Faktensammlung: Wirkungen eines Tempolimits von 130 km/h auf Autobahnen

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Wirkungen eines Tempolimits von 130 km/h auf Autobahnen

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Befragt nach ihrer bevorzugten Fahrgeschwindigkeit auf Autobahnen meinten in einer aktuellen Befragung (Statista 2018) 36 Prozent aller Befragten, dass sie bei normaler Verkehrslage auf der Autobahn ohne Tempolimit zwischen 130 km/h und 150 km/h fahren. 26 Prozent gaben an, dann weniger als 130 km/h zu fahren und 25 Prozent mehr als 150 km/h (Rest: unterschiedlich u.a.). Die Wunschgeschwindigkeit liegt demnach bei der großen Mehrzahl meist deutlich über der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h, nur bei einem Viertel der Autofahrer und Autofahrerinnen darunter. Im Mai 1991 schrieb der damalige Abteilungsleiter Straßenverkehr im Bundesverkehrsministerium, Philipp Nau, eine Stellungnahme „Zur Frage allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen“ an den Minister Günther Krause. Mit Bezug auf die 1978 getroffene Entscheidung gegen ein Tempolimit und für eine Richtgeschwindigkeit mahnte er eine erneute politische Diskussion an. Er griff neben damals aktuellen Erkenntnissen im Wesentlichen die Ergebnisse der BASt-Studien aus 1977 zu den Auswirkungen eines Tempolimits von 120 oder 130 km/h auf die Verkehrssicherheit, die Umwelt und die Wirtschaft auf und zog die Schlussfolgerung, dass durch ein Tempolimit erhebliche Sicherheitsgewinne erzielt werden könnten. Diese Stellungnahme kostete ihn seine Arbeitsstelle (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13489762.html, Waesch 2017, S. 34). Als Alternative zu einem generellen Tempolimit spricht sich der DVR zurzeit für Verkehrsbeeinflussungsanlagen aus. Diese geben eine an die jeweilige Verkehrssituation angepasste Höchstgeschwindigkeit vor (etwa bei schlechtem Wetter oder hohem Verkehrsaufkommen). Auf etwa zehn Prozent des 12.996 km umfassenden Autobahnnetzes sind solche Systeme bereits installiert (BMVI, 2017, S. 102). Nach einer Studie des „Auto Clubs Europa“ (ACE) (Geschwindigkeitsmanagement statt Tempolimit, 2007) kann ein Geschwindigkeitsmanagement zu einem Rückgang von bis zu 30 Prozent der Unfälle auf Autobahnen führen und zudem die Umwelt entlasten, weil Staus und unnötige Schadstoffemissionen vermieden würden. Häufig wird als Argument gegen ein Tempolimit auf BAB auf die noch deutlich unsichereren Landstraßen verwiesen. Es müsse daher vermieden werden, dass der Verkehr auf die gefährlicheren Landstraßen ausweicht. Ein solches Ausweichen von BAB auf Landstraßen würde unter dem Aspekt der schnellen Zielerreichung allerdings keinen Sinn machen. Auch der Verweis auf andere Probleme außerhalb von BAB ist nicht zielführend. Selbstverständlich müssen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit auch bei Landstraßen (wie zudem innerorts) die Geschwindigkeitslimits überprüft werden, wie dies im Kontext der Diskussion um BAB-Tempolimits regelmäßig gefordert wird. Differenziert hat dazu der Wissenschaftliche Beirat des damaligen Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) 2010 Stellung bezogen. Am 31. Oktober 2007 stellte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag den Antrag „Tempolimit 130 km/h auf Autobahnen sofort einführen“ (BT-Drucksache 