Studien wurde unter anderem ein 2-, 13- oder 19-fach erhöh- tes Risiko nachgewiesen.38–41 Eine Übertragung von Masern-Viren ist aufgrund der besonders hohen Ansteckungsfähigkeit auch ohne einen direkten Pa- tientInnenkontakt möglich. In den letzten Jahren sind in Europa wie auch in Deutschland wiederholt Masern-Ausbrüche in medizinischen Einrichtun- gen wie Praxen oder Krankenhäusern berichtet wor- den.42–48 Dabei waren infizierte PatientInnen nicht immer die primäre Ansteckungsquelle. Auch mit Masern infiziertes Personal wurde als Auslöser von Masern-Ausbrüchen in medizinischen Institutio- nen identifiziert. Interessanterweise hatte bei einem Ausbruch in einem hessischen Krankenhaus, bei dem 10 MitarbeiterInnen erkrankten, keiner einen direkten Kontakt zu dem behandelten Indexfall.42 Die Kosten dieses Ausbruchs in der Klinik beliefen sich auf rund 700.000 €. Größtenteils waren dafür der Ausschluss nicht immuner MitarbeiterInnen und gesunkene PatientInnenzahlen auch noch wäh- rend der folgenden Wochen verantwortlich.42 Eine Studie aus den USA untersuchte das Auftreten von Masern-Fällen in medizinischen Einrichtungen in den Jahren 1985 – 1989 und stellte fest, dass von 1.209 Masern-Fällen 66 % bei PatientInnen auftra- ten und 28 % bei medizinischem Personal. Infektio- Über nosokomiale Röteln- oder Varizellen-Ausbrü- che wurde bisher international nur vereinzelt be- richtet,58–63, wie auch über nosokomiale Mumps-Aus- 64–66 brüche in Krankenhäusern. In Europa sind in den letzten Jahren keine nosokomialen Mumps- Ausbrüche beschrieben worden.67 Daten von Rö- teln-Ausbrüchen in medizinischen Einrichtungen in Deutschland wurden in den letzten 5 Jahren nicht an das RKI übermittelt. Dagegen sind in den letzten Jahrzehnten national und international mehrere größere Mumps-Ausbrü- che in weiterführenden Schulen und Hochschulen 30,68–70 registriert worden. Hier waren vor allem Ju- gendliche und junge Erwachsene betroffen. Ferner wurden in den letzten 5 Jahren bis auf das Jahr 2018 regelmäßig Röteln-Ausbrüche in Schulen oder Kin- dergärten beschrieben. Ebenso wie Masern und Röteln treten ferner immer wieder Ausbrüche von Varizellen und Mumps in Ge- meinschaftseinrichtungen und Einrichtungen für Asylsuchende und Geflüchtete auf (s. Tab. 1, S. 9).
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Epidemiologisches Bulletin 2 | 2020 9. Januar 2020 Einrichtungen mit beruflicher Impfindikation * Gesamt 9 Medizinische Einrich- tungen Gemeinschaftsein- richtungen Fälle (n) Ausbrü- che (n) Einrichtungen für Asylsuchende und Geflüchtete Ausbrüche (n) Fälle (n) Ausbrüche (n) Fälle (n) Ausbrü- che (n) Fälle (n) Ausbrü- che (n) Fälle (n) Masern 429 3.178 89 (21 %) 893 (28 %) 20 169 22 423 47 301 Röteln 9 24 6 (67 %) 12 (50 %) 0 0 6 12 0 0 Mumps 78 282 12 (15 %) 103 (37 %) 0 0 8 93 4 10 Varizellen 5.638 24.521 1.981 (35 %) 12.893 (53 %) 14 37 1.582 11.088 385 1.768 Gesamt 6.154 28.005 2.088 (34 %) 13.901 (50 %) 34 206 1.618 11.616 436 2.079 Tab. 1 | Am RKI nach Infektionsschutzgesetz (IfSG) dokumentierte Ausbrüche von Masern, Mumps, Röteln und Varizellen im Zeitraum 2014 – 2018 (Umfeld und Fallzahl) Dokumentierte Ausbrüche in medizinischen Einrichtungen (z. B. Praxen oder Kliniken), Gemeinschaftseinrichtungen (z. B. Schulen oder Kindergärten) und Wohnstätten (z. B. Einrichtungen für Asylsuchende und Geflüchtete). * Nicht ausreichend geschütztes Personal kann somit der Ausgangspunkt von Ausbrüchen in einem hoch vulnerablen Umfeld sein und/oder die weitere Transmission in den Einrichtungen begünstigen. Ein optimaler Impfschutz des Personals gegen Ma- sern, Mumps, Röteln und Varizellen, insbesondere bei Kontakt zu den oben genannten Risikogruppen, ist daher dringend geboten. 1.3 Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe 1.3.1 Impfeffektivität und Schutzdauer der MMR(V)-Impfstoffe Online angepasst am 25.3.2020. Verfügbare Impfstoffe In Deutschland sind mehrere MMR- bzw. MMRV- Kombinationsimpfstoffe zugelassen: Priorix und Priorix-Tetra sowie M-M-RVaxPro und ProQuad (siehe www.pei.de/DE/arzneimittel/impfstoffe/ma- sern/masern-node.html). Die Impfstoffe sind ab dem Alter von 9 bzw. 12 oder 13 Monaten zugelassen und haben keine obere Altersgrenze. Die Produkte enthalten attenuierte Lebendviren, die in embryona- len Hühnerzellen oder humanen diploiden Zellen (Fibroblasten) gezüchtet werden. Sie können Spu- ren von Neomycin, teilweise auch Spuren von re- kombinantem Humanalbumin enthalten. Zudem sind in Deutschland auch 2 monovalente Varizel- len-Impfstoffe (Varilix und Varivax) ab dem Alter von 9 Monaten und ohne obere Altersgrenze zuge- lassen. Monovalente Impfstoffe gegen Masern werden nach den Informationen, die dem RKI vorliegen, seit Ende 2017 nicht mehr in Deutschland vertrieben. Bereits seit 2014 waren nur noch wenige Kontingente eines monovalenten Impfstoffs in Deutschland erhältlich. Bis Mitte der 1970er Jahre standen in der damaligen Bundesrepublik Totimpfstoffe gegen Masern zur Verfügung (Fractivac [monovalent] oder Quintovire- lon [DPT-IPV-M]). Diese Impfstoffe induzierten eine unzureichende Immunität, die nicht mit der Wirksamkeit der heutzutage verwendeten Lebend- impfstoffe vergleichbar ist. Auch eine dreifache Impfung mit einem Masern-Totimpfstoff bietet kei- nen lebenslangen Schutz. Personen, die ausschließ- lich mit Masern-Totimpfstoffen geimpft wurden, gelten als ungeimpft und sollten die von der STIKO empfohlene 2-malige Impfung mit einem MMR- Lebendimpfstoff erhalten. Masern Die aktive Impfung bietet einen sicheren Schutz ge- gen die akute Masern-Erkrankung. Die Impfung in- duziert eine humorale wie auch zelluläre Immun- antwort, vergleichbar mit derjenigen nach einer na- türlichen Infektion.5 Unabhängig vom Virusstamm erreichte die 1-malige Impfung in zahlreichen klini- schen Studien, wie z. B. Kohortenstudien, eine Impf- effektivität gegen Masern von mindestens 92 % bei Kindern und Jugendlichen im Alter bis 15 Jahre. Er- gebnisse spezifischer Untersuchungen zur Impfef- fektivität von Lebendimpfstoffen bei Erwachsenen liegen nicht vor. Die Impfeffektivität, sekundäre Er- krankungsfälle unter Haushaltskontakten mit einer
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Epidemiologisches Bulletin 2 | 2020 9. Januar 2020 1-maligen Impfung zu verhindern, wurde ebenfalls 21,71–73 mit 92 % angegeben. Für die zweifache Imp- fung gegen Masern wurde eine mediane Impfeffek- tivität von 95 % – 100 % errechnet. Die Qualität der vorliegenden Evidenz wurde von Seiten der WHO 21,73–78 als hoch eingeschätzt. Unter den pro Jahr ge- meldeten Masern-Fällen waren durchschnittlich 2 % zweimal geimpft. (s. Kapitel Masern in den Infektio- logischen Jahrbüchern der Jahre 2009 – 2018). Die Wirksamkeit einer 2. MMR-Impfung ist abhän- gig von der Immunantwort nach der 1. Impfung. Personen, die auf eine Erstimpfung nicht anspre- chen, erzeugen typischerweise eine primäre Im- munantwort nach der 2. Impfung mit einem signi- fikanten Anstieg des Antikörpertiters und der Pro- duktion von IgM-Antikörpern. Die 2. Impfung er- zeugt also bei fast allen Personen, die nach einer 1. Impfung noch nicht reagiert hatten, eine Immu- nität. Bei Personen mit präexistierenden