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akm Rechtsanwält*innen | Karl-Marx-Str. 172 | 12043 Berlin Dr. Lukas Theune Rechtsanwalt Staatsanwaltschaft Berlin Fachanwalt für Strafrecht Turmstraße 91 10559 Berlin Anschrift Karl-Marx-Str 172 12043 Berlin Per beA (U7, U-Bhf Karl-Marx-Straße) Kontakt Tel 030 23 56 44 36 Fax 030 23 56 45 16 mail kontakt@akm-berlin.de web www.akm-berlin.de In den Ermittlungsverfahren Datum Mein Zeichen Ihr Zeichen Bürozeiten 01.12.2023 879/23/lt 237 Js 3347/23 Mo - Fr 10:00 Uhr - 13:00 Uhr zusätzlich Di & Do ./. Semsrott, Arne 15:00 Uhr - 18:00 Uhr Geschäftszeichen: 237 Js 3347/23 sowie 237 Js 4342/23 akm Rechtsanwält*innen Rechtsgebiete danke ich für die gewährte Akteneinsicht und die Verlängerung der Migrationsrecht Stellungnahmefrist. Sodann nehme ich zu den Vorwürfen gegen mei- Familienrecht Verwaltungsrecht nen Mandanten wie folgt Stellung und beantrage, Sozialrecht Strafrecht Rechtsanwältinnen 1. Anklage zur Staatsschutzkammer bei dem Landgericht Berlin zu und Rechtsanwälte Einar Aufurth erheben Miriam Frieding 2. mit der Anklage gemeinsam mit der Verteidigung zu beantra- Carolin Kaufmann Christine Lüth gen, das Verfahren gemäß Art. 100 GG auszusetzen und § 353d Yaşar Ohle Nr. 3 StGB dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Lukas Theune Hanna Übach Bankverbindung Empfänger: akm Rechtsanwält*innen Begründung: IBAN: DE 02 1203 0000 1052 3578 50 BIC/Swift-Code: BYLADEM1001 Kto: 1052357850 BLZ: 120 300 00 Mein Mandant räumt die gegen ihn erhobenen Vorwürfe in tatsächli- Bank: DKB cher Hinsicht ein. Klarzustellen ist lediglich, dass die Veröffentlichung Steuernummer des Nichteröffnungsbeschlusses des Landgerichts Karlsruhe vom 17. 16/557/01506 Mai 2023 bei FragDenStaat und nicht auf der Internetplattform „links- unten indymedia“ erfolgte (entgegen dem Schreiben der Staatsanwalt- schaft Berlin vom 02. November 2023). Objektiv und subjektiv liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 353d Nr. 3 StGB im Ergebnis vor. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich.
Eine Bestrafung scheidet indes aus verfassungsrechtlichen Gründen aus, weil die Norm verfassungswid- rig ist. § 353d Nr. 3 StGB sieht nach dem Wortlaut und der derzeit herrschenden Auslegung keine Abwä- gung mit der Pressefreiheit im Einzelfall vor. Ein striktes Veröffentlichungs- und Zitierverbot von Doku- menten aus laufenden Strafverfahren greift nach der gefestigten Rechtsprechung des EGMR unzulässig in die Pressefreiheit ein und erschwert ungerechtfertigt die informierte öffentliche Diskussion über hoch relevante Fragen (Urteil des EGMR (2. Kammer) vom 28. Juni 2011 (N° 28439/08 “Pinto Coelho c. Portu- gal”). Die Norm verhindert eine öffentliche Auseinandersetzung gerade mit dem Wortlaut umstrittener gerichtlicher Entscheidungen von besonderem Interesse. Zuletzt hat auch der BGH die Verfassungskon- formität von § 353d Nr. 3 StGB angezweifelt und sich geweigert, sie in einem zivilrechtlichen Verfahren als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB anzuwenden (BGH, Urteil vom 16.05.2023, Az. VI ZR 116/22). Da der Wille des Gesetzgebers und der Wortlaut der Norm einer verfassungskonformen Auslegung ent- gegenstehen, ist das Verfahren auszusetzen und die Norm nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfas- sungsgericht vorzulegen. Im Einzelnen INHALTSVERZEICHNIS 1. Sachverhalt ........................................................................................................................................ 