2020-03-06-Gutachten-Länderkompetenzen-humanitäre-Aufnahme-Griechenland-fin.pdf

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11 solche Zuweisung an den Bund nicht erfolgt. Dies gilt jedenfalls für die Aufnahme von Flüch- tenden aus humanitären Gründen, bei der es sich um eine Maßnahme im Inland handelt (II.). Dieser steht auch der Grundsatz der Bundestreue als allgemeine Grenze der Kompetenzaus- übung der Länder nicht entgegen (III.) Schließlich spricht auch das Unionsrecht, namentlich der Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, für eine Kompetenz der Bundes- länder, Flüchtende aus den Lagern auf den griechischen Inseln aufzunehmen (IV.). I. (23) Eigenstaatlichkeit der Länder als verfassungsrechtliche Grundlage für die Auf- nahme von Flüchtenden durch die Bundesländer Die Aufnahme von Flüchtenden fällt im Ausgangspunkt in die Kompetenz der Länder kraft ihrer Eigenstaatlichkeit, soweit nichts anderes im Grundgesetz geregelt ist. Als Teil des Bun- desstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 1 GG erkennt das Grundgesetz nämlich die Eigenstaatlich- keit der Länder an. So stellte das Bundesverfassungsgericht bereits früh fest: „Eine weitere Grundlage der Verfassung ist das bundesstaatliche Prin- zip (Art. 20, 28, 30 GG). Die Länder sind als Glieder des Bundes Staa- ten mit eigener - wenn auch gegenständlich beschränkter - nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter staatlicher Hoheits- macht.“ (BVerfGE 1, 14, 33; weiterhin etwa BVerfGE 72, 330, 388). (24) Damit im Einklang erklärt Art. 30 GG die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfül- lung der staatlichen Aufgaben zur Sache der Länder, soweit das Grundgesetz nichts Abwei- chendes regelt. Erfasst ist dabei auch ein Handeln über die Landesgrenzen hinweg. (25) Ausgangspunkt ist damit: Die Länder dürfen die Aufnahme von Flüchtlingen betreiben, soweit das Grundgesetz dies nicht ausdrücklich allein dem Bund vorbehält. Dabei können je nach Maßnahme einerseits Art. 32 Abs. 1 GG, andererseits die innerstaatliche Kompetenzaufteilung nach Art. 30, 70 ff., 83 ff. GG relevant werden. Ebenso etwa Fastenrath/Groh, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, 43. Erg.-Lfg. IV/14, Art. 32 Rn. 19 f.; eine Gegenauffassung sieht dagegen einen grundsätzlichen Vorrang des Bundes in Fragen des Auswärtigen, prüft aber ebenso die Kompetenz im Einzelfall in Abhängigkeit von der Art der Maßnahme, so etwa Kem- pen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018,
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12 Art. 32 Rn. 12 f.; Wollenschläger, in: Dreier (Hrsg.) Grundgesetz, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 32 Rn. 16. II. (26) Die Aufnahme von Flüchtenden durch die Bundesländer als innerstaatliche Maß- nahme Bei der Aufnahme von Flüchtenden durch die Bundesländer handelt es sich um eine Maßnahme der Länder, die diese innerhalb ihres Hoheitsgebietes treffen. Zunächst ist für diese der verfas- sungsrechtliche Rahmen zu prüfen (1.). Sodann ist § 23 Abs. 1 AufenthG, wonach die Länder Flüchtlingen aus humanitären Gründen Aufenthaltserlaubnisse erteilen können, näher in den Blick zu nehmen (2.). 1. (27) Verfassungsrechtlicher Rahmen Der verfassungsrechtliche Rahmen der Länder, innerstaatliche Maßnahmen zugunsten von be- sonders vulnerablen Personen, die sich als Flüchtende im Ausland befinden, zu ergreifen, ist weit. Vor allem steht die Kompetenz des Bundes für die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten nach Art. 32 Abs. 1 GG solchen Maßnahmen nicht entgegen. Denn nach der Rechtspre- chung erfasst die Vorschrift keine innerstaatlichen Maßnahmen, die sich nur mittelbar auf die Beziehungen zu anderen Staaten auswirken. „Art. 32 Abs. 1 GG regelt nur die auswärtigen Beziehungen zwischen Völkerrechtssubjekten […]. Innerstaatliche Maßnahmen zum Schutz der auswärtigen Beziehungen oder mit Auswirkungen auf die auswär- tigen Beziehungen sind in der Regel nicht Akte der auswärtigen Ge- walt.“ (BVerwGE 131, 316 Rn. 85 – juris; ebenso Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 73 Rn. 3). (28) Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass es vorliegend auch um die Aufnahme von Flüchtlingen geht, die sich bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufhalten, insbesondere entfalten Art. 23 Abs. 2, Abs. 4-6 GG, welche die Beteiligung der deutschen Bundesländer über den Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union regeln, keine Sperrwirkung dahin- gehend, dass die Länder bei jeder Maßnahme mit EU-Bezug auf das Verfahren nach Art. 23 GG verwiesen wären.