16/6894). Kurz zuvor hatte sich auch ein SPD-Parteitag in einem Beschluss für ein generelles Tempolimit von 130 km/h ausgesprochen. Dieser Antrag wurde anschließend in sechs Ausschüssen beraten und abschließend am 28. Mai 2008 im Bundestag abgelehnt (BT-Drucksache 16/9321). Der Wissenschaftliche Beirat des BMVBS (2010) setzte sich in einem ausführlichen Gutachten zur Straßenverkehrssicherheit für Geschwindigkeitsbegrenzungen auf allen Straßentypen ein, weil er bei unbegrenzter Geschwindigkeit auf BAB die folgenden Probleme sah: ● Überproportional zunehmende Unfallschwere mit wachsender Aufprallgeschwindigkeit. 9
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● Mit zunehmender Geschwindigkeit abnehmende Möglichkeit für ReakƟonen und Korrekturmanöver bei unvorhergesehenen Ereignissen und damit höhere Risiken für Auffahr- und Folgeunfälle. ● Höheres Unfallrisiko bei eingeschränkten Sichtverhältnissen (Nebel, Nacht). ● Erhöhte Ausbau- und Sicherheitsstandards (Fahrstreifenbreite, Radien, Seitenstreifen etc.) für hohe Entwurfsgeschwindigkeiten und damit Kosten für Investitionen und Unterhaltung. ● Höherer Energieverbrauch, Schadstoffausstoß und Lärm. ● Größere Störanfälligkeit, BeeinträchƟgung der Leistungsfähigkeit der Straßen. ● Geringerer Fahrkomfort und geringeres subjektives Sicherheitsempfinden vor allem älterer und selten fahrender Verkehrsteilnehmender. „Vor diesem Hintergrund befürwortet der Wissenschaftliche Beirat mit großer Mehrheit eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf BAB auf 130 km/h bzw. auf einem innerhalb der EU zu vereinbarenden einheitlichen Niveau (zumeist derzeit 130 km/h)“ (a.a.O., S. 178). 4. Unfälle mit Personenschaden und gefahrene Geschwindigkeiten auf Autobahnen mit und ohne Tempolimit 4.1 Welche Auswirkungen auf die Unfallhäufigkeit und die Verletzungsschwere haben die gefahrenen Geschwindigkeiten? Die Relation zwischen der gefahrenen Geschwindigkeit und der Unfallhäufigkeit und Verletzungsschwere hat Nilsson (2004) zuerst in Schweden untersucht und in einem Modell zusammengefasst, das inzwischen vielfach für unterschiedliche Straßen bestätigt wurde (in Deutschland u.a.: Schüller, 2010). Nilssons Ausgangspunkt ist die physikalische Tatsache, dass die Aufprallenergie mit dem Quadrat der Geschwindigkeit wächst: 1 2 ܧ݇݅݊ = /2 ݉ ∗ ݒ Während z.B. ein Aufprall mit 30 km/h einem Sturz aus 3,5 m Höhe entspricht, ist ein Aufprall mit 50 km/h mit einem Sturz aus 9,8 m Höhe vergleichbar. Abb. 3 veranschaulicht die systematische Beziehung zwischen Geschwindigkeit und Unfallzahlen mit Personenschaden und mit Getöteten. Nilssons Modell basiert auf einer Meta-Analyse von ca. 100 schwedischen und internationalen Studien zu reduzierten und steigenden Geschwindigkeitsbegrenzungen, hauptsächlich auf Außerortsstraßen. Abb. 3: Geschwindigkeit und Unfälle: Eine systematische Beziehung – Das „Power-Modell“ (Nilsson, 2004; OECD, 2006) 10
