WP 7 UA 1
LAN DTAG VON BADEN-WÜRTTEMBERG Drucksache 7 / 1400 7. Wahl periode Bericht und Antrag des Untersuchungsausschusses Sondermülldeponie Süd zu dem Antrag der Fraktion der SPD - Drucksache 7/8 Berichterstatter: Abg. Dr. Volz CDU und Abg. Dr. Precht SPD INHALT Seite Erster Teil: Formalien 5 1. E i n s e t z u n g u n d A u f t r a g d e s U n t e r- s u c h u n g saus s ch u s s es 5 1. Einsetzungsbeschluß 2. Rechtsgrundlage des Verfahrens 3. Mitglieder und Stellvertreter des Untersuchungs- ausschusses 4. Mitarbeiter II. Ab I a u f d e s U n t e r s u c h u n g s v e r f a h r e n s 6 1. Untersuchungshandlungen 2. Rechtsstellung von Staatssekretär Teufel 3. Ausschließungsanträge 4. Vernehmung von Staatssekretär Teufel als Zeuge 5. Vereidigung Zweiter Teil: Feststellung und Würdigung des Sachverhalts 8 1. E n t w i c k I u n g d e s P r o b I e m s d er B e s e i - tigung industrieller Sonderabfälle und Wege zu r L ös ung 8 1. Wachsendes Problem- und Umweltbewußtsein 2. Schaffung der gesetzlichen Grundlagen 3. Aufstellung von Abfallbeseitigungsplänen II. Der Weg zur E n t scheid u n g über den Standort „Sondermü lld eponie Süd" 9 1. Rahmen, Ziel 2· Vorarbeiten, Grundlagen A W ü r d i g u n g d er B e w e i s a u f n a h m e 12 Ausgegeben: 16. 05. 77 1
Landtag von Baden-Württemberg - 7. Wahlperiode Drucksache 7 / 1400 Seite III. Konkretisierung der Standort- vorschläge 12 1. Standort Nord 2. Standort Süd a) Beratungen im Kabinett b) Diskussion mit den Betroffenen B. Würdigung der Beweisaufnahme 16 IV. Entscheidungsphas e für den südlichen Standort 16 !. Inhalt der Nutzwertanalyse 2. Erarbeitung der einzusetzenden Werte 3. Einbindung der Nutzwertanalyse in den Entscheidungs- prozeß 4. Ergebnisse der Nutzwertanalyse C. Würdigung der Beweisaufnahme 20 V. Einbringung der Nutzwertanalyse in den Entscheidungsproze ß 20 Besprechung am 10. Oktober 1974 im Landtagsgebäude D. Wür di gu ng der Beweis aufnahm e 22 VI. Gespräch von Staatssekretär Teufel mit der Gemeinde Tuningen und der Bürgeraktion am 11. Oktober 1974 22 VII. Meinungs ä u ß er u n g aus dem Raum Tuningen / Diskussion in diesem Raum 23 !. Haltung des Kreistags und des Landrats des Schwarzwald-Baar-Kreises 2. Presseberichte/Äußerungen in der Presse 3. Parlamentarische Aktivitäten zu Tuningen E. W ü r d i g u n g d e r B e w e i s a u f n a h m e 26 VIII .• Verlängerter Bocksbartgraben• 26 1. Grund und Inhalt des Prüfungsauftrags 2. Prüfung der • Verlängerung des Bocksbartgrabens" 3. Ergebnis der Prüfung des • Verlängerten Bocksbart- grabens• F. Würdigung der Beweis aufnahm e 31 IX. U m s e t z u n g d e r P r ü f u n g s e r g e b n i s s e in die Kabinetts vor I a g e 31 !. Entstehungsgeschichte der Kabinettsvorlage des EM vom 24. Oktober 1974 2. Behandlung des Entwurfs der Kabinettsvorlage im EM G. Würdigung de r Be wei s aufnahm e 33 2
Landtag von Baden-Württemberg - 7. Wahlperiode Drucksache 7 / 1400 Seite X. Entscheidung über die Kabinettsvorlage im EM und die Beteiligung von Staats- sekretär Teufel daran 33 1. Zur Frage, ob zwischen dem 11. Oktober 1974 und der Endabfassung der Kabinettsvorlage am 24. Oktober 1974 noch weitere Gespräche mit Staatssekretär Teufel stattgefunden haben 2. Beteiligung von Staatssekretär Teufel an der Ent- scheidung über die Kabinettsvorlage im EM 3. Weisung des Ministers, Weisungsgründe H. W ü r d i g u n g de r B e w e i s a u f n a h m e 40 XI. Vorbereitung der Kabinettssitzung am 2 9. 