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13 (29) Zwar ist der Begriff der „Angelegenheiten der Europäischen Union“ gem. Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG weit zu verstehen. Er erfasst nicht nur EU-Rechtsetzungsakte sowie Vorhaben im Sinne der Legaldefinition in § 5 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deut- schem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG), sondern auch Vor- gänge einschließlich zwischenstaatlicher Vereinbarungen außerhalb der EU-Verträge, die „in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Recht der Europäischen Union stehen“, BVerfG, Urteil v. 19.06.2012 – 2 BvE 4/11, BVerfGE 131, 152 (199); Koch, in: v. Arnauld/Held, Systematischer Kommentar zu den Lissa- bon-Begleitgesetzen, 2. Aufl. 2018, § 10 Rn. 13 ff. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht auch die Einrichtung des Europäi- schen Stabilitätsmechanismus (ESM) sowie die Vereinbarung des Euro-Plus-Pakts als Angele- genheiten der Europäischen Union i.S.v. Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG angesehen. BVerfG, Urteil v. 19.06.2012 – 2 BvE 4/11, BVerfGE 131, 152, 215 ff. (30) Hintergrund dieser weiten Auslegung ist der Zweck des Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG, eine möglichst effektive Mitwirkung der Bundesländer über den Bundesrat (und des Bundestages) an der Wil- lensbildung der Bundesregierung im Bereich europapolitischer Maßnahmen sicherzustellen. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL (August 2019), Art. 23 Rn. 147; s.a. BVerfG, Urteil v. 19.06.2012 – 2 BvE 4/11, BVerfGE 131, 152, 204 mit besonderem Augenmerk auf die Unterrichtungspflichten der Bundesregierung nach Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG. (31) Dieser Zweck verbietet es aber, die weite Auslegung gleichsam gegen die Länder zu wenden und sie für jede Maßnahme, welche in einem Näheverhältnis zum EU-Recht steht, auf das Ver- fahren nach Art. 23 Abs. IV-VI GG zu verweisen. (32) Vielmehr entfaltet das spezielle Verfahren der Art. 23 Abs. IV-VI GG nur für den Fall eine Sperrwirkung, in dem bereits ein Handeln der Europäischen Union derart Gestalt angenommen hat, dass eine Willensbildung der Bundesregierung, an welcher der Bundesrat sodann zu betei- ligen wäre, überhaupt stattfinden kann. Entsprechend wurde der Bundesrat im Vorfeld des Be- schlusses des Rates vom 22.09.2015 über die Umsiedlung von Drittstaatsangehörigen zuguns- ten von Italien und Griechenland,
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14 Beschluss (EU) 2015/1601 des Rates v. 22.09.2015, ABl. L 248 v. 24.09.2015, S. 80 ff. (dazu auch unten, Rn. (75) ff.) selbstverständlich gem. Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. §§ 3, 5 des Gesetzes über die Zusam- menarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG) be- teiligt. BR-Drs. 415/15 v. 13.09.2015 sowie Beschlussdrucksache BR-Drs. 415/15(B) v. 16.10.2015. (33) Außerhalb entsprechender Vorgänge greift hingegen die allgemeine Länderzuständigkeit nach Art. 30 GG, welche in den Grenzen des Art. 32 Abs. 1 GG, wie gesehen, auch Maßnahmen zulässt, welche sich mittelbar auf die Beziehungen zu anderen Staaten auswirken. (34) Art. 23 Abs. 2, 4-6 GG entfalten hier lediglich insofern Wirkung, als dass sie verdeutlichen, dass dem Prinzip der Bundestreue (dazu im Einzelnen unten, Rn. (64) ff.) im Bereich der Eu- ropapolitik eine besondere Bedeutung zukommt. BVerfG, Urteil v. 22.03.1995 – 2 BvG 1/89, BVerfGE 92, 203, 230 ff. (zwar noch zur Rechtslage nach der Einheitlichen Europäischen Akte, die Argumentation gilt mit Blick auf die gestärkten Mitwirkungsrechte des Bundesrates für Art. 23 Abs. 2, 4-6 GG aber nunmehr erst recht; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL (August 2019), Art. 23 Rn. 145. 