Lagebericht Algerien 2020
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Aktueller Lagebericht zu Algerien“
Die Lageberichte des Auswärtigen Amts sind Grundlage für fast alle Asylverfahren vor deutschen Verwaltungsgerichten. Sie sind nicht öffentlich zugänglich und als Verschlusssache eingestuft. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weist Anwält:innen sogar auf eine mögliche Strafbarkeit hin, sollten sie die Berichte weitergeben. Deswegen sorgen wir jetzt gemeinsam mit Pro Asyl selbst für Transparenz.
Diese Anfrage wurde als Teil der Kampagne „Lageberichte des Auswärtiges Amts“ gestellt.
1 VS-Nurfür den-Dienstgebraueh In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! AUSWÄRTIGES AMT Berlin, den 11.07.2020 Gz.: 508-516.80/3 DZA Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand: Juni 2020) Grundsätzliche Anmerkungen 1. Auftrag: Das Auswärtige Amt erstellt Lageberichte in Erfüllung seiner Pflicht zur Rechts- und Amtshilfe gegenüber Behörden und Gerichten des Bundes und der Länder (Art. 35 Abs. 1 GG, $$ 14, 99 Abs. 1 VwGO). Insoweit wird auf die Entscheidung des BVerfG vom 14.05.1996 (BVerfGE 94, 115) zu sicheren Herkunftsstaaten besonders hingewiesen, in der es heißt: "Angesichts der Tatsache, dass die Verfassung dem Gesetzgeber die Einschätzung von Auslandssachverhalten aufgibt..., fällt gerade den Auslandsvertretungen eine Verantwortung zu, die sie zu besonderer Sorgfalt bei der Abfassung ihrer einschlägigen Berichte verpflichtet, da diese sowohl für den Gesetzgeber wie für die Exekutive eine wesentliche Entscheidungsgrundlage bilden." Das Auswärtige Amt erstellt daher Lageberichte ausschließlich in eigener Verantwortung. 2. Funktion: Lageberichte sollen vor allem dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Verwaltungsgerichten als Entscheidungshilfe in Asylverfahren, aber auch den Innenbehörden der Länder bei ihrer Entscheidung über die Abschiebung ausreisepflichtiger Personen dienen. In ihnen stellt das Auswärtige Amt asyl- und abschiebungsrelevante Tatsachen und Ereignisse dar. Wertungen und rechtliche Schlussfolgerungen aus der tatsächlichen Lage haben die zuständigen Behörden und Gerichte selbst vorzunehmen. 3. Ergänzende Auskünfte: Über Lageberichte hinausgehende Anfragen von Behörden und Gerichten wird das Auswärtige Amt beantworten, soweit die Anfragen einen konkreten tatsächlichen Sachverhalt zum Gegenstand haben. Die Beantwortung von Fragen, die bereits in der Fragestellung eine rechtliche Wertung enthalten (z. B. "Besteht für den Kläger das Risiko einer politischen Verfolgung?"), fällt in die Zuständigkeit der Gerichte bzw. Innenbehörden, nicht aber des Auswärtigen Amts. 4. Quellen: Die Auslandsvertretungen sind angewiesen, sämtliche vor Ort zur Verfügung stehenden Erkenntnisse auszuwerten. Dies gilt insbesondere für Erkenntnisse lokaler Menschenrechtsgruppen und vor Ort vertretener Nichtregierungsorganisationen. Weitere Erkenntnisquellen sind Oppositionskreise, Rechtsanwälte, Botschaften westlicher Partnerstaaten, internationale Organisationen wie z. B. UNHCR oder IKRK, Regierungskreise sowie abgeschobene Personen. Darüber hinaus tauscht das Auswärtige Amt regelmäßig mit Vertretern von Nichtregierungsorganisationen (NROs) und dem UNHCR Informationen über die Lage in einzelnen Herkunftsländern aus. Dadurch sowie durch stets mögliche schriftliche Stellungnahmen erhalten die NROs und der UNHCR die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse zu den in den Lageberichten dargestellten Sachverhalten einzubringen. © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