0 k t o b e r 1 9 7 4 d u r c h da s S t a a t s - ministerium 40 XII. B e r a tu n g u n d B e s c h I u ß f a s s u n g d e s M i n i s t e r r a t s a m 2 9. O kt o b e r 1 9 7 4 43 I. Würdigung der Beweisaufnahme XIII. G e s a m t w ü r d i g u ng de r B e w e i s au f n a h m e 44 Dritter Tell: Beschlußlassung und Antrag des Untersuchungsausschusses 46 Vierter Tell: Abweichender Bericht der Abg. Bantle u. a. SPD und Rösch FDP/DVP 47 I. Vorgeschichte der Sonderabfall- beseitigung 47 1. Gesetzliche Grundlagen 2. Aufstellung von Abfallbeseitigungsplänen 3. lndustrieabfallmengenerhebung 4. Standortvorschläge und -diskussion 5. Beratungen der Regierung und des Landtags 6. Information und Diskussion mit Betroffenen Il . Entscheidungsgang 52 1. Entscheidungsstand beim Amtsantritt von Staats- sekretär Teufel im EM am 2. September 1974 2. Entscheidungsgrundlage a) Beschreibung, Anwendungsbereich und Fragen der Wissenschaftlichkeit der Nutzwertanalyse b) Notwendigkeit der Ausweisung einer Sondermüll- deponie ,Süd" c) Stellungnahmen des Schwarzwald-Baar-Kreises u. a. 3. Besprechung am 10. Oktober 1974 im Landtagsgebäude 3
Drucksache 7 / 1400 Landtag von Baden-Württe mberg - 7. Wahlperiode 4. Besuch von Staatssekre tär Teufel am 11. Oktober 1974 in Tuningen 5. Prüfung und Begutachtun g des Standorts "Verlängert er Bocksbartg raben' a) Aussage des Regierungsb audirektors Dunz b) Anderweitig e Aussagen 6. Entstehungs geschichte der Kabinettsvo rlage des EM vom 24. Oktober 1974 III. Feststell ungen und Empfehl ungen der Ab g. B an t I e u. a. SPD 65 1. Zum Entscheidun gsgang (Ziffern 1, 2, und 5 des Ein- setzungsbes chlusses) 2. Zur Beteiligung von Staatssekre tär Teufel (Ziffer 3 des Einsetzungs beschlusses) 3. Zur Frage, ob die zweite Computeran alyse für den Standort "Verlängert er Bocksbartg raben' von den tatsächliche n Gegebenhei ten ausgeht (Ziffer 4 des Einsetzungs beschlusses) 4. Zur Einflußnahm e des Schwarzwal d-Baar-Krei ses auf die Standortent scheidung 5. Gesamtwürd igung IV. Fests teil un gen und Em p f eh 1 ungen des Abg. Rösch FDP / DVP 71 Anlagen: 1. Verzeichnis der schriftlichen Beweisanträ ge und der in Zusammenh ang hiermit gefaßten Beweisbesc hlüsse des Unter- suchungsau sschusses 2. Liste der vernommen en Zeugen 3. Verzeichnis der Beweisbesc hlüsse aufgrund mündlicher Anträge sowie sonstiger Anträge, Beschlüsse und Auskunfts- ersuchen 4. Verzeichnis der zur Beweiserhe bung beigezogene n Akten, schriftlichen Auskünfte und sonstigen Unterlagen 5. Vermerk der Landtagsver waltung vom 22. Juli 1976 zur Frage des .Betroffene n' im Sinne von§ 19 Untersuchun gs- ausschußges etz 6. Stellungnah me der Landtagsver waltung vom 18. November 1976 zur Frage des Anwesenhe itsrechts von Regierungsm it- gliedern, die vor dem Untersuchun gsausschuß als Zeugen vernommen werden sollen 7. Stellungnna hme des Justizminist eriums Baden-Wür ttemberg vom 19. November 1976 zur Frage der en tsprechend en An- wendung des § 58 Abs. 1 StPO in Untersuchun gsausschüss en 4