2. Die Anordnung der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 23 Abs. 1 AufenthG (35) § 23 Abs. 1 AufenthG bestimmt ausdrücklich, dass die obersten Landesbehörden unter anderem aus humanitären Gründen anordnen können, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. (36) Diese Befugnis gilt unabhängig davon, wo sich die betroffenen Flüchtlingen befinden. Die An- ordnung kann sich mithin auf Flüchtende beziehen, die sich bereits im Inland aufhalten, aber auch auf solche, die sich im Ausland befinden, sei es in einem anderen EU-Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat. BT-Drs. 15/420, S. 77; Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 23 Rn. 4; Hecker, in: Kluth/Heusch,
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15 BeckOK Ausländerrecht, 24. Edition (01.11.2016), AufenthG § 23 Rn. 7. a) (37) Die Rechtsnatur der Anordnung der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 23 Abs. 1 AufenthG § 23 Abs. 1 AufenthG begründet eine eigene Aufnahmebefugnis der Bundesländer. Sie besteht neben den Ermächtigungen des Bundesministeriums des Innern (BMI) nach §§ 22, 23 Abs. 2, 4 AufenthG; die Gewährung von vorübergehendem Schutz auf Grundlage eines Beschlusses des Rats der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2001/55/EG, Richtlinie 2001/55/EG des Rates v. 20.07.2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Fall eines Massen- zustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer aus- gewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahmen verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. 2001 L 212, S. 12 ff., an dem die Bundesländer nach Maßgabe des Art. 23 GG i.V.m. dem EUZBLG zu beteiligen sind, richtet sich dagegen nach § 24 AufenthG. BT-Drs. 15/420, S. 77; Hecker, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländer- recht, AufenthG § 23 Rn. 6; Bergmann/Röcker, in: Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 23 Rn. 2. (38) Die Länderbefugnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG bleibt insbesondere von sog. Resettlement- Programmen des Bundes nach § 23 Abs. 4 AufenthG unberührt. Denn diese dienen anders als jene nicht lediglich der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, sondern der Neuansiedlung, d.h. der dauerhaften Ansiedlung ausgewählter Schutzsuchender, denen entsprechend eine Nieder- lassungserlaubnis erteilt wird, und richtet sich entsprechend ausschließlich an Flüchtende, die sich noch im Ausland aufhalten. Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Ausschuss-Drs. 18 (4)344, S. 9, 14; BR-Drs. 642/14, S. 45; Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Aus- länderrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 23 Rn. 31. (39) Dieser grundlegende Unterschied zwischen Resettlement einerseits und Landesaufnahmepro- grammen andererseits wird auch nicht etwa dadurch infrage gestellt, dass nach § 23 Abs. 4 S. 2
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16 AufenthG die Möglichkeit besteht, die Verteilungs- und Zuweisungsregeln des § 24 Abs. 3-5 AufenthG zur Anwendung zu bringen. Diese Möglichkeit dient einzig der notwendigen landes- internen Verteilung von Resettlement-Flüchtlingen. Sobald eine Niederlassungserlaubnis erteilt ist, endet entsprechend die nach § 23 Abs. 4 S. 2 i.V.m. § 24 Abs. 3, 4 AufenthG ergangene Zuweisung an ein bestimmtes Land oder einen bestimmten Ort. Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Ausschuss-Drs. 18 (4)344, S. 9; Göbel-Zimmermann, in: Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 23 Rn. 27. (40) Sinn und Zweck der ministeriellen Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG besteht darin, eine landeseinheitliche Behandlung bestimmter Personengruppen zu erreichen. Sie ist keine Rechts- norm, sondern eine für die nachgeordneten Landesbehörden rechtlich verbindliche Verwal- tungsvorschrift, die bewirkt, dass eine Individualprüfung durch die Ausländerbehörde in Hin- blick auf die Erteilungsvoraussetzungen entbehrlich wird. Die Landesregierung kann die Auf- nahme zeitlich und räumlich beschränken sowie Voraussetzungen für die Erteilung einer Auf- enthaltserlaubnis festlegen, anknüpfend etwa an das Alter oder den Familienstand der Betroffe- nen, aber auch an die Übernahme bestimmter Kosten durch private Dritte (vgl. § 23 Abs. 1 S. 2 AufenthG). Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Aufnahmepro- gramme der Länder nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz, WD 3-3000- 223/18, 2018, 10; Bergmann/Röcker, in: Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 23 Rn. 4 ff. b) Das Vorliegen eines humanitären Grundes (41) Die Länder sind nach § 23 Abs. 1 AufenthG weitgehend frei, entsprechende gruppenbezogene Anordnungen auszugestalten, die von der humanitären Zielsetzung der Vorschrift getragen sind. Anders als nach § 22 AufenthG müssen die humanitären Gründe nicht „dringend“ sein. (42) Bei der Beurteilung des Vorliegens humanitärer Gründe kommt den Ländern ein weites politi- sches Entschließungs- und Ausgestaltungsermessen zu. So betont das Bundesverwaltungsge- richt, es handele sich um „[…] Ermessen, das lediglich durch die im Gesetz genannten Motive („aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung
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17 politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“) dahin be- grenzt ist, dass eine Anordnung nicht aus anderen Gründen erlassen werden darf. […] Aus der Natur der Sache folgt, dass die oberste Lan- desbehörde weitgehend frei ist, wie sie die politischen Interessen der Bundesrepublik definiert und wann sie deshalb die Voraussetzungen für den Erlass einer Anordnung als gegeben ansieht. Es handelt sich um eine politische Entscheidung, die grundsätzlich – mögliche Ausnahmen sind hier nicht zu erörtern – keiner gerichtlichen Überprüfung unter- liegt.“ (BVerwGE 112, 63, Rn. 14 – juris; ebenso Hertel/Karpenstein, Humanitäre Landesaufnahme und der Bund – zur Reichweite des „Ein- vernehmens“ des Bundesinnenministeriums gem. § 23 I des Aufent- haltsgesetzes, ZAR 2015, 373, 375). aa) (43) Die Situation vulnerabler Personen auf den griechischen Inseln Möglich ist es damit auch, die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in einem Bundesland abs- trakt-generell an all jene Ausländer anzuordnen, die als besonders vulnerable Personen, insbe- sondere als unbegleitete minderjährige Flüchtende oder als Kinder mit ihren Müttern, auf den griechischen Inseln angekommen sind und dort leben. Denn die prekäre Situation von Flücht- lingen in den Aufnahmelagern auf den griechischen Inseln, insbesondere die Lage (unbegleite- ter) Kinder und ihrer Mütter, stellt nach dem Vorgesagten zweifellos einen humanitären Grund nach § 23 Abs. 1 AufenthG dar. (44) Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass sich die Betroffenen bereits innerhalb der Euro- päischen Union befinden. Denn eine humanitäre Notlage ist nicht nur anzunehmen, solange die Flüchtenden sich auf der Fluchtroute in die Europäische Union befinden, sondern auch dann, wenn sie die Europäische Union schon erreicht haben, die dortige Versorgung aber, wie im Fall besonders vulnerabler Personen auf den griechischen Inseln, wegen massiver Überbelegung derart prekär ist, dass nicht einmal die Grundbedürfnisse adäquat befriedigt werden können. § 23 AufenthG unterscheidet nicht nach dem Ort der humanitären Notlage – und schon gar nicht danach, ob diese Notlage innerhalb oder außerhalb Europas besteht. Insofern ist die derzeitige Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtender auf den griechischen Inseln derjenigen von Flüchtlingen vergleichbar, die sich auf zivilen Rettungsschiffen befinden: Ihre Notlage setzt sich, auch nachdem sie der unmittelbaren Lebensgefahr entronnen sind, wegen der Unterver- sorgung sowie der physischen und psychischen Belastungen fort. Es liegt daher ohne Zweifel ein humanitärer Grund i.S.v. § 23 Abs. 1 AufenthG vor.