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Eine Verringerung der Durchschnittsgeschwindigkeit um fünf Prozent führt zu etwa zehn Prozent weniger Unfällen mit Verletzten und 20 Prozent weniger tödlichen Unfällen. Umgekehrt gilt diese Relation für eine Erhöhung der Geschwindigkeit ebenso. Während Nilsson diese Relation für Außerortsstraßen empirisch bestätigt fand, zeigte Schüller in seiner Dissertation (2010) eine ähnliche Beziehung für Straßen innerorts. Die Zahl der Unfälle mit Personenschaden steigt demnach auch innerorts progressiv mit der mittleren Geschwindigkeit an. Ein Problem von Nilssons Modell ist die Annahme einer prozentualen Geschwindigkeitsänderung. So hätte theoretisch eine Reduktion der mittleren Geschwindigkeit von 100 km/h auf 90 km/h die gleiche Konsequenz auf die Zahl der Getöteten wie eine Reduktion von 30 km/h auf 27 km/h, was unter Betrachtung der kinetischen Energie nicht realistisch erscheint. Deshalb wurden im Weiteren für unterschiedliche Ausgangsgeschwindigkeiten neue Exponenten ermittelt und zu einem modifizierten „Exponentialmodell“ zusammengeführt. Diese befinden sich in einer Geschwindigkeitsspanne zwischen 25 und 115 km/h. Auch für unterschiedliche Straßentypen konnten unterschiedliche Exponenten berechnet werden (Elvik, 2012). Im Vergleich zu Nilssons Modell bildet das Exponentialmodell bei hohen Geschwindigkeiten damit einen noch stärkeren Einfluss der Geschwindigkeit auf die Verletzungsschwere ab. Die zentrale Rolle sicherer Geschwindigkeiten betont auch das allgemeinere Modell eines sicheren Straßenverkehrssystems des Weltverkehrsforums (International Transport Forum ITF, 2016). Danach führen sichere Fahrzeuge, sichere Straßen und sichere Straßennutzende nur dann zu einem sicheren Straßenverkehrssystem, wenn der Verkehr mit angemessener Geschwindigkeit abläuft. Das ITF lässt keinen Zweifel daran, dass dies eher niedrige Geschwindigkeiten meint, die sich nach den körperlichen Toleranzgrenzen von Verkehrsteilnehmenden (auch der „Ungeschützten“) bei einem Unfall richten. 11
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4.2 Unfälle und Unfallfolgen auf Strecken mit und ohne Tempolimit Im Jahr 2017 sind nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes 409 Menschen auf deutschen Autobahnen durch Verkehrsunfälle ums Leben gekommen. Mit Blick auf das Jahr 2016 sind rund 72 Prozent aller Getöteten auf solchen Autobahnabschnitten verunglückt, die keine Geschwindigkeitsbegrenzung hatten (Tab. 1). Eine erstaunlich hohe Zahl: Denn dort, wo wegen der Verkehrsdichte oder aus topografischen Gründen Unfallschwerpunkte auszumachen waren, sind in der Regel dauerhafte oder situationsabhängige, temporäre Tempolimits eingerichtet worden. Schwer verletzt wurden 2016 auf BAB insgesamt 6.103 Menschen, davon 4.247 auf BAB-Abschnitten ohne Geschwindigkeitsbegrenzung am Unfallort und 1.856 auf BAB-Abschnitten mit Geschwindigkeitsbegrenzung am Unfallort. Tab. 1: Getötete auf BAB-Abschnitten mit und ohne Tempolimit (Berechnet auf Basis der Jahresdaten des Statistischen Bundesamtes). ohne TL mit TL Gesamt Getötete 2011 328 125 453 2012 279 108 387 2013 313 115 428 2014 259 116 375 2015 284 130 414 2016 283 110 393 Quelle: Statistisches Bundesamt: Verkehrsunfälle, Fachserie 8, Reihe 7, 2011 bis 2016 Auch die Anzahl der Getöteten bei Geschwindigkeitsunfällen (Unfälle, bei denen mindestens eine beteiligte Person nicht angepasste Geschwindigkeit aufwies) auf Autobahnen war auf den Strecken ohne Tempolimit in fast allen betrachteten Jahren deutlich höher als auf den Strecken mit Tempolimit. Tabelle 2 nennt die entsprechenden Zahlen für jeweils 1.000 km Streckenlänge. 