4 a. Angaben zum Beschuldigten .......................................................................................................... 4 b. Verfahrensgegenständliche Veröffentlichungen ........................................................................... 4 c. Ermittlungsmaßnahmen gegen Mitglieder der letzten Generation und öffentliche Debatte dazu 6 d. Ermittlungsmaßnahmen gegen Radio Dreyeckland und öffentliche Debatte ............................... 9 2. Strafbarkeit nach §§ 353d Nr. 3, 53 StGB ........................................................................................ 10 a. Tatbestand ................................................................................................................................... 10 b. Keine Rechtfertigung ................................................................................................................... 11 3. Verfassungswidrigkeit einer strafrechtlichen Sanktion ................................................................... 11 a. Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ......................................................................................... 11 (1) Eingriff in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG.............................................. 11 (2) Fehlende Rechtfertigung ................................................................................................ 12 2
(a) Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot ........................................................................ 12 (b) Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ............................................................................... 14 (1) Legitimer Zweck ............................................................................................................. 14 (2) Geeignet ......................................................................................................................... 15 (3) Erforderlich..................................................................................................................... 17 (4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – Abwägung mit der Pressefreiheit ................. 18 b. Verstoß gegen Art. 10 EMRK........................................................................................................ 22 (1) Rechtsprechung des EGMR als Auslegungshilfe für die Grundrechte ........................... 22 (2) Ungerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK ............................. 22 (a) Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK............................................................. 22 (b) Rechtfertigung ................................................................................................................ 23 (1) Gesetzliche Grundlage ................................................................................................... 23 (2) Legitimes Ziel .................................................................................................................. 23 (3) Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft ......................................................... 25 c. Keine verfassungs- und konventionskonforme Auslegung möglich ............................................ 26 3