Landtag von Baden-Württemberg - 7. Wahloeriode Drucksache 7 / 1400 Erster Teil: Formalien I. Einsetzung und' Auftrag des Untersuchungs- aussc huss es 1. Einsetzungsbesch/uß Der 7. Landtag des Landes Baden-Württemberg hat in seiner Sitzung am 15. Juni 1976 auf Antrag der Fraktion der SPD vom 2. Juni 1976 (Drucksache 7/8) bei Stimmenthaltungen beschlossen gemäß Artikel 35 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg einen Untersuchungsausschuß einzusetzen mit dem Auftrag, A. zu untersuchen, 1. aufgrund welcher Unterlagen und Informationen die Landesregie- rung die Entscheidung für den Standort der Sondermülldeponie „Verlängerter Bocksbartgraben" bei Durchhausen und Talheim im Kreis Tuttlingen getroffen und aus welchen Gründen sie sich für diesen Standort entschieden bat; 2. auf welche Art und Weise die Entscheidung der Landesregierung vorbereitet worden ist, insbesondere, ob die Kabinettsvorlage in dieser Sache den Mitgliedern der Landesregierung vollständige und objektive Sachinformationen vermitteln konnte, deren Kennt- nis für die Entscheidung notwendig ist; 3. in welcher Weise Staatssekretär Erwin Teufel an der Entschei- dung des Ministerrats beteiligt war und welchen Einfluß er auf die Gestaltung der Kabinettsvorlage und die vorausgehenden Ent- scheidungen des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Umwelt ausgeübt hat; 4. welche Gründe vorlagen, vom Ergebnis der Nutzwertanalyse ab- zuweichen, die die Landesstelle für Gewässerkunde für die ein- zelnen Standorte durchgeführt hat, und ob die zweite Analyse für den Standort „Verlängerter Bocksbartgraben" von den tatsächli- chen Gegebenheiten ausgeht: 5. ob das Geologische Landesamt in Freiburg den • Verlängerten Bocksbartgraben" vor der Entscheidung der Landesregierung auf seine Eignung als Standort für eine Sondermülldeponie nach wis- senschaftlichen Grundsätzen geologisch und hydrologisch begut- achtet sowie ob und gegebenenfalls welchen Einfluß das Ministe- rium für Ernährung, Landwirtschaft und Umwelt auf die Aussagen des Geologischen Landesamts genommen hat; B. über die Ergebnisse dem Landtag zu berichten. 2. Rechtsgrundlage des Verfahrens Die Einsetzung und das Verfahren des Untersuchungsausschusses richtet sich nach dem Gesetz über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Landtags vom 3. März 1976 (Ges.Bl. S. 194) i. f. abgekürzt: Untersuchungsausschußgesetz. 5
Landtag von Baden-Württembe rg - 7. Wahlperiode Drucksache 7 / 1400 3. Mitglieder und Stellvertreter des Untersuchungsau sschusses Nach den Vorschlägen der Fraktionen wurden vom Landtag am 25. Juni 1976 folgende Mitglieder und Stellvertreter gewählt : Vorsitzender: Dr. Hopmeier Stellvertretende r Vorsitzender: Bantle CDU: SPD: FDP/DVP : Mitglieder: Decker Bantle Rösch Entenmann Beerstecher Dr. Hopmeier Dr. Precht Kimme! Schneider, Erich Dr. Volz (10 Mitglieder) Stellvertreter: Baumhauer Berberich Dr. Schött Jung Kiesecker Ruder Moser, Herbert Dr. Scheuer Schneider, Norbert Wirth 4. Mitarbeiter Dem Untersuchungsau sschuß wurde als Mitarbeiter ORR Breining zugeordnet. II. A b I a u f d e s U n t e r s u c h u n g s v e r f a h r e n s 1. Untersuchungsh andlungen Der Untersuchungsau sschuß trat in öffentlichen und nichtöffentli- chen Sitzungen bis zum 21. März 1977 insgesamt elfmal zusammen. Die Ausschußsitzung en fanden statt am 25. Juni 1976, 6. September 1976, 20. Sepember 1976, 11. Oktober 1976, 18. Oktober 1976, 8. No- vember 1976, 22. November 1976, 6. Dezember 1976, 13. Dezember 1976, 17. Januar 1977 und am 21. März 1977. Aufgrund der als Anlage Nr. 1 beigefügten Beweisbeschlüss e wurden 28 Zeugen (Anlage Nr. 2) vernommen sowie die dort genannten Ak- ten zur Beweisaufnahme beigezogen. Weitere zu Beweiszwecken bei- gezogene Akten, schriftliche Auskünfte und sonstige Unterlagen er- geben sich aus Anlage Nr. 3 und 4. 2. Rechtsstellung von Staatssekretär Teufel Der Ausschuß hat sich in seiner 2. Sitzung am 6. September 1976 mit der Frage befaßt, ob Staatssekretär Teufel in dem Untersuchungsv er- fahren die Rechtsstellung eines Betroffenen im Sinne von § 19 Untersu- chungsausschuß gesetz erhalten müsse. Der Ausschuß war einstimmig der Auffassung, daß Staatssekretär Teufel nicht .Betroffener• im Sinne dieser Vorschrift ist. Im übrigen wird auf den Vermerk der Landtagsverwalt ung vom 22. Juli 1976 zu dieser Frage (Anlage Nr. 5) verwiesen. 6