2 Tab. 2: Getötete je 1.000 km BAB (alle Richtungen ) auf Abschnitten mit und ohne Tempolimit (Eigene Berechnung nach BASt (Erhebungen 2008 und 2015 zu Streckenlängen) und Destatis ohne TL mit TL Getötete 2011 19,8 14,3 2012 16,9 12,4 2013 18,9 13,2 2014 15,6 13,3 2015 15,6 16,9 2016 15,6 14,4 Quelle: Statistisches Bundesamt: Verkehrsunfälle, Fachserie 8, Reihe 7, 2011 bis 2016 Unterschiedliche Ergebnisse zeigten sich anhand von Daten aus den Jahren 2009 bis 2011 für Einflussgrößen auf die Unfallschwere auf Autobahnen in Nordrhein-Westfalen. Verglichen wurden 2 Da diese Streckenlängen alle Richtungen beinhalten, ist diese Dichte nicht mit der Berechnung im internationalen Vergleich (Getötete/Streckenlänge) auf der Basis der IRTAD-Datenbank in Abschnitt 4.5 vergleichbar 12
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hier Abschnitte, auf denen die zulässige Geschwindigkeit 100 km/h oder weniger betrug, mit Abschnitten mit höheren oder keinen Limits. Bei diesen (niedrigen) Geschwindigkeitsbeschränkungen handelte es sich häufig um unfallauffällige Bereiche. Zwar werden unter einer Beschränkung geringere Geschwindigkeiten und folglich geringere Verletzungsschweregrade erwartet, aber wesentliche andere Einflussgrößen auf das Unfallgeschehen sind dabei nicht zu kontrollieren (vgl. Manner & Wünsch-Ziegler, 2013). Ähnliche Probleme stellen sich auch bei einem Vergleich zwischen derzeit mit einem Tempolimit belegten BAB-Abschnitten und solchen ohne Begrenzung. Die Einrichtung des Tempolimits hatte häufig den Grund mangelnder Sicherheit dieser Abschnitte, die durch die Begrenzung erhöht werden sollte. Oft wird die Sicherheit dort mit dieser Maßnahme gerade auf das Niveau der wegen ihrer besseren Sicherheit unbegrenzten Abschnitte angehoben – und im einfachen Vergleich mit und ohne Tempolimit zeigen sich keine oder nur wenig aussagekräftige Effekte. Hier setzt auch die Argumentation des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) gegen Tempolimits an (VDA, 2007; Schott, VDA, 2017): Der Prozentsatz der Unfälle mit Personenschaden auf BAB- Abschnitten ohne Tempolimit entspricht etwa dem Kilometeranteil, den nicht tempolimitierte Abschnitte am gesamten BAB-Netz haben. Pro BAB-Kilometer ist damit die Wahrscheinlichkeit für einen Unfall mit Personenschaden auf nicht tempolimitierten Abschnitten etwa so hoch wie auf tempolimitierten (limitiert aufgrund von Baustellen, durch permanente statische Limits oder durch Verkehrsbeeinflussungsanlagen). Diese Argumentation lässt außer Acht, dass die bestehenden Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht ohne Grund angeordnet wurden. Der Grund ist regelmäßig eine besonders ungünstige Sicherheitslage, die durch Tempolimits verbessert werden soll. Wenn eine Senkung der gefahrenen Geschwindigkeiten zu einer Reduzierung der Unfallzahlen und Getöteten führt, ist zu erwarten, dass dieser Effekt bei der Einführung eines allgemeinen Tempolimits auch auf den 70 Prozent der bisher nicht tempolimitierten Streckenabschnitten eintreten und somit zusätzliche Sicherheit auf deutschen Autobahnen bewirken würde. Nicht vernachlässigt werden dürfen auch die Auswirkungen der Gestaltung des Verkehrssystems: Marshall (2018) erklärt die weit bessere Unfallbilanz Australiens im Vergleich zu den USA (5,3 gegenüber 12,4 Getötete je 100.000 Einwohner jährlich) wesentlich durch eine um über zehn Jahre frühere Annahme eines „Safe-System“-Ansatzes mit der Zielsetzung Vision Zero 2003 in