1. Sachverhalt a. Angaben zum Beschuldigten Arne Semsrott ist Chefredakteur und Projektleiter der Transparenz- und Rechercheplattform FragDen- Staat. FragDenStaat hat ein investigatives Rechercheteam, das – oft in Kooperation mit anderen Medien wie der Süddeutschen Zeitung, dem Stern oder dem ZDF – regelmäßig journalistische Beiträge veröffentlicht. In unregelmäßigen Abständen erscheint auch eine Printversion der Recherchen. Die Journalist*innen von FragDenStaat wurden unter anderem für eine Kooperation mit dem gemeinwohlorientierten Medi- enhaus Correctiv mit dem Grimme Online Award 2023 und vom Medium Magazin ausgezeichnet. Zum journalistischen Selbstverständnis von FragDenStaat gehört es, die hinter den Recherchen stehen- den Quellen öffentlich zu machen. Herr Semsrott und sein Team ermöglichen es so der Öffentlichkeit, selbst nachzuvollziehen, auf welcher Basis die Recherche erfolgte, sich selbst intensiver mit der Materie auseinanderzusetzen und nicht zuletzt selbst die Schlussfolgerungen von Herrn Semsrott und den wei- teren Journalist*innen kritisch zu hinterfragen. Damit schaffen Herr Semsrott und sein Team neben der Transparenz amtlicher Informationen gerade auch Transparenz hinsichtlich der eigenen Arbeit. So heißt es auf der Internetseite von FragDenStaat: #Recherchen Wir decken geheimgehaltene Informationen auf In unserem Blog schreiben wir über politische und gesellschaftliche Missstände. Un- sere Quellen machen wir dabei immer öffentlich – lesen Sie selbst nach, auf welcher Basis unsere investigativen Recherchen entstehen. Oft stecken brisante Informationen in amtlichen Unterlagen. Lageberichte, Geset- zesentwürfe, Lobbygespräche – selten werden diese öffentlich gemacht. Wir fragen Dokumente mit dem Informationsfreiheitsgesetz an und berichten darüber. (Auszug aus der Internetseite von FragDenStaat, abrufbar unter https://fragden- staat.de/ueber-uns/#recherchen) b. Verfahrensgegenständliche Veröffentlichungen Herr Semsrott hat die folgenden Beschlüsse mit nur geringfügigen Schwärzungen am 22. August 2023 bei FragDenStaat veröffentlicht: - Beschluss des Amtsgerichts München vom 13. Oktober 2022 (ER V Gs 11706/22) - Beschluss des Amtsgerichts München vom 16. Mai 2023 (ER V Gs 5965/23), 4
- Beschluss des Amtsgerichts München vom 23. Mai 2023 (ER V 6287/23) - Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom 16. Mai 2023 (5 KLs 540 Js 44796/22) Im Einzelnen: Am 22. August 2023 veröffentlichte er auf FragDenStaat den Artikel mit dem Titel „Hier sind die Ge- richtsbeschlüsse zur Letzten Generation“ (Semsrott, Arne, „Hier sind die Gerichtsbeschlüsse zur Letzten Generation“, abrufbar unter https://fragdenstaat.org/blog/2023/08/22/hier-sind-die-gerichtsbe- schlusse-zur-letzten-generation/). Die drei Beschlüsse des Amtsgerichts München bettete er in den Ar- tikel ein. Die Angaben in dem Schreiben der Staatsanwaltschaft Berlin vom 10. Oktober 2023 sind inso- weit zutreffend. In dem Artikel setzt sich Herr Semsrott im Kontext der politischen Debatte rund um die Bewegung „Letzte Generation“ intensiv mit der Argumentation des Amtsgerichts München zur Einstufung der Letz- ten Generation als kriminelle Vereinigung auseinander. Herr Semsrott kritisiert insbesondere eine seiner Meinung nach fehlende Auseinandersetzung mit den Grundrechten der betroffenen Personen. Weiter setzt er sich kritisch mit einzelnen Textpassagen der Beschlüsse auseinander, in denen das Amtsgericht die Selbstjustiz, die andere Personen gegenüber Mitgliedern der Letzten Generation ausüben, heran- zieht, um den Tatvorwurf der kriminellen Vereinigung zu begründen. Persönlichkeitsrechtsrelevante Inhalte schwärzte Herr Semsrott vor der Veröffentlichung. Bevor Herr Semsrott die Beschlüsse veröffentlichte, hat er die dort als Beschuldigte aufgeführten Personen kontak- tiert und mit der anstehenden Veröffentlichung konfrontiert. Keine*r