Landtag von Baden-Württemberg - 7. Wahlperiode Drucksache 7 / 1400 3. Ausschließungsanträge Die Abgeordneten Bantle (SPD) und Beerstecher (SPD) beantragten bei den nachfolgend aufgeführten Beweisaufnahmeterminen, Staats- sekretär Teufel gemäß § 10 Abs. 1 Untersuchungsausschußgesetz von den Beweiserhebungen auszuschließen. Nach dieser Vorschrift kön- nen die Mitglieder der Regierung und ihre Beauftrag1en von den Be- weiserhebungen ausgeschlossen werden, wenn überwiegende Interes- sen eines Zeugen oder Sachverständigen dies gebieten oder wenn es zur Erlangung einer wahrheitsgemäßen Aussage erforderlich er- scheint. Im einzelnen wurden von den Abgeordneten Bantle (SPD) und Beer- stecher (SPD) folgende Ausschließungsanträge gestellt: für die Zeu- genvernehmungen in der 3. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 20. September 1976 bei der Vernehmung der Zeugen Ministerial- dirigent Dr. Bulling vom Staatsministerium und Ministerialrat Dr. Weidenbach vom Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Ver- kehr, in der 4. Sitzung am 11. Oktober 1976 bei der Vernehmung des Zeugen Regierungsbaudirektor Dunz vom Ministerium für Ernäh- rung, Landwirtschaft und Umwelt, für die Zeugenvernehmung in der 6. Sitzung am 8. November 1976 bei den Zeugen Landrat Dr. Köpf, Landrat Dr. Gutknecht, Rechtsanwalt Dr. Birk, Bürgermeister Klein, Frau Gisela Käfer. Diese Ausschließungsanträge wurden vom Unter- suchungsausschuß mehrheitlich abgelehnt. 4. Vernehmung von Staatssekretär Teufel als Zeuge In der 6. Sitzung des Untersuchungsausschusses am 8. November 1976 ist anläßlich des Beweisantrags Nr. 11 (vgl. Anlage Nr.!), in dem u. a. die Vernehmung von Staatssekretär Teufel als Zeuge bean- tragt wird, die Frage aufgetreten, ob Regierungsmitglieder und ihre Beauftragten, die vor dem Untersuchungsausschuß als Zeugen ver- nommen werden sollen, während der Vernehmung anderer Zeugen anwesend sein können. Da diese Frage in der 6. Sitzung nicht ab- schließend geklärt werden konnte, einigte sich der Ausschuß auf fol- gende Verfahrensweise : Der Ausschuß stimmte zunächst dem Beweisantrag Nr. 11 zu und be- schloß zugleich ohne Präjudizierung der Rechtslage mit Rücksicht auf die in der 6. Sitzung noch zu hörenden, von weither angereisten Zeugen, daß Saatssekretär Teufel weiter an der 6. Sitzung des Un- tersuchungsausschusses teilnehmen dürfe und zur Klärung der Rechts- lage bis zur nächsten Sitzung gutachtliche Äußerungen des Justiz- ministeriums und der Landtagsverwaltung einzuholen seien. Die vom Untersuchungsausschuß angeforderten gutachtlichen Äuße- rungen des Justizministeriums und der Landtagsverwaltung kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß Regierungsmitglieder und ihre Beauftragten, deren Vernehmung als Zeugen vor dem Untersu- chungsausschuß beschlossen ist, während der Vernehmung anderer Zeugen grundsätzlich nicht anwesend sein dürfen. Wegen der Be- gründung im einzelnen wird auf die gutachtliche Stellungnahme der Landtagsverwaltung vom 18. November 1976 und des Justizministeri- ums vom 19. November 1976 (Anlagen 6, 7) verwiesen. 5. Vereidigung Der Ausschuß hat in seiner 10. Sitzung am 17. Januar 1977 folgende Zeugen vereidigt: Dr. Birk, Dr. Brünner, Dunz, Dr. Gutknecht, Maier, Mangold, Dr. Sautter, Schwarz, Teufel, Walter. An dieser Sitzung nahm Staatssekretär Teufel nicht als Regierungsmitglied teil. 7