Australien. Dazu gehörten neben baulichen Maßnahmen, einer geringeren Exposition (z.B. Dauer und Häufigkeit der Verkehrsbeteiligung) und einer höheren Sicherheitsgurt-Rate vor allem Maßnahmen zur Reduktion der gefahrenen Geschwindigkeiten, einschließlich extensiverer Enforcement-Programme. Dies ist umso bemerkenswerter, als niedrige Geschwindigkeiten (ebenso wie ausgeprägte Überwachung) in Deutschland nachgerade als Charakteristikum des Straßenverkehrs in den USA gelten. Im Vergleich zu den USA werden von Marshall für Australien ein ausgeprägterer politischer Wille und institutionelle Unterstützung festgestellt. Dabei ist Australien weltweit nicht führend in der Straßenverkehrssicherheit – dies sind nach wie vor die SUN-Staaten Schweden, Großbritannien (United Kingdom) und die Niederlande –, hat aber in den vergangenen Jahrzehnten deutliche Verbesserungen erreicht. 13
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4.3 Wie verändern sich die gefahrenen Geschwindigkeiten mit zulässigen Höchstgeschwindigkeiten und welche Wirkungen hat dies? Elvik (2012) führte international zugängliche Studien zum Zusammenhang zwischen (unterschiedlichen) zulässigen Höchstgeschwindigkeiten und gefahrenen mittleren Geschwindigkeit zusammen (Abb. 4). Demzufolge geht eine Reduktion der zulässigen Geschwindigkeit regelmäßig mit einer Reduktion der mittleren Geschwindigkeit einher, allerdings nicht linear. Ein 2 Determinationskoeffizient (R ) von 54 Prozent steht allerdings für eine hohe aufgeklärte Varianz. Als Faustregel lässt sich festhalten, dass eine Senkung der zulässigen Geschwindigkeit um zehn km/h die mittlere Geschwindigkeit um zwei bis drei km/h senkt (Ewert, 2010; Vadeby & Forsman, 2018) und dass eine Anhebung des Tempolimits um zehn km/h zu einer Erhöhung der mittleren Fahrgeschwindigkeit um drei km/h führt (Vadeby & Forsman, 2018). Abb. 4: Regression der Veränderung der mittleren gefahrenen Geschwindigkeiten auf die Veränderungen des Tempolimits (Elvik, 2012) Aussagekräftig sind auch Zahlen, die im Land Brandenburg ermittelt wurden: Dort gab es 2007 ein Autobahnnetz von insgesamt 790 km Länge, von denen 57 Prozent ohne Geschwindigkeitsbegrenzung befahren werden konnten. Diese 453 km waren auf 270 km Länge vierstreifig und auf 183 km Länge sechsstreifig ausgebaut. Scholz u.a. (2007) verglichen die Unfallsituation auf den BAB-Abschnitten mit und ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Auf unbegrenzten Streckenabschnitten wurden mittlere Pkw-Geschwindigkeiten von 137 km/h (vierstreifig) bzw. 142 km/h (sechsstreifig) berechnet. Die Schwankungen der Mittelwerte waren sehr hoch. Bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 km/h sanken die Geschwindigkeiten auf mittlere 127/132 km/h, bei 120 km/h Höchstgeschwindigkeit auf 117/122 km/h. Die Schwankungen der Geschwindigkeiten waren dann zudem deutlich geringer. Die Geschwindigkeitsbegrenzungen 14