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18 Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Aufnahmepro- gramme der Länder nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz, WD 3-3000- 223/18, 2018, 10. bb) Die Situation vulnerabler Personen an der griechisch-türkischen Grenze (45) Gleiches dürfte für die aktuelle Situation an der deutsch-griechischen Grenze gelten, sofern sich dort besonders vulnerable Personen aufhalten. Auch insofern sind die deutschen Bundesländer berechtigt, nach § 23 Abs. 1 AufenthG die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen insbesondere an unbegleitete minderjährige Flüchtende bzw. an Kinder und ihre Mütter zu erteilen. (46) Für eine direkte Aufnahme solcher Flüchtender aus der Türkei spricht zudem, dass sie sich – wie auch die Aufnahme vulnerabler Personen aus den Lagern auf den griechischen Inseln – auf Flüchtende bezieht, die die Fluchtroute bereits weitgehend hinter sich gebracht haben. Auf diese Weise würde diesen Menschen die weitere Flucht, ggf. über das Mittelmeer, erspart. Zu- gleich dürften die befürchteten „Pull-Effekte“ durch ein solches Vorgehen weitgehend margi- nalisiert werden. (47) c) Das Erfordernis des Einvernehmens des Bundesministeriums des Innern nach § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG aa) Keine wirksame Anordnung der Länder ohne Einvernehmen Allerdings können die Länder gemäß § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG eine Anordnung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur treffen, wenn das BMI sein Einvernehmen erteilt. Ohne ein sol- ches Einvernehmen ist eine erteilte Anordnung eines Landes unwirksam und damit rechtlich unverbindlich. BVerwG, NvwZ-RR 1997, 568, 569. (48) In der Vergangenheit ist ein Einvernehmen des BMI regelmäßig durch Bleiberechtsregelungen auf Innenministerkonferenz (IMK)-Ebene ergangen. Solche Beschlüsse der IMK-Konferenz begründen allerdings lediglich eine Vermutung eines Einvernehmens. Gesetzlich notwendig ist ein solcher Beschluss nicht. Göbel-Zimmermann, in: Huber (Hrsg.), Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 23 AufenthG Rn. 17.