2 VS-Nurfürden-Dienstgebraueh In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! 5. Aktualität: Lageberichte berücksichtigen die dem Auswärtigen Amt bekannten Tatsachen und Ereignisse bis zu dem jeweils angegebenen Datum der Erstellung. Die Aktualisierung der Lageberichte erfolgt in regelmäßigen Zeitabständen. Dabei geht das Auswärtige Amt auch Hinweisen auf evtl. in den Lageberichten enthaltene inhaltliche Unrichtigkeiten nach. Bei einer gravierenden, plötzlich eintretenden Veränderung der Lage erstellt das Auswärtige Amt einen ad hoc-Bericht. Wenn dies nicht möglich ist, werden die Empfängerinnen und Empfänger darauf hingewiesen, dass der betreffende Lagebericht nicht mehr der aktuellen Lage entspricht. Bei Anhaltspunkten für eine Veränderung der Lage, die den Empfängerinnen und Empfängern bekannt geworden sind, steht das Auswärtige Amt darüber hinaus jederzeit Für — auch telefonische - Auskünfte zur Verfügung. 6. Einstufung: Lageberichte sind als "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch” eingestuft. Nur dieses restriktive Weitergabeverfahren stellt sicher, dass die Berichte ohne Rücksichtnahme auf außenpolitische Interessen formuliert werden können. Die Schutzbedürftigkeit ist auch aus Gründen des Quellenschutzes und in Einzelfällen sogar im Interesse der persönlichen Sicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amts geboten. Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass die Lageberichte nicht an Dritte, die selbst weder verfahrensbeteiligt noch verfahrensbevollmächtigt in einem anhängigen Verfahren sind, weitergegeben werden dürfen. Die unbefugte Weitergabe dieser Informationen durch verfahrensbevollmächtigte Rechtsanwältinnen oder Rechtsanwälte stellt einen Verstoß gegen berufliches Standesrecht dar ($ 19 der anwaltlichen Berufsordnung) und kann entsprechend geahndet werden. Das Auswärtige Amt hat keine Einwände gegen die Einsichtnahme in diesen Lagebericht bei Verwaltungsgerichten durch Prozessbevollmächtigte, wenn die Bevollmächtigung in einem laufenden Verfahren nachgewiesen ist. Aus Gründen der Praktikabilität befürwortet das Auswärtige Amt, dass die Einsichtnahme unabhängig von örtlicher und sachlicher Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts, bei dem der/die Prozessbevollmächtigte im Einzelfall Einsicht nehmen möchte, möglich ist. 7. Besondere Hinweise zum Lagebericht Algerien: Das Auswärtige Amt verfügt über die deutsche Botschaft in Algier hinaus über eine Reihe von amtlichen und nichtamtlichen Quellen. Neben dem staatlichen Nationalen Menschenrechtsrat sind dies vw. a. nichtstaatliche Menschenrechtsorganisationen. Weitere wichtige Informationsgrundlagen sind staatliche und unabhängige Presse, (z. B. die Tageszeitungen „El Moudjahid“, „El Watan“, „Liberte“, „L’Expression“, „Le Soir“, „Le Quotidien d’Oran‘“, „Le Jeune Independant‘“, sowie „El Khabar“, „Echorouk“ und „Ennahar‘“), Online-Nachrichtenportale (z. B. „TSA“ oder „Algerie 1“) und regelmäßige Kontakte zu Politikern verschiedener Parteien sowie Rechtsanwälten, Journalisten und anderen Vertretern der Zivilgesellschaft. Außerdem sind Beiträge in den in Frankreich erscheinenden (Monats- und Wochen-) Zeitungen „Le Monde Diplomatique“, „Jeune Afrique“ sowie „Liberation“ und „Le Monde“ berücksichtigt worden. Daneben wurden u. a. Jolgende Dokumente ausgewertet: © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
3 VS-Nurfürden-Dienstgebraueh In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! e Amnesty International .e Dziri e Human Rights Watch e Reporters sans frontieres e US Department of State e VN-Menschenrechtsrat e Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 8. Karte: Algeria Report 2019 La reforme penitentiaire, n°. 9. Februar 2010 World Report 2020 Press Freedom Report 2019, Press Freedom Report 2020 Country Reports on Human Rights Practices, 2019: Algeria International Religious Freedom Report, 2018, Algeria Examen periodique universel — Rapport national presente conformement au paragraphe 5 de l’annexe älaresolution 16/21 du Conseil des droits de l’'homme, Algerie, 20.02.17 (24 Seiten) Compilation prepared by the Office ofthe High Commissioner for Human Rights in accordance with paragraph 5 of the annex to Human Rights Council resolution 16/21, 17.02.17 (13 Seiten) Summary of other stakeholders’ submissions on Algeria, 20.02.17 (13 Seiten) A.M. gegen Frankreich (Beschwerde Nr. 12148/18) vom 29.04.2019 Landkarte der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Library Map Collection — University of Texas at Austin (http://www.lib. utexas.edu/maps/algeria.html) Das Auswärtige Amt übernimmt keine Gewähr für die Richtigkeit des Inhalts der Karte. Es ist beabsichtigt, den Bericht jährlich zu aktualisieren. © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