der Beschuldigten hat Einwände gegen die Veröffentlichung erhoben. Die Betroffenen haben selbst im Nachgang an die Ermittlungsmaß- nahmen die Öffentlichkeit gesucht und zum Teil unter Offenlegung ihrer Identität dazu kommuniziert. Ebenfalls am 22. August 2023 veröffentlichte Herr Semsrott bei FragDenStaat einen weiteren Artikel mit dem Titel „Der fehlende Link“. Teil des Artikels war der zuvor nicht veröffentlichte Nichteröffnungsbe- schluss des Landgerichts Karlsruhe vom 16. Mai 2023 in dem Strafverfahren gegen einen Journalisten des freien Senders Radio Dreyeckland. Das Schreiben der Staatsanwaltschaft Berlin vom 2. November 2023 geht insofern fälschlicherweise von einer Veröffentlichung auf der Webseite linksunten.indyme- dia.org aus; das ist nicht korrekt. Abgesehen davon trifft der Tatvorwurf auch hinsichtlich dieses Kom- plexes in tatsächlicher Hinsicht zu. Auch in diesem Fall vergewisserte sich Herr Semsrott vor Veröffent- lichung des Beschlusses, dass keine Einwände der Betroffenen bestehen. Radio Dreyeckland hatte die Vorwürfe selbst in der eigenen Berichterstattung thematisiert. In dem Beitrag zu dem Nichteröffnungsbeschluss berichtet er über die am 17. Januar 2023 vollstreckten strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen gegen einen Journalisten von Radio Dreyeckland wegen des Vorwurfs der Unterstützung einer verbotenen Vereinigung. Der Tatvorwurf stützt sich im Wesentlichen darauf, dass der Journalist in einem Artikel, der die Einstellung von Ermittlungsverfahren gegen ver- meintliche Betreiber*innen des Portals linksunten.indymedia behandelt, auf das im Internet frei einseh- bare statische Archiv der Seite verlinkt. Angeordnet war u. a. die Durchsuchung der Redaktionsräume des Senders. Herr Semsrott kritisiert die Durchsuchung ebenso wie den Beschluss des OLG Stuttgart, mit 5
dem das Hauptverfahren gegen den angeklagten Journalisten letztlich eröffnet und die Anklage zugelas- sen wurde. Herr Semsrott bezieht sich dabei auf den von ihm erstmals veröffentlichten Beschluss des Landgerichts Karlsruhe, mit dem es die Eröffnung des Hauptverfahrens zuvor abgelehnt hatte. Das OLG Stuttgart hatte den Beschluss selbst am 3. August 2023 veröffentlicht. Mittlerweile ist auch der von Herrn Semsrott veröffentlichte Nichteröffnungsbeschluss des LG Karlsruhe auf dem amtlichen Justizpor- tal Baden-Württemberg frei veröffentlicht (abrufbar unter https://www.landesrecht- bw.de/perma?d=JURE230053049). c. Ermittlungsmaßnahmen gegen Mitglieder der letzten Generation und öffentliche Debatte dazu Hintergrund der Veröffentlichungen sind zum einen die Strafverfahren gegen Mitglieder der Letzten Ge- neration. Ende Mai 2023 hatte die Staatsanwaltschaft im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens we- gen Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB u.a. Wohnungen von Mitgliedern der Letzten Generation sowie Geschäftsräume zweier Internet-Plattformen durchsucht, über welche die Letzte Ge- neration Spenden gesammelt hatte. Die Webseite der Letzten Generation wurde beschlagnahmt. Im Juni 2023 wurde durch die Berichterstattung eines Journalisten der Süddeutschen Zeitung bekannt, dass die Generalstaatsanwaltschaft München auf entsprechende Beschlüsse des AG München hin mehrere Telefonanschlüsse abhören ließ, die der Letzten Generation zugerechnet werden. Darunter befand sich auch ein Anschluss, den die Vereinigung als Pressetelefon nutzte, so dass eine Vielzahl von Journalist*in- nen betroffen waren. Die Ermittlungsmaßnahmen provozierten eine bis heute anhaltende öffentliche Debatte. Darauf weist auch die Staatsanwaltschaft München hin. Es sei zu konzedieren, dass bereits eine umfassende mediale Berichterstattung erfolgt sei (Bl. 57, Bd. II d.A., 237 Js 3347/23). Aus dem Hauptverfahren sei bekannt, dass nach dem Vollzug der Eingriffsmaßnehmen am 24. Mai 2023 eine umfassende mediale Berichter- stattung erfolgt sei. Die Generalstaatsanwaltschaft habe selbst eine detaillierte Pressemitteilung zum Tatvorwurf und den erfolgten Eingriffsmaßnahmen herausgegeben und in der Folge eine Vielzahl von Presseanfragen beantwortet. Weiter seien zu dem Verfahren mehrere Anfragen aus dem Bayrischen Landtag erfolgt, was die öffentliche Diskussion sicher befeuert habe (Bl. 80 f., Bd. II d.A., 237 Js 3347/23). Darüber hinaus hat das Amtsgericht München Pressevertretern die Beschlüsse – mit gleichzeitigem Hin- weis auf § 353d Nr. 3 StGB – auf Anfrage zukommen lassen. Die jeweiligen Beschlüsse wurden in der Diskussion jedoch zunächst, soweit ersichtlich, trotz des öffent- lichen Interesses gerade an der Begründung des Gerichts nicht als solche, auch nicht in Teilen veröffent- licht. Medien sehen sich wegen des Verbots aus § 353d Nr. 3 StGB nach eigenem Bekunden regelmäßig daran gehindert, wesentliche Teile etwa von Durchsuchungsbeschlüssen im Wortlaut wiederzugeben. Das juristische Online-Medium Legal Tribune Online (LTO) sowie die Tageszeitung (taz) veröffentlichten am Ende ihrer Texte stattdessen Disclaimer, die auf die Strafbarkeit der Veröffentlichung des Beschlus- ses nach § 353d Nr. 3 StGB verweisen. So setzt sich am 25. Mai 2023 LTO unter der Überschrift „Wie das Gericht die "kriminelle Vereinigung" begründet“ mit den Beschlüssen und der Argumentation des Ge- richts zwar auseinander. Von einer wortlautgetreuen Anführung der entsprechenden Passagen sieht der Verfasser aber ab. Stattdessen findet sich am Ende des Texts folgender Disclaimer (abrufbar unter 6
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/letzte-generation-kriminelle-vereinigung-durchsuchungs- beschluss-muenchen-bayern-justiz-razzia/): „Anm. d. Red.: Angesichts der Strafnorm des § 353d Strafgesetzbuch sieht sich LTO daran gehindert, wesentliche Teile des Beschlusses im Wortlaut wiederzugeben. Da- her unterblieben teilweise Zitierungen. In diesem Fall werden die Aussagen von LTO vollständig sinnerhaltend wiedergegeben.“ Ähnlich die Tageszeitung in dem Artikel mit der Überschrift „So begründet die Justiz die Razzien“ vom 29. Mai 2023 (abrufbar unter https://taz.de/Polizeieinsatz-gegen-Letzte-Generation/!5937107/): „Hinweis: Das wörtliche Zitieren aus Dokumenten eines Strafverfahrens ist verboten (Paragraf 353d Strafgesetzbuch). Deshalb wurde hier darauf verzichtet.“ In der Rechtswissenschaft lösten die Ermittlungen öffentlich geführte kontroverse Diskussionen über die Begründetheit des Anfangsverdachts nach § 129 StGB aus (vgl. etwa Thomas Fischer auf LTO: https://www.lto.de/recht/meinung/m/krimi- nelle-vereinigung-thomas-fischer-letzte-generation/; Streitgespräch zwischen Fi- scher und Jahn auf LGO: https://www.lto.de/recht/meinung/m/streitgespraech- jahn-fischer-letzte-generation-zdf/; Kuhli und Papenfuß in der KriPoZ: https://kri- poz.de/wp-content/uploads/2023/03/kuhli-papenfuss-warum-die-letzte-genera- tion-noch-keine-kriminelle-vereinigung-ist.pdf; Tjorben Studt auf JuWissBlog: https://www.juwiss.de/34-2023/). Allein auf dem Verfassungsblog erschienen 12 Beiträge zu der Frage (https://verfassungsblog.de/cate- gory/debates/kleben-und-haften-ziviler-ungehorsam-in-der-klimakrise/). Während manche Stimmen die Norm des § 