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19 bb) (49) Inhaltlich beschränktes Einvernehmenserfordernis des Bundesinnenministeriums Mit dem oben genannten, weitgehenden politischen Gestaltungsspielraum der Länder wäre es jedoch unvereinbar, könnte das BMI auf die beschriebene politische Entscheidungsfreiheit der Länder über das in § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG normierte Einvernehmenserfordernis inhaltlich ebenso frei Einfluss nehmen. Der Bund könnte anderenfalls so weitgehende Vorgaben machen, dass sich die politische Entscheidungsfreiheit der Länder auf ein „Ja“ oder „Nein“ zu einem vom Bund aufgelegten Programm beschränken würde. Hätte der Bundesgesetzgeber dies an- ordnen wollen, hätte er deshalb formuliert, dass der Bund ein Aufnahmeprogramm auflegen könne und die Länder das Recht hätten, zu entscheiden, ob sie dieses für sich anwenden wollen. Dies hat er nicht getan. Der Bundesgesetzgeber hat vielmehr das Einvernehmenserfordernis ausdrücklich auf Gründe „zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit“ beschränkt: Hertel/Karpenstein, Humanitäre Landesaufnahme und der Bund – zur Reichweite des „Einvernehmens“ des Bundesinnenministeriums gem. § 23 I des Aufenthaltsgesetzes, ZAR 2015, 373, 375 f. (50) Das Bundesverwaltungsgericht verstand im Jahr 2000 für die inhaltlich entsprechende Vorgän- gerregelung des § 32 AuslG diese Anforderung wie folgt: „Das Erfordernis des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern dient zwar der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit, soll aber le- diglich verhindern, dass einzelne Bundesländer sich durch Erlass ent- sprechender Anordnungen zu weit von einer bundeseinheitlichen Rechtsanwendung entfernen.“ (BVerwGE 112, 63, Rn. 22 – juris). (51) Schon daraus ergibt sich ein erheblicher Gestaltungsspielraum der Länder. Der Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens gibt dem Bund hiernach nur die Möglichkeit, einen äußersten Rahmen abzustecken, in welchem sich die Landes-Aufnahmeprogramme bewegen können. Ins- besondere dient das Einvernehmenserfordernis keineswegs dazu, dem Bund zu ermöglichen, das weitgehende politische Ermessen der Länder durch eigene Maßgaben zu beschränken. Viel- mehr soll das Einvernehmen des BMI verhindern, dass sich einzelne Bundesländer zu weit von der bundeseinheitlichen Rechtsanwendung entfernen und dadurch die Interessen anderer Län- der beeinträchtigen. Amtl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung für ein Zu- wanderungsgesetz, BT-Drs. 15/420, S. 77; Hertel/Karpenstein, Huma-
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20 nitäre Landesaufnahme und der Bund – zur Reichweite des „Einverneh- mens“ des Bundesinnenministeriums gem. § 23 I des Aufenthaltsgeset- zes, ZAR 2015, 373, 375 ff. (52) Daraus folgt, dass es dem BMI verwehrt ist, sein Einvernehmen an Bedingungen zu knüpfen, welche nicht vom Zweck der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit getragen sind. Dies gilt etwa für die vom BMI in der Vergangenheit mehrfach formuliere Maßgabe, Aufnahmeprogramme durch die Landeshaushalte „auskömmlich zu finanzieren“. Hertel/Karpenstein, Humanitäre Landesaufnahme und der Bund – zur Reichweite des „Einvernehmens“ des Bundesinnenministeriums gem. § 23 I des Aufenthaltsgesetzes, ZAR 2015, 373, 376. (53) Der inhaltlichen Beschränkung des Einvernehmenserfordernisses entspricht es ferner, dass ein Ausländer keinen Anspruch gegenüber einem Land hat, ebenso behandelt zu werden wie durch ein anderes Land. Hierin zeigt sich, dass das AufenthG einer Vielfalt humanitärer Ansätze ver- schiedener Länder bei der Anwendung des § 23 Abs. 1 AufenthG Raum gibt. BVerwGE 112, 63, Rn. 22 – juris; ähnlich auch Bergmann/Röcker, in: Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 23 Rn. 9; Huber/Eichenhofer/Endres de Oliveira, Aufenthaltsrecht, 2017, Rn. 461. cc) Verschärfte Anforderungen an ein verweigertes Einvernehmen kraft verfassungsrechtli- cher Erforderlichkeitsklausel (54) Schon aus dem zitierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes aus dem Jahr 2000 folgt, dass der Spielraum der Länder beträchtlich ist. Jedoch dürfte die Rechtsentwicklung diesen Spiel- raum seither nochmals vergrößert haben. (55) Dies folgt aus der verfassungsrechtlichen Grundlage des § 23 Abs. 1 AufenthG. Denn insoweit beruht das Gesetz auf der konkurrierenden Bundesgesetzgebungskompetenz für das Aufent- haltsrecht der Ausländer aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 GG. Für diese Vorschrift kann sich der Bund nicht auf seine ausschließliche Kompetenz für die Freizügigkeit und Ein- und Auswanderung nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG berufen. Denn für Regeln über den Aufenthalt von Ausländern ist Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 GG eine vorrangige Spezialregelung. Auch die konkurrierende Bundes-
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