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hatten dabei keinen Einfluss auf die Mittelwerte der Fahrgeschwindigkeiten der Güterfahrzeuge und Busse. Eine Begrenzung für Pkw näherte die gefahrenen Geschwindigkeiten der verschiedenen Fahrzeugarten an und harmonisierte somit den Verkehrsfluss. Gleichzeitig konnte mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung die Kapazität je Fahrstreifen um 100 Kfz/h erhöht werden. Für die unbegrenzten Streckenabschnitte wurden Unfallkostenraten (fahrleistungsbezogene Unfallkosten) von 13 EUR je 1.000 Kfz-Kilometer (vierstreifig) bzw. 19 EUR je 1.000 Kfz-Kilometer (sechsstreifig) ermittelt. Bei Geschwindigkeitsbegrenzungen sanken die Unfallkostenraten auf - - 10 EUR/14 EUR je 1.000 Kfz-Kilometer bei 130 km/h Höchstgeschwindigkeit bzw. 8 EUR/11 EUR je 1.000 Kfz-Kilometer bei 120 km/h Höchstgeschwindigkeit. Die Anzahl der Unfälle lag dort um 25 Prozent niedriger. Besonders die Anzahl der schweren Unfälle war auf Abschnitten mit Tempolimit niedriger. Bei einer Begrenzung der Geschwindigkeit auf 130 km/h wären demnach in Brandenburg zum damaligen Zeitpunkt 22,5 Mio. EUR im Jahr weniger Unfallkosten auf den damals noch unbegrenzten Streckenabschnitten entstanden. Ein aktuelles Beispiel für die Veränderung der gefahrenen Geschwindigkeiten nach Einführung einer Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h gibt das Tempolimit, das im September 2017 auf einem Abschnitt der BAB 4 zwischen Merzenich und Elsdorf (in beiden Richtungen zwischen Aachen und Köln) nach einer Reihe von Unfällen mit insgesamt neun Getöteten in den vorangegangenen drei Jahren eingeführt wurde. Sechs Monate später teilte die Bezirksregierung Köln den Aachener Nachrichten (AN 74. Jg., Nr. 81 vom 7. April 2018) mit, dass das Unfallgeschehen auf diesem Abschnitt seither „unauffällig“ sei. Das Teilstück war vor knapp vier Jahren neu gebaut worden und ist auf 7,2 km dreistreifig sehr gerade geführt. Die Geschwindigkeitsmessungen des Landesbetriebs Straßenbau wiesen vor Erlass des Tempolimits in beiden Fahrtrichtungen dieses A4-Abschnitts eine mittlere Geschwindigkeit aller Autos und Motorräder von 142 km/h aus. Im November 2017, zwei Monate nach Einführung des Tempolimits, betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit 130 km/h und nach sieben Monaten (April 2018) 122 km/h. Die Durchschnittsgeschwindigkeit lag somit um 20 km/h niedriger. Nach dem Nilsson-Modell ist damit eine um 40 Prozent niedrigere Unfallzahl und ein um 80 Prozent geringeres Risiko für Unfälle mit Todesfolge zu erwarten. Tatsächlich ereignete sich nach Einführung des Tempolimits dort (bisher) kein Unfall mit Todesfolge mehr. In der Folge lassen sich vier Wirkungen geringerer tatsächlich gefahrener Geschwindigkeiten auf die Unfallwahrscheinlichkeit und die Unfallschwere festhalten: Effekt 1: Senkung der mittleren gefahrenen Geschwindigkeiten. Effekt 2: Verringerung der Varianz der Geschwindigkeiten. Dies ist ein wesentlicher Grund für die erhöhte Sicherheit nach Einführung eines Tempolimits. Die Annäherung der Geschwindigkeiten der Pkw untereinander sowie von Pkw und Lkw führt zu einem homogeneren Verkehrsfluss – ein Effekt, der bei zeitweisen Geschwindigkeitsbegrenzungen zu Hochlastzeiten bereits häufig und erfolgreich genutzt wird. Bei starker Spreizung der Geschwindigkeiten (z.B. zwischen Pkw und Lkw) kommt es teilweise zu einer zweigipfligen Verteilung der Geschwindigkeiten, die bei Mischung zu Konflikten führen muss. Der Mittelwert ist dann wenig aussagefähig, vielmehr gibt es einen hohen Mittelwert der Schnellfahrenden und einen vergleichsweise niedrigen der langsamer Fahrenden. 15
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Effekt 3: Es entstehen geringere Aufprallgeschwindigkeiten. Höhere Aufprallgeschwindigkeiten, die bei starken Geschwindigkeitsdifferenzen entstehen, können systematisch zu schwereren Unfallfolgen führen. Effekt 4: Fahrfehler fallen bei niedrigeren Geschwindigkeiten nicht so schwer ins Gewicht. Auf dem beschriebenen Abschnitt der A4 war allerdings nicht in allen Fällen überhöhte Geschwindigkeit ursächlich für die Unfälle mit tödlichem Ausgang. Zu vermuten ist, dass sich in der Folgezeit ohne tödlichen Unfall ein weiterer Effekt einer Tempobegrenzung auswirkte: Bei niedrigeren Geschwindigkeiten führen auch nicht-geschwindigkeitsbezogene Fehler der Fahrzeugführer (z.B. mangelnder Abstand, Fehler beim Fahrstreifenwechsel etc.) mit geringerer Wahrscheinlichkeit zu Unfällen und insbesondere zu schweren Unfallfolgen, da einmal die Unfallschwere physikalisch von der Geschwindigkeit abhängt, und da zum anderen die Kompensationsleistung des Gesamtsystems höher ist. Eine Fehlerkompensation, für die bei niedrigeren Geschwindigkeiten noch gerade hinreichend Zeit besteht, kann bei sehr hohen Geschwindigkeiten oft nicht mehr gelingen. Die Kompensationsleistung des Gesamtsystems kann durch geringere Fahrgeschwindigkeiten entscheidend verbessert werden. Dies widerspricht auch dem Argument , dass ein Tempolimit keine Vorteile bringe, da „nur bei 13 Prozent der Pkw-Fahrleistung schneller als 150 (!) Kilometer pro Stunde gefahren“ werde (https://www.3sat.de/page/?source=/nano/umwelt/171852/index.html). 4.4 Welche Parameter beeinflussen die Geschwindigkeitswahl neben der zulässigen Höchstgeschwindigkeit? Schlag (2017) gibt einen Überblick über die Größen, die die Geschwindigkeitswahl auf unterschiedlichen Straßen systematisch beeinflussen (Tab. 3). Einige Einflussgrößen sind dabei nicht unabhängig voneinander. Tab. 3: Einflussgrößen auf die Geschwindigkeitswahl (Schlag, 2017) 16
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Bei BAB gibt es für die Straße und ihr Umfeld für Planung, Bau und Betrieb bestimmte Vorschriften, die zu einem relativ einheitlichen Erscheinungsbild führen. Von der baulichen Ausgestaltung her können BAB weitgehend als selbsterklärende Straßen aufgefasst werden. Für diese muss jedoch ein Verhaltensrahmen vorgegeben werden, der im Kern für alle Fahrzeuge und für alle Menschen, die dort fahren dürfen, in gleicher Weise gilt. Dieser Verhaltensrahmen wird durch gesellschaftliche Regeln und explizit durch gesetzliche (injunktive) Normen definiert. Wie stark die vorherrschende Geschwindigkeit, die als wahrgenommene (deskriptive) Norm ebenfalls starken Einfluss auf das individuelle Verhalten hat, von der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit abweicht, hängt wesentlich von der Regeldurchsetzung durch Enforcement (Überwachung und Strafhärte) ab. Auch die Wunschgeschwindigkeit, die Kraftfahrer/innen auch gegen äußere Widerstände zu erreichen versuchen (vgl. Schlag, 1994), hängt neben individuellen Faktoren maßgeblich von durchgesetzten injunktiven Normen (Geschwindigkeitslimits) ab. Wie stark intensiv überwachte Höchstgeschwindigkeiten das individuelle Verhalten lenken, erleben deutsche Autofahrer/innen regelmäßig beim Grenzübertritt, z.B. in die Schweiz. Ohne vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit auf BAB wird den individuellen Wunschgeschwindigkeiten ebenso Raum gegeben wie den mit unterschiedlichen Kraftfahrzeugen verbundenen Möglichkeiten. Damit