129 StGB für verfassungswidrig hielten, forderten andere eine Reform der Vorschrift (Heger auf KriPoZ: https://kripoz.de/wp-content/uploads/2023/07/heger-huthmann-diskussion-um- 129-stgb.pdf; Koch auf dem Verfassungsblog: https://verfassungsblog.de/verhaltnismasigkeit-normen- klarheit-und-%C2%A7-129-stgb/). In einem Prüfvermerk vom 11. Juli 2023 (verfügbar unter https://fragdenstaat.de/dokumente/240310- pruefvermerk-zur-moeglichen-strafbarkeit-der-mitglieder-der-bewegung-aufstand-der-letzten-genera- tion-wegen-bildung-einer-kriminellen-vereinigung-ss-129-stgb-unter-auswertung-der-entscheidungen- des-lg-potsdam-und-ag-muenchen/#page-12) kam die Senatsverwaltung für Justiz in Berlin – ebenso wie zuvor bereits die Staatsanwaltschaft Berlin – zu dem Ergebnis, dass kein Anfangsverdacht gegen Mitglie- der der Letzten Generation nach § 129 StGB besteht. Das ist umso bemerkenswerter, als der weitaus größte Teil der Ermittlungsverfahren gegen einzelne Mitglieder der Letzten Generation in der Haupt- stadt geführt wird. Der Prüfvermerk bezeichnete die Annahme eines Anfangsverdachts durch das Land- gericht Potsdam als „schwer nachvollziehbar“. Mit Blick auf die Bewertungen des Sachverhalts durch 7
das Amtsgericht München in den in Rede stehenden ermittlungsrichterlichen Beschlüssen äußerte die Senatsverwaltung „erhebliche fachliche Bedenken“. Das Landgericht München hat dagegen am 16. November 2023 zehn Beschwerden gegen Durchsu- chungs- und Beschlagnahmeanordnungen im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen Mitglieder der „Letzten Generation“ als unbegründet verworfen und nur einer Beschwerde teilweise stattgegeben (siehe die Pressemitteilung 68 vom 23. November 2023, abrufbar unter https://www.justiz.bay- ern.de/gerichte-und-behoerden/oberlandesgerichte/muenchen/presse/2023/68.php). Die Staats- schutzkammer des Landgerichts bejaht danach im Ergebnis die Voraussetzungen für den Erlass der Durchsuchungsbeschlüsse. Das Amtsgericht sei zurecht davon ausgegangen, dass ein Anfangsverdacht dafür bestehe, dass die „Letzte Generation“ eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 StGB bil- det. Auch diese Beschlüsse wurden in der Öffentlichkeit breit und kontrovers diskutiert, soweit ersicht- lich aber bislang nicht als solche veröffentlicht. So wurde etwa die Analyse der Beschlüsse auf Zeit Online hundertfach kommentiert (Sehl, Ist die Letzte Generation eine kriminelle Vereinigung?, abrufbar unter https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-11/letzte-generation-landgericht-kriminelle- vereinigung-ermittlung/). Auch bei diesen Beschlüssen finden sich entsprechende Disclaimer, wonach die Wiedergabe des Wortlauts und auch nur teilweise Zitierungen unterbleiben (s. beispielhaft Sehl, Das steht im Letzte-Generation-Beschluss – Warum der Verdacht einer kriminellen Vereinigung besteht, ab- rufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/lg-muenchen-letzte-generation-klimakleber- durchsuchung-protest-kriminell-vereinigung/): *Anm. d. Red.: Angesichts der Strafnorm des § 353d Strafgesetzbuch sieht sich LTO daran gehindert, wesentliche Teile des Beschlusses im Wortlaut wiederzugeben. Daher unterblieben teilweise Zitierungen. In diesem Fall werden die Aussagen von LTO vollständig sinnerhaltend wiedergegeben. Im Anschluss hieß es, ohne dass jeweils deutlich wurde, dass bislang allein der Anfangsverdacht bejaht worden war, die Voraussetzungen einer kriminellen Vereinigung seien „erfüllt“ (etwa MDR, abrufbar unter https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/letzte-generation-kriminelle-vereinigung- landgericht-muenchen-100.html ) oder die Letzte Generation sei eine kriminelle Vereinigung und selbst 5-Euro-Spenden seien jetzt illegal (so Bild, abrufbar unter https://www.bild.de/news/inland/news-in- land/letzte-generation-ist-kriminelle-vereinigung-selbst-5-euro-spenden-jetzt-illegal- 86200654.bild.html). Nicht nur die Beschuldigten hatten sich dabei gegen die umstrittenen Ermittlungsmaßnahmen gewandt. Gegen das Abhören des so genannten Pressetelefons der Letzten Generation, vom dem angesichts der Länge der Zeit und des öffentlichen Interesses gerade an der Berichterstattung über die kontroversen Proteste eine Vielzahl von Journalist*innen betroffen sind, richten sich mehrere derzeit anhängige An- träge von drittbetroffenen Journalist*innen, die u. a. von Reporter Ohne Grenzen und dem Bayerischen Journalistenverband unterstützt werden. Das Amtsgericht München hat diese Anträge vor Kurzem zu- rückgewiesen, die Betroffenen haben dagegen nach eigenen Bekunden sofortige Beschwerde einge- reicht (siehe die Pressemitteilung der Organisation Reporter ohne Grenzen vom 28.11.2023, abrufbar 8
unter https://www.reporter-ohne-grenzen.de/pressemitteilungen/meldung/telefonueberwachung- verletzte-pressefreiheit). Zuletzt nahmen mehrere Rechtswissenschaftler*innen die Ermittlungsmaßnahmen gegen die Letzte Ge- neration zum Anlass, in einem Gastbeitrag für die FAZ vor einer Kriminalisierung des zivilgesellschaftli- chen Klimaprotests zu warnen und an die Gerichte zu appellieren, den vorhandenen „Raum für eine verfassungsrechtlich orientierte, restriktive Interpretation“ der jeweiligen Strafnormen, insbesondere aber des § 129 StGB zu nutzen (Daria Bayer et al., Warum es falsch ist, Klimaprotest und Seenotrettung zu kriminalisieren, FAZ vom 30.11.2023, abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und- recht/warum-es-falsch-ist-klimaprotest-und-seenotrettung-zu-kriminalisieren-19348547.html). Die Generalstaatsanwaltschaft München hat in den Verfahren gegen die Beschuldigten noch keine An- klage erhoben. d. Ermittlungsmaßnahmen gegen Radio Dreyeckland und öffentliche Debatte Anfang 2023 waren die Wohnungen zweier Journalisten des freien Radiosenders Radio Dreyeckland durchsucht und u. a. Datenträger eines der Journalisten beschlagnahmt worden, auf denen sich ein gro- ßer Teil der redaktionsinternen Kommunikation befand. Die ebenfalls angeordnete Durchsuchung der Redaktionsräume des Radiosenders konnte durch die Einlassung eines der Journalisten weitgehend ab- gewendet werden. Die Maßnahmen erfolgten im Rahmen eines Strafverfahrens gegen die Journalisten wegen des Tatverdachts des Unterstützens einer verbotenen Vereinigung. Tatsächlicher Vorwurf ist, dass in einem journalistischen Text, der die Einstellung des Strafverfahrens gegen vermeintliche Betrei- ber*innen der bereits im Jahr 2017 verbotenen Medien-Online-Plattform linksunten.indymedia vermel- dete, in der Sache zutreffend berichtet wurde, dass die im Text verlinkte Seite des verbotenen Vereins als Archivseite weiterhin auffindbar sei. Am 20. April 2023 hat die Staatsanwaltschaft Karlsruhe gegen den Journalisten Anklage zur Staatsschutzkammer des Landgerichts Karlsruhe erhoben (Bl. 21 d.A., 237 Js 4342/23). Das Landgericht Karlsruhe hatte in dem von Herrn Semsrott veröffentlichten umfangreichen Beschluss die zwischenzeitlich erhobene Anklage nicht zugelassen. Das Landgericht Karlsruhe stellt in dem Beschluss klar, dass Verlinkungen zum geschützten Bereich der freien Berichterstattung und solche Verweise gerade zur Wahrnehmung