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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Abiturklausuren Berufskolleg ITA 2018-2020

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Ministerium für                                               Haupttermin 2019
Schule und Bildung                                              GK Deutsch-Inf
des Landes Nordrhein-Westfalen                               Auswahlaufgabe 1




                                     BERUFSKOLLEG
                                     Berufliches Gymnasium




                      Zentrale Abiturprüfung 2019
                              Haupttermin
                               10.05.2019


                                  Grundkursfach
                                     Deutsch


                                 Fachbereich Informatik
                                 Auswahlaufgabe 1


       Unterlagen für die Schülerinnen und Schüler




Nur für den Dienstgebrauch!                                       Seite 1 von 4
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Ministerium für                                                               Haupttermin 2019
     Schule und Bildung                                                              GK Deutsch-Inf
     des Landes Nordrhein-Westfalen                                               Auswahlaufgabe 1

     Aufgabenstellung


                                                                                           Punkte

     1     Analysieren Sie den vorliegenden Textauszug aus dem Roman
           „Homo faber. Ein Bericht“ von Max Frisch.                                          70




     Material
     Max Frisch

     Homo faber
     Ich fühlte mich sehr unrasiert.
     Das Bad füllte sich nur sehr langsam und dampfte, Hanna ließ kaltes Wasser hinzu, als
     könnte ich es nicht selber tun; ich saß auf einem Hocker, untätig wie ein Gast, meine Füße
     schmerzten sehr, Hanna öffnete das Fensterchen, im Dampf sah ich nur noch ihre
 5   Bewegungen, die sich nicht verändert haben, überhaupt nicht.
     „Ich habe immer gemeint, du bist wütend auf mich“, sage ich, „wegen damals.“
     Hanna nur verwundert.
     „Wieso wütend? Weil wir nicht geheiratet haben?“ sagt sie.
     „Das wäre ein Unglück gewesen –“
10   Sie lachte mich geradezu aus.
     „Im Ernst“, sagt sie, „das hast du wirklich gemeint, daß ich wütend bin, Walter,
     einundzwanzig Jahre lang?“
     Mein Bad war voll.
     „Wieso ein Unglück?“ frage ich –
15   Sonst haben wir nie wieder über die Heiratsgeschichte von damals gesprochen. Hanna hatte
     recht, wir hatten andere Sorgen.
     „Hast du gewußt?“ frage ich, „daß die Mortalität bei Schlangenbiß nur drei bis zehn Prozent
     beträgt?“
     Ich war erstaunt.
20   Hanna hält nichts von Statistik, das merkte ich bald. Sie ließ mich einen ganzen Vortrag
     halten – damals im Badezimmer – über Statistik, um dann zu sagen:
     „Dein Bad wird kalt.“
     Ich weiß nicht, wie lange ich in jenem Bad gelegen habe, meine verbundenen Füße auf dem
     Rand der Wanne – Gedanken über Statistik, Gedanken an Joachim, der sich erhängt hat,
25   Gedanken an die Zukunft, Gedanken, bis mich fröstelte, ich wußte selbst nicht, was ich
     dachte, ich konnte mich sozusagen nicht entschließen, zu wissen, was ich denke. Ich sah die


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Ministerium für                                                             Haupttermin 2019
     Schule und Bildung                                                            GK Deutsch-Inf
     des Landes Nordrhein-Westfalen                                             Auswahlaufgabe 1

     Fläschchen und Dosen, Tuben, lauter damenhafte Utensilien, ich konnte mir Hanna schon
     nicht mehr vorstellen, Hanna damals, Hanna heute, eigentlich keine von beiden. Ich fröstelte,
     aber ich hatte keine Lust, mein blutiges Hemd nochmals anzuziehen – ich antwortete nicht,
30   als Hanna mich rief.
     Was mit mir los sei?
     Ich wußte es selbst nicht.
     Ob Tee oder Kaffee?
     Ich war erschöpft von diesem Tag, daher meine Entschlußlosigkeit, was sonst nicht meine
35   Art ist, und daher die Spintisiererei1 (die Badewanne als Sarkophag; etruskisch!), geradezu
     ein Delirium von fröstelnder Entschlußlosigkeit –
     „Ja“, sage ich, „ich komme.“
     Eigentlich hatte ich nicht im Sinn gehabt, Hanna wiederzusehen; nach unsrer Ankunft in
     Athen wollte ich sofort auf den Flugplatz hinaus –
40   Meine Zeit war abgelaufen.
     Wie ich den Citroën, den Williams mir geliehen hatte und der in Bari stand, nach Paris
     zurückbringe, war mir rätselhaft. Ich wußte nicht einmal den Namen der betreffenden
     Garage!
     „Ja!“ rufe ich. „Ich komme!“
45   Dabei blieb ich liegen.
     Die Via Appia –
     Die Mumie im Vatikan –
     Mein Körper unter Wasser –
     Ich halte nichts von Selbstmord, das ändert ja nichts daran, daß man auf der Welt gewesen
50   ist, und was ich in dieser Stunde wünschte: Nie gewesen sein!
     „Walter“, fragt sie, „kommst du?“
     Ich hatte die Badezimmertür nicht abgeschlossen, und Hanna (so dachte ich) könnte ohne
     weiteres eintreten, um mich von rückwärts mit einer Axt zu erschlagen; ich lag mit
     geschlossenen Augen, um meinen alten Körper nicht zu sehen.
55   Hanna telefonierte.
     Warum ging‘s nicht ohne mich!
     Später im Laufe des Abends, redete ich wieder, als wäre nichts dabei. Ohne Verstellung: es
     war eigentlich nichts dabei, Hauptsache, daß Sabeth gerettet war. Dank Serum. Ich fragte
     Hanna, wieso sie nicht an Statistik glaubt, statt dessen aber an Schicksal und Derartiges.
60   „Du mit deiner Statistik!“ sagt sie. „Wenn ich hundert Töchter hätte, alle von einer Viper
     gebissen, dann ja! Dann würde ich nur drei bis zehn Töchter verlieren. Erstaunlich wenig! Du
     hast vollkommen recht!“
     Ihr Lachen dabei.

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         eigenartiger, abwegiger Gedankengang

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Ministerium für                                                               Haupttermin 2019
     Schule und Bildung                                                              GK Deutsch-Inf
     des Landes Nordrhein-Westfalen                                               Auswahlaufgabe 1

     „Ich habe nur ein einziges Kind!“ sagt sie.
65   Ich widersprach nicht, trotzdem bekamen wir beinahe Streit, plötzlich hatten wir die Nerven
     verloren. Es begann mit einer Bemerkung meinerseits.
     „Hanna“, sage ich, „du tust wie eine Henne!“
     Es war mir so herausgerutscht.
     „Entschuldige“, sage ich, „aber es ist so!“
70   Ich merkte erst später, was mich ärgerte: – Ich war aus dem Bad gekommen, Hanna am
     Telefon, sie hatte das Hospital angerufen, während ich im Badezimmer war – sie redete mit
     Elsbeth.
     Ich hörte alles, ohne zu wollen.
     Kein Wort über mich. –
75   Sie redete, als gebe es nur Hanna, die Mutter, die um Sabeth gebangt hatte und sich freute,
     daß das Mädchen sich langsam wohler fühlte, sogar reden konnte, sie redeten deutsch, bis
     ich ins Zimmer trat, dann wechselte Hanna auf griechisch. Ich verstand kein Wort. Dann
     hängte sie den Hörer auf.
     Die Rechtschreibung folgt der Textvorlage.

     (701 Wörter)



     Materialgrundlage
     Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/Main 1977. S. 134–137


     Zugelassene Hilfsmittel
        Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung
        Fremdwörterbuch
        unkommentierte Textausgabe der vorgegebenen Lektüre


     Punktevergabe und Arbeitszeit

     Inhaltliche Leistung (Verstehensleistung)              70 Punkte

     Darstellungsleistung                                   30 Punkte

     Gesamtpunktzahl                                       100 Punkte


     Bearbeitungszeit                                     180 Minuten

     zusätzliche Auswahlzeit                                30 Minuten




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