steigen die Höhe und die Heterogenität der Geschwindigkeiten an. Die Ausnutzung des hohen Ausbaustandards der BAB zur Erzielung hoher Geschwindigkeiten wird nicht nur auf den Ausnahmefall beschränkt, sondern regelmäßig angestrebt . Dies macht u.a. aufwändige streckenbezogene Beschränkungen nötig, um notwendige Verhaltensanpassungen einzuleiten. Die vorherrschenden hohen Geschwindigkeiten werden als erlebte deskriptive Norm kollektiv verhaltensbestimmend. Zurückhaltendes Fahrverhalten führt zu komparativen Nachteilen und wird damit vielfach als nachteilig und bestrafend erlebt. Das Verhalten erodiert in Richtung einer möglichst weitgehenden Nutzung aller Möglichkeiten zum eigenen Vorteil. Individuell mag der 17
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Verzicht auf eine Höchstgeschwindigkeit auf BAB vielfach als Vorteil erlebt werden, kollektiv führt er zwangsläufig zu den genannten Nachteilen. Unterschiede in Planung, Bau und Betrieb von Hochgeschwindigkeits-BAB im Vergleich zu BAB, die mit einer Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h betrieben werden, sind vielfach vorhanden, ihre Aufzählung würde im Detail jedoch den Kontext dieser Faktensammlung übersteigen. Entwurfsgeschwindigkeit, Auslegung, Fahrstreifenbreite, die Notwendigkeit von Seitenstreifen (vgl. die aktuelle Diskussion um deren Freigabe), Belag und Unterhaltung, die Länge von Ein- und Ausfädelstreifen, gesonderte Geschwindigkeitsvorgaben für besondere Witterungs- und Verkehrsverhältnisse, eventuell auch weitere Aspekte der Straßenverkehrstechnik (wie Beschilderung, Markierungen) würden bei generell geschwindigkeitsbegrenzten BAB voraussichtlich anders und vergleichsweise günstiger ausfallen. Der Anspruch, baulich Sicherheit auf Autobahnen selbst für extreme Geschwindigkeiten (z.B. Tempo 200) zu schaffen, würde entfallen. 4.5 Unfallfolgen auf Autobahnen im internationalen Vergleich Vergleiche der Sicherheit auf Autobahnen auf internationaler Ebene sind mit Hilfe der International Road Traffic Data Accident Database (IRTAD) möglich. In der IRTAD-Datenbank werde die Gesamtlängen der Autobahnnetze und Schnellstraßen von einigen Ländern erfasst, wodurch ein Vergleich auch nach Streckennetzlänge möglich ist. 3 Deutschland steht mit drei getöteten Menschen je 100 km Streckenlänge der BAB (teilweise deutlich) schlechter da als Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz, Dänemark, Finnland und Frankreich (alle zwischen einem und 2,5 Getöteten je 100 km Streckenlänge), z. T. deutlich besser hingegen als z.B. die USA, Belgien und Italien (alle über vier Getötete je 100 km Streckenlänge), vgl. Tab. 4. Tab. 4 : Getötete je 100 km Streckenlänge AB country 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Austria 5,5 4,8 4,4 3,5 3,0 2,8 2,2 2,3 1,6 1,7 Belgium 9,0 9,2 8,6 7,9 8,6 5,9 6,7 4,4 4,4 5,6 5,8 Czech Republic 8,3 6,6 7,6 4,6 3,6 3,8 2,9 3,0 3,3 3,0 4,0 Denmark 2,9 1,4 1,9 2,4 1,7 1,9 0,9 0,7 0,8 1,0 1,0 Finland 1,5 2,5 2,0 1,2 1,6 0,5 1,4 1,7 1,0 0,9 0,7 France 3,0 3,0 2,7 2,3 2,2 2,2 2,6 2,1 2,3 2,1 2,6 Germany 5,4 5,2 4,8 3,9 3,8 3,4 3,5 3,0 3,3 2,9 3,2 0,8 3,0 3 Anders als in Abschnitt 4.2 wird hier im internationalen Vergleich nicht in Richtungsfahrbahnen unterteilt, sodass sich die im Vergleich doppelt so hohen Zahlen ergeben. 18
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