Landtag von Baden-Württemberg - 7. Wahlperiode Drucksache 7 / 1400 Zweiter Tell : Feststellung und Würdigung des Sachverhalts I. Entwicklung des Problems der Beseitigung industrieller Sonder- abfälle und Wege zur Lösung 1. Wachsendes Problem- und Umweltbewußtsein Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre war als Folge des wachsenden Wohlstands eine starke Ausweitung der Hausmüllmengen zu beob- achten. Parallel dazu führte die zunehmende Industrialisierung zu immer größeren Abfallmengen aus der industriellen Produktion. Bei Politikern, Fachleuten und Bürgern setzte sich die Erkenntnis durch, daß die bishe rige Beseitigung von Abfällen aller Art, nämlich ohne große Sicherheitsvorkehrungen auf gemeindeeigene Müllkippen, nicht mehr verantwortet werden konnte. Es wurde der Offentlichkeit bewußt, daß insbesondere die bisherige Beseitigung industrieller Ab- fälle große Risiken für die Gesundheit der Menschen, für Wasser und Lu ft barg. Insbesondere wurde die Offentlichkeit durch den sogenannten hessi- schen GiftmüJlskandal aufgerüttelt. Fur das industriereiche Land Ba- den-Württemberg gab es eine einzige Deponie für Industrieabfälle in Malsch (Rhein-Neckar-Kreis), die seit 1971 privat betrieben wurde. Es war zu befürchten, daß überall im Lande Industriemüll unkontrol- liert auf Kippen lagerte. Die Frage nach der unschädlichen, kontrollierten Beseitigung indu- strieller SonderabfäJle wurde Anfang der 70er Jahre ein Politikum ersten Ranges. Es zeigte sich die dringende Notwendigkeit, ein be- sonderes Entsorgungssystem zu schaffen, um nicht nur den Umwelt- gefahren, sondern auch möglichen Produktionsbeschränkunge n und damit der Gefährdung von Arbeitsplätzen entgegenzuwirken. Ausdruck der besonderen politischen Bedeutung und der Dringlich- keit, die diesem Problem beigemessen wurde, sind u. a. allein sechs Ministerratssitzungen zu dieser Frage vom Oktober 1973 bis Oktober 1974 und zahlreiche parlamentarische Initiativen. Ubereinstimmend wurde auf die vom Industriemüll ausgehenden Gefahren hingewie- sen und dringend die Errichtung geordneter, kontrollierter Beseiti - gungsanlagen gefordert [vgl. Kleine Anfrage des Abg. Frey (CDU) vom 20. Oktober 1971 (Drucksache 5/5624), Große Anfrage der Frak- tion der CDU vom 5. Oktober 1972 (Drucksache 6/690), Antrag der Abg. Dr. Steeb und Gen. (CDU) vom 30. November 1972 (Drucksache 6/1282). Antrag der Abg. Weyrosta und Gen. (SPD) vom 24. Septem- ber 1973 (Drucksache 6/3285) und Antrag der Abg. Schöck und Gen. (CDU) vom 28. September 1973 (Drucksache 6/3345) zu diesem An- trag) . 2. Schaffung der gesetzlichen Grundlagen Durch das LandesabfaJlbeseitigungsge setz (Gesetz über die Beseiti- gung von Abfällen vom 21. Dezember 1971, Ces.BI. 1972, S. 1) und das (Bundes-)AbfaJlbeseitigung sgesetz vom 7. Juni 1972 (BGB!. I, S. 873) wurden die rechtlichen Handhaben für eine geordnete Abfallbeseiti- gung geschaffen. Nach § 6 Abfallbeseitigungsgesetz stellen die Län- der für ihren Bereich Pläne zur Abfallbeseitigung nach überörtlichen Gesichtspunkten auf. In diesen Abfallbeseitigungsplänen sind geeig- nete Standorte [ür die AbfaJibeseitigungsanlagen festzulegen. Dabei sind solche Abfälle, die nach ihrer Art und Menge nicht mit den in Haushaltungen anfaJlend en Abfällen beseitigt werden können (u. a . industrielle Sonderabfälle). besonders zu berücksichtigen. 8
Landtag von Baden-Württemberg - 7. Wahlperiode Drucksache 7 / 1400 3. Aufstellung von Abfallbeseitigungsplänen Mit der Aufstellung von Abfallbeseitigungsplänen beauftragte das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Umwelt (i. f .: EM) im Jahre 1971 und später nochmals im Jahre 1974 die damalige Landes- stelle für Gewässerkunde und wasserwirtschaftliche Planung (i. f.: LfG) in Karlsruhe. Die LfG begann zunächst mit der Aufstellung des Teilplans Haus- müll, in deren Verlauf sie im Benehmen mit anderen fachlich zustän- digen Dienststellen u. a. eine sogenannte Negativkarte erstellte, in der die Flächen dargestellt sind, auf denen grundsätzlich kein Abfall deponiert werden darf. Im Zuge der Planung Hausmüll wurden zirka 1 000 Standortvorschläge, die aufgrund einer Fragebogenaktion von den zuständigen Fachbehörden des Landes erhoben worden waren, überschlägig geprüft, wobei u. a. auch bereits nach Standortvorschlä- gen für Sonderabfalldeponien gefragt wurde. Von den genannten 1 000 Standortvorschlägen erschienen der LfG zirka 150 bis 200 Stand- orte für Hausmülldeponien noch geeignet. Darunter befanden sich auch bereits Standorte, die für eine Sonderabfallagerung geeignet er- scheinen konnten. II. Der Weg zur Entscheidung über den Standort ,Sondermülldepo- nie Süd" 1. Rahmen, Ziel Nach Auffassung der Landesregierung sollte nach der Standortfestle- gung im Norden (Billigheim) im Oktober 1973 ein Standort im südli- chen Bereich gesichert werden: Zeuge Dr. B u II in g (Pro\. III, S. 16/ 17) : .,Hinzu kommt, daß die zweite Sondermülldeponie - ich erin- nere daran, daß der Stufenplan, der damals galt, vorsah, in einer ersten Stufe zwei Deponien zu errichten und in einer zweiten Stufe etwa ab 1980, ab 1985 nochmals zwei Sondermülideponien -, daß die erste Sondermülldeponie, die an sich im Grundsatz beschlossen war, das war die Deponie Nord, hier geht es ja um die Deponie Süd, die Norddeponie in Billigheim, die ein Jahr vorher, im Oktober 1973, im Grundsatz vom Ministerrat be- schlossen wurde, daß in dem einen Jahr bis Oktober 1974 dort praktisch nichts zu bewegen war, weil sich e benfalls der ört- liche Widerstand verstärkt hat, weil die Gemeinde verhindert hat, wenn ich mich recht erinnere, daß damals die notwendigen Bohrunge n gemacht wurden. Man hat also im politischen Raum erkannt, daß es in der Norddeponie praktisch nicht voranging, daß die Ubergangsdeponie Malsch - ich sagte es vorhin - am gleichen Tag, als die Kabinettsentscheidung fiel, geschlossen wurde - das war aber vorher deutlich erkennbar, daß man diese zumachen muß - und daß im Süden im Grunde genommen vor dieser Entscheidung eben auch noch nichts zu bewegen war. Das war der Gesamtrahmen." Zeuge Te u f e 1 (Prot. VII, S. 20): .,Es gab einen Kabinettsauftrag an das Ernährungsministerium, bis Ende Oktober 1974 einen Standort für den Süden vorzuschla- gen. Die Entscheidung vom Frühjahr 1974 für Billigheim hat die Probleme nicht endgültig gelöst, denn in Billigheim war mit er- heblichen Schwierigkeiten und Verzögerungen im weiteren Ver- fahren zu rechnen. Es gab erbitterten örtlichen Widerstand, eine Bürgerinitiative. Es gab Einwendungen, es gab Bedenken eines von der Bürgerinitiative gewählten Geologen. 9
Landtag von Baden-Württemberg - 7. Wahlperiode Drucksache 7 / 1400 Im Herbst 1974 und noch lange Zeit danach war es nach dem Ur- teil von Fachleuten unseres Hauses durchaus offen, ob es nicht notwendig werden würde, dem südlichen Standort erste Priorität einzuräumen, weil das Verfahren in Billigheim langwieriger sein würde und größere Schwierigkeiten machen könnte. Es gab für die Realisierung zwar immer die Priorität: 1. Malsch, 2. Billig- heim, 3. Süd. Es gab aber über Wochen und Monate die Uberle- gung, ob man nicht unter Umständen Süd vorziehen müßte, nachdem man gesehen bat, daß es im Norden außerordentliche Schwierigkeiten für die Realisierung gab. Eine Deponie im Sü- den lag nach dem Urteil der Fachleute unseres Hauses und der Landesanstalt auch im Interesse der Industrie wegen der extre- men Lage des Standortes Billigheim für die südlichen Landes- teile Südwürttemberg und Südbaden.• Als Ziel der Planung für die Sonderabfallbeseitigung im Jahre 1973 kann festgestellt werden, daß das EM beabsichtigte, in einer ersten Ausbaustufe zwei Sondermülldeponien und gleichzeitig je eine Sam- melstelle in Stuttgart (mit Vorbehandlungsanlage) sowie in Mann- heim und Villingen ohne Vorbehandlungsanlage) einzurichten. Eine zweite Ausbaustufe sah später zwei weitere Deponien und eine Ver- brennungsanlage sowie zwei weitere Sammelstellen mit Vorbehand- lungsanlagen vor. Im Endausbau sollten insgesamt 10 Deponien in Baden-Württemberg eingerichtet werden. 2. Vorarbeiten, Grundlagen Als eine wesentliche Vorarbeit für die Entscheidung über die Zahl der Standorte und deren geographische Festlegung ist die Indu- strieabfallmengenerhebung anzusehen: In den Jahren 1971 / 1972 führte die LfG - nach entsprechenden Pro- beerhebungen - eine Industrieabfallmengenerhebung auf freiwilli- ger Basis anhand von Fragebogen bei der einschlägigen Industrie in Baden-Württemberg durch. Die Erhebung erfolgte über die Industrie- und Handelskammern, die die Fragebogen an zirka 10700 Betriebe mit zehn und mehr Beschäftigten versandte. In den Fragebogen wa- ren 52 verschiedene Abfallarten vorgegeben, so daß die Firmen nur die jeweils bei ihnen anfallenden Mengen eintragen mußten. Nach dem Beseitigungspreis wurde bei dieser Erhebung nicht gefragt. Die Anonymität der angeschriebenen Firmen blieb gewahrt; auch wurde vertrauliche Behandlung zugesagt. Bei der Erhebung wurden fol- gende Angaben verlangt: die produktionsbedingt anfallende Abfall- menge 1972, die Abfallmenge 1972, die nach Eigenbeseitigung und .Recycling" verbleibt, und ein Schätzwert der Betriebe zum Zeit- punkt der Erhebung über die entstehende Ablallmenge 1975. Die Auswertung dieser lndustrieabfallmengenerbebung war im Zeit- punkt der Kabinettsentscheidung am 29. Oktober 1974 noch nicht ab- geschlossen. Nach dem damaligen Stand der Auswertung wurde ein Anfall von zirka 203 000 Jahrestonnen deponierbarer Sonderabfälle zugrunde gelegt, davon zirka 127 000 tim Norden und 76 000 t im Sü- den. Der Entwurf des Teilplans .Industrielle Sonderabfälle" vom Oktober 1975 geht demgegenüber von einer Gesamtmenge von 292 100 Jah- restonnen industrie ller Sonderabfälle aus, die auf Deponien unterge- bracht werden müssen. Davon können 123 600 Jahrestonnen ohne Vorbehandlung unmittelbar abgelagert werden. 27 900 Jahrestonnen sind nach Entwässerung und 140 600 Jahrestonnen nach chemischer Vorbehandlung und Entwässerung ablagerbar. 10