Antikör- pertitern wird nach der 2. Impfung ein kurzfristiger Anstieg der IgG-Antikörper, seltener jedoch der 5,79 IgM-Antikörper beobachtet. Die 2. Impfung stellt somit keine Boosterimpfung dar und sollte mög- lichst zeitnah im Mindestabstand von 4 Wochen nach der 1. Impfung gegeben werden, falls bisher noch keine Impfungen verabreicht worden sind. Während IgM- und IgA-Antikörper nur vorüberge- hend im Körper zirkulieren, werden IgG-Antikörper noch Jahre nach der Impfung nachgewiesen; sie können jedoch über die Jahre unter die Nachweis- grenze sinken.71,80,81 Die zelluläre Immunität bleibt jedoch bestehen. Es wird weiterhin ein lebenslanger Schutz gegen Masern nach erfolgreicher Impfung 82 mit dem Lebendimpfstoff angenommen. Mumps Alle aktuell in Deutschland zugelassenen Impfstof- fe basieren auf dem Jeryl-Lynn- bzw. dem davon ab- geleiteten RIT-4385-Stamm. Nach einem systemati- schen Cochrane-Review, der 2011 aktualisiert wurde, beträgt die Impfeffektivität zur Verhinderung einer klinischen Mumps-Erkrankung für mindestens eine Dosis eines mit dem Mumps-Stamm Jeryl-Lynn her- gestellten Impfstoffs 69 % – 81 %. Die Effektivität, eine laborbestätigte Mumps-Erkrankung bei Kin- dern und Jugendlichen zu verhindern, wurde mit 64 % – 66 % für die 1-malige und 83 % – 88 % für die 2-malige Impfung angegeben.83 Nach Einführung 10 der Mumps-Impfung ist die Mumps-Inzidenz in Deutschland von > 200 Erkr./100.000 Einw. in der Vorimpfära auf weniger als 1 Erkr./100.000 Einw. zurückgegangen. Im Zuge der Impfeinführung kam es zu einer Altersverschiebung in höhere Al- tersgruppen. Traten früher die Mumps-Erkrankun- gen mehrheitlich im Alter zwischen 5 und 9 Jahren auf, liegt der Altersmedian heute bei über 25 Jah- 30 ren. Die Altersverschiebung und eine mit der Zeit nach Impfung absinkende Impfstoffeffektivität (waning immunity) sind für national und internatio- nal auftretende große und zum Teil lang anhaltende Ausbrüche in Einrichtungen für Jugendliche und 84 junge Erwachsene verantwortlich. Dies war Anlass für die STIKO 2012 eine Impfempfehlung für Be- schäftigte in Ausbildungseinrichtungen für junge 85 Erwachsene auszusprechen. Röteln Ausreichende Daten zur Einschätzung der Impf- effektivität zur Verhinderung einer akuten Röteln- Erkrankung nach den verwendeten Einschlusskrite- 83 rien bezüglich des Studientyps wurden von den Autoren eines Cochrane-Reviews zur Untersuchung der Effektivität der MMR-Impfung bei Kindern 83 nicht gefunden. Die Immunogenität von MMR- Impfstoffen gegen Röteln (teilweise mit dem in Deutschland verimpften RA27/3-Stamm) lag jedoch in klinischen Untersuchungen und Beobachtungs- studien bei Kindern und Erwachsenen bereits nach 26,74 einer 1-maligen Impfung bei 90 % – 100 %. Eine randomisierte kontrollierte Studie aus Taiwan wies eine Wirksamkeit der Röteln-Impfstoffe mit dem RA27/3-Stamm nach einer Impfung von 97 % aus.86 Trotz unterschiedlicher untersuchter Stämme bele- gen die Studien somit eine hohe Effektivität des Rö- teln-Impfstoffs. Die Evidenz zur Sicherheit der Impfstoffe wird von der WHO in einem für das Rö- teln-Positionspapier durchgeführten systematischen 87 Review als ausreichend eingeschätzt. Eine lebens- lange Immunität gegen Röteln ist wahrscheinlich.26 Varizellen Untersuchungen zur Effektivität der Varizellen- Impfung liegen hauptsächlich für Kinder vor; Daten zur Effektivität bei Erwachsenen fehlen bisher. In einem systematischen Review wurde die Effektivität der Varizellen-Impfung nach breiter Anwendung untersucht.88 Eingeschlossen in die Analyse waren
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