4 VS-Nurfürden-Dienstgebraueh In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung .......eouessonsesnsssssssonennsnsnsnsnunsnnssnanssnssssnnsnnnenneenassesnesssnsennenssnensansensensnnssnssersnnsssnssnnrnnn 6 I. Allgemeine politische Lage........uunscossserssnsssnnsserenene Sensssssusnsnsnssssonnsnsnsnsnssunsnnsnssssnnsnssnnssnsnssannunsnen 7 1. Überblick ....assaesessanesssennsennennensnnsnenenennnnannnnnsnnnnnnnnnnnnnnnnennennennnnnnnenenennnnanennenanonnnann 7 2. Perspektiven der (jungen) algerischen Bevölkerung.......uenennennenenenneennnen: 8 3. Das Schicksal der „Verschwundenen“ ............22222000000000000nannnnsennnnnsnennonennnnnnnnnensnsnnnenannnenn 9 4. Justizsystem...ccesnenerseessessnnsnnnennnnnennensoennensnsnnnsnennsnnnnessannunnsnssansenenssessnessässsnssenssssnsssenne 9 5. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen .....eeesserseeseeseennenennennennn 9 I. Asylrelevante Tatsachen ..........cusssonssnnsssnsssnnssnnensensonsnnnnnsonsnnensnensnnnensnn erssnssessnonssssansesnsnsnsnnnsnne 10 1. Staatliche Repressionen............ur.uusssnssnersnnennnnnnnnennannnnnnnnnensnensnnensosenssenssserssssssnessnsnnnnsen 10 1.1. Politische Opposition ..............224204nnernernsnnnensnennonsnennnensannnnnnsenssnnssnnsnesssnsnensansnenssssnnn 11 1.2. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit ............. 11 1.3. Rassisch diskriminierende Gesetzgebung ................eerserseneneennonnensennennensennnnnnnn 13 1.4. Religionsfreiheit...................2..44442002n0nsennennnensneennessnnnnensnnnssnnnonsenssennnensnessensnnssenssssnnn 13 1.5. Strafverfolgungs- oder StrafzumessungspraxiS...ueessesennennennennensnenennonnenensonsennn 14 1.6. Militärdienst ..........ucesssessensessenneesensnnnnnensnnnnnnennnennnennensnnnnnnessnssenssenssesssensennarsnssnssnnn 15 1.7. Handlungen gegen Kinder.........nnnennenenenneesnnennennensennennennnennn 16 1.8. Geschlechtsspezifische Verfolgung ..........nuseeeseenesnenensensnnenennensnnnenennensenennnannnn 16 1.9. Exilpolitische Aktivitäten.......uussessseesenneseenennennesensennnnnnnensnnsnnensennnnensnnnnonsennsnnennen 17 2. Repressionen Dritter... ensassnssssnenenssensesennssssnssonsossnsssnssssnsssnnssnnssennnnnnsnsnnnneas „17 3. Ausweichmöglichkeiten ...............usserssenneneennnnnnnsnennennnnnnsonsansssssnnesnnnsonesonenansenssensanssnnsnen 18 III. Menschenrechtslage..........ccnssssnsssosssnsesenssnesnnnssnensnnsnnnensnonnsnennsnnsnnnannnsennssnnussnnnsennnssnnenssnssnennene 18 l. Schutz der Menschenrechte in der Verfassung ...........unserssersnessnessnenseennensnennnnnnnnnnenennnn 18 2. Folter ...eeeeeeneeesersennenenssnennnonnsenennnnnnennnnansonsnnnnnnnsnnensnsnsnorsnnnnssnsssnonssssnsnsenssnnsnsnsssersnnsnnnenenn 19 3. Todesstrafe .......uuunenesseessenennenensernnnnnnnnnennersnennnennennensnennennsnsssnssansnnssnsessnsnssssnesenssensnnsensntn 19 4. Sonstige menschenrechtswidrige Handlungen...................ourssensenssessenenenssnnnennnensennnnnn 20 5. Lage ausländischer Flüchtlinge ..............uusesseessessnsssensnesnnensensnnensennsensonsnnnsnenssnnsnnsnnennenene 20 IV. Rückkehrfragen ......u..ssossssnssssnnsssonnensorsssnenennussannsssnsnensnernnnnsnsannennansssennnssssnsonsnssnssnnnnnsnnnsennen 21 l. Situation für Rückkehrer ..........unsnesnrennsnnnnnesnnennonnennsnnennennnsnnensnnensnnnsnnnonsannnnnnsnnssansnen 21 1.1. Grundversorgung..........uuesesenerssnensnnenssnnnnnnnnsnnennnennnnansnnnsnnernsennnnnensononssnsnsnensesssssssnen 21 1.2. Medizinische Versorgung .............2240s2404sssnoennnnnenennernnnnennnnnnnennsanennansonssnnennnssennensanen 22 2. Behandlung von Rückkehrern ...........u..2usssesnensnersnnensnennnnnnnnsnnnensnnennensnnnrennsnnnnnsssnsentenen 22 3. Einreisekontrollen ................20.2202204200200n0nennernnennnrnnnennnnnnnennennesnennnesnsessnennsnennenserssnsssssannene 22 4. Abschiebewege........uureunnesssensnnsnnnernnnorznnnnnsnnnssnnensnnnenssnnnnnnnsnnnