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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Abiturklausuren Berufskolleg ITA 2018-2020“
Ministerium für Haupttermin 2019 Schule und Bildung GK Deutsch-Inf des Landes Nordrhein-Westfalen Auswahlaufgabe 2 BERUFSKOLLEG Berufliches Gymnasium Zentrale Abiturprüfung 2019 Haupttermin 10.05.2019 Grundkursfach Deutsch Fachbereich Informatik Auswahlaufgabe 2 Unterlagen für die Schülerinnen und Schüler Nur für den Dienstgebrauch! Seite 1 von 4
Ministerium für Haupttermin 2019 Schule und Bildung GK Deutsch-Inf des Landes Nordrhein-Westfalen Auswahlaufgabe 2 Aufgabenstellung Punkte 2 Analysieren Sie den Text „Und am Abend schickt uns unsere App ins Bett“ von Peter Praschl. 70 Material Peter Praschl Und am Abend schickt uns unsere App ins Bett Das Ich hatte es auch schon mal leichter. Wenn es müde war, ging es ins Bett, bei Verstimmung half ein Bierchen, bei Magenverstimmung eine Rennie, bei gelegentlichen Selbstzweifeln: Augen zu und durch. Jetzt kommt man den Schadensmeldungen, die einem vom eigenen Telefon geschickt werden, gar nicht mehr hinterher. Die Schlafeffizienz liegt bei 5 60 Prozent, die Gute-Laune-Werte sind mau, die Ernährung stellt die Ernährungspyramide auf den Kopf, und, unter uns beiden: Der Lebensstil, den Sie sich da angewöhnt haben, ist unter aller Kanone. Noch ist es nur eine Avantgarde, die bei dem mitmacht, was in der IT-Branche als nächstes großes Ding und deswegen als Milliardenmarkt gilt: der permanenten Überwachung des 10 eigenen Gesundheits-, Fitness-, Ernährungs- und Stimmungsstatus durch mobile Sensoren (Wearables), Handy-Apps und Auswertungssoftware, die die erhobenen Werte in anschauliche Visualisierungen übersetzt. Doch wenn Apples Smartwatch im nächsten Frühjahr den Markt erreicht, könnte das Self-Tracking den letzten Schub bekommen, der ihm zum Massenphänomen fehlt. 15 Die Selbstüberwachungs-App Healthbook auf der neuen iPhone-Generation wird einem dann mitteilen können: Blutdruck, Pulsschlag, Bewegungsstatus, Blutzuckerspiegel, Sauerstoffsättigung, Atmung. Wer sich davon nicht ausreichend informiert fühlt, kann sich auf einem längst unübersichtlich gewordenen Markt für Gesundheits-Apps ein für die eigenen Bedürfnisse maßgeschneidertes, stets präsentes Diagnostiklabor zusammenstellen. 20 Mittlerweile werden sogar Apps entwickelt, die Kaubewegungen überwachen; der Sensor befindet sich in einem künstlichen Zahn. Schon wittern Krankenversicherungen im emergenten1 Health-App-Markt die Chance zur Kostendämpfung durch permanente Klienten-Überwachung. Vor Kurzem hat die Generali2 günstigere Tarife für jene angeboten, die sich dazu bereit erklären, ihre Patientendaten von 25 einer App namens „Vitality“ übermitteln zu lassen. Und in Kalifornien gibt es bereits erste Unternehmen, in denen Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeiter durch Apps überwacht werden. Selbstverständlich wird dazu niemand gezwungen, heißt es. Andererseits kann man 1 emporsteigend, expandierend 2 ein Versicherungsunternehmen Nur für den Dienstgebrauch! Seite 2 von 4
Ministerium für Haupttermin 2019 Schule und Bildung GK Deutsch-Inf des Landes Nordrhein-Westfalen Auswahlaufgabe 2 sich leicht vorstellen, wie schwer es fällt, auf die Privatheit der eigenen Daten zu pochen, wenn alle anderen in der Umgebung sich dann fragen, was man denn zu verbergen habe. 30 Die grandiose und tatsächlich neue Leistung von Self-Tracking besteht darin, Big Data auch über kleine Würstchen, den Einzelnen also, zu erheben. Der Körper, diese geheimnisvolle Maschine, die man als gesunder Mensch bislang nur einmal jährlich zur Inspektion brachte, produziert Werte im Übermaß. Durch die Miniaturisierung der Computer (und der Kosten für ihre Anschaffung) lassen sich diese Werte nun von jedem selbst sammeln und nach sehr viel 35 mehr Richtungen hin auswerten, als den Labordiagnostikern bisher eingefallen ist. […] Werte […] lassen sich optimieren, ein bisschen was geht immer. Risikolos lässt sich prognostizieren, dass die Self-Tracker einen neuen Schub der Selbstverbesserung auslösen werden, schließlich lässt es keiner dabei bewenden, seinen Blutzuckerspiegel oder seine Stimmungs-Charts mit interesselosem Wohlgefallen zu betrachten. Mittlerweile ist das 40 Internet voll mit Erfolgsgeschichten von Self-Trackern, denen die maschinell erhobene Kenntnis ihres Lebens den nötigen Push zur Selbstvervollkommnung gegeben hat. Einem gewissen Dave Asprey soll es sogar gelungen sein, seine Orgasmen auf 15 Minuten auszudehnen. Manche halten dergleichen für bescheuert, auch deswegen, weil es nicht besonders sinnvoll 45 erscheint, dass gesunde, weiße, mittelalterliche Männer, aus denen die Szene größtenteils besteht, Körper überwachen, die der Dauerüberwachung gar nicht bedürften, während die Health Apps jene, die sie tatsächlich brauchen könnten, noch nicht erreicht haben: Ältere etwa oder chronisch Kranke. Doch der Einwand verkennt, worum es geht. Ziel ist weniger die Vermeidung und Früherkennung von Krankheiten, sondern die Optimierung des Lebens. 50 Wer sich mit dessen Daten befasst, wird feststellen, dass er unter Gesichtspunkten effektiven Managements seinen Leib umgehend entlassen müsste: so viel unproduktive Zeit, so viele Lücken für Schlendrian. Dass der Selbstoptimierungsdrang zu einer Massenobsession geworden ist, kann nur bestreiten, wer die letzten zehn Jahre nie unter Menschen kam. Mittlerweile gehören 55 Zahnverblendungen, Botox-Injektionen und Nahrungsergänzungsmittel zum Standard der Lebensführung in der Mittelschicht, und selbst so bizarre und zynische Angebote wie die chirurgische „Vaginalverjüngung“ haben sich als Geschäftsmodelle erwiesen. Sei es, dass die Zeiten tatsächlich härter geworden sind oder dass man es sich nur einbildet: Es herrscht die Angst vor den Konsequenzen, wenn man sich nicht fit, gesund und jung hält. 60 Bisher war Selbstoptimierung etwas, zu dem sich vor allem Frauen genötigt fühlten – als Reaktion auf den ewigen Attraktivitätszwang, den der Verstand zwar durchschaut und verachtet, den das Gefühl aber doch nicht so umstandslos abschütteln kann. Die Self- Tracking-Szene gibt nun den Männern die Gelegenheit nachzuziehen, manche der Apps und Geräte, die auf den Markt kommen, wirken, als wären sie für virtuelle Penislängenvergleiche 65 erfunden worden. Doch der Eindruck, dass Self-Tracking Männersache ist, mag auch daran liegen, dass es bisher nur wenige Apps gibt, die auf die Bedürfnisse von Frauen eingehen. Das Apple-Healthbook zum Beispiel erhebt alles Mögliche, aber nicht etwas so Naheliegendes wie fruchtbare Tage. Braucht man das alles? Die Kritiker beantworten diese Frage mit einem erwartbaren 70 Einwand: Als einigermaßen bei Sinnen seiender Mensch wisse man auch ohne Apparate, wie es einem geht, schließlich gibt es so etwas wie Instinkte, Körpersignale und dergleichen mehr. So ähnlich haben sich auch die Arbeiter in den Fabriken, als es noch welche gab, Nur für den Dienstgebrauch! Seite 3 von 4
Ministerium für Haupttermin 2019 Schule und Bildung GK Deutsch-Inf des Landes Nordrhein-Westfalen Auswahlaufgabe 2 gegen die Zumutung gewehrt, ihre Produktivität zu analysieren. Der Rationalisierer, den die Unternehmensleitung vorbeischickte, fand dann doch immer jede Menge Leerlauf und 75 ungenutztes Potenzial. Am Ende gewinnen immer jene, die auf Excel-Tabellen nachschauen, ob die Benchmarks3 erfüllt oder verfehlt werden. Deswegen steht zu befürchten, dass sich der Idee, im Alltag herumzulaufen, als befände man sich auf einer Intensivstation, und sich von einem Mobiltelefonprogramm ins Bett schicken zu lassen, bald nur die üblichen Sturköpfe 80 verweigern werden können: übergewichtige Modernisierungsverlierer aus den unteren Klassen, denen ohnehin alles egal ist, oder jene Geistesaristokraten, die sich die Gesellschaft als vage Erinnerung daran leistet, dass es einmal eine Zeit gab, in der Verausgabung und souveräne Verachtung des Erbsenzählens wichtiger waren als das Optimum. 85 Was vom Leben mit Wearables wirklich zu halten ist, hat Karl Lagerfeld4 neulich erklärt: Ob er zu wenig geschlafen habe, wisse er schon selbst, dann sei er nämlich unleidlich. (959 Wörter) (Sprachliche Normverstöße im Originaltext wurden korrigiert.) Materialgrundlage Praschl, Peter: Und am Abend schickt uns unsere App ins Bett. In: welt.de vom 23.12.2014. URL: https://www.welt.de/kultur/article135666261/Und-am-Abend-schickt-uns-unsere-App-ins- Bett.html (Stand: 08.01.2019) Zugelassene Hilfsmittel Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung Fremdwörterbuch Punktevergabe und Arbeitszeit Inhaltliche Leistung (Verstehensleistung) 70 Punkte Darstellungsleistung 30 Punkte Gesamtpunktzahl 100 Punkte Bearbeitungszeit 180 Minuten zusätzliche Auswahlzeit 30 Minuten 3 Bezugswert bei einer vergleichenden Analyse; Vergleichsgröße 4 international bekannter deutscher Modeschöpfer Nur für den Dienstgebrauch! Seite 4 von 4