der journalistischen Aufgaben gehören können und Medien für die verlinkten Inhalte nur unter bestimmten Umständen strafrechtlich belangt werden können. Das bloße Verlinken einer Archivseite ist von der Pressefreiheit geschützt und kann nicht als Unterstützung einer verbotenen Vereinigung angesehen werden. Das OLG Stuttgart hatte diesen Beschluss jedoch in der Folge aufgehoben und schließlich die Anklage zugelassen. Das Gericht ließ seine Entscheidung – noch vor der Veröffentlichung des Landgerichts-Beschlusses durch Herrn Semsrott am 22. August 2023 – am 3. August 2023 auf der amtlichen Entscheidungssammlungsdatenbank des Landes Baden-Württemberg veröffentlichen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 12.6.2023, 2 Ws 2/23). 9
2. Strafbarkeit nach §§ 353d Nr. 3, 53 StGB Legt man die im Wortlaut und nach einer historischen Auslegung angelegte und bisher von den Fachge- richten vorgenommene Auslegung von § 353d Nr. 3 StGB zugrunde, hat sich Herr Semsrott aufgrund des dargestellten Sachverhalts in zwei Fällen gemäß § 353d Nr. 3 StGB strafbar gemacht. a. Tatbestand Nach § 353d Nr. 3 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer die Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist. Bei allen vier Beschlüssen handelt es sich um Dokumente, die von einer amtlichen Stelle hergestellt wurden und die einem Strafverfahren zugeordnet sind bzw. ein Strafverfahren betreffen und dement- sprechend um amtliche Dokumente eines Strafverfahrens (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2023 - VI ZR 116/22, Rn. 28). Die Veröffentlichung auf FragDenStaat ist einem unbestimmten Personenkreis zugänglich und damit eine öffentliche Mitteilung. Der Beschuldigte hat die Beschlüsse in ihrem Originalwortlaut so gut wie vollständig veröffentlicht und ausschließlich personenbezogene Daten geschwärzt. Dementsprechend sind wesentliche Teile der Beschlüsse im Wortlaut veröffentlicht. Weder bei den Verfahren zur Letzten Generation noch in dem Verfahren gegen den Journalisten von Radio Dreyeckland hat es vor der Veröffentlichung der Beschlüsse durch Herrn Semsrott eine öffentliche Verhandlung gegeben, in der die Beschlüsse erörtert worden wären. Die Verfahren sind auch nicht an- derweitig abgeschlossen worden, gegen den Journalisten von Radio Dreyeckland ist Anklage erhoben, in den Verfahren gegen die Mitglieder der Letzten Generation ist, soweit ersichtlich, das Ermittlungsver- fahren noch nicht abgeschlossen. Eine vorige Erörterung des Inhalts der Beschlüsse in der Öffentlichkeit, ja selbst eine Veröffentlichung durch Dritte außerhalb des Verfahrens, muss nach dem insoweit eindeu- tigen Wortlaut, der allein auf die bestimmungsgemäße Erörterung im Rahmen des Strafverfahrens ab- stellt, für die Strafbarkeit außer Acht bleiben; auch eine Rechtfertigung scheidet insoweit aus (dazu so- gleich). § 353d Nr. 3 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt (MüKo StGB/Puschke StGB § 353d Rn. 73 m.w.N.; s. zuletzt auch BGH, Urteil vom 16.05.2023, Az. VI ZR 116/22, Rn. 17), nachteilige Auswirkungen auf das Verfahren oder die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen im konkreten Fall sind nicht erforderlich. Ein Tatbestandsausschluss u.a. für Presseangehörige vergleichbar mit § 86 Abs. 4 StGB, wonach die Strafbarkeit ausgeschlossen ist, wenn die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient, existiert nicht. Eine analoge Anwendung auf Fälle des § 353d Nr. 3 StGB zugunsten von Presse- angehörigen scheidet angesichts der Entstehungsgeschichte der Norm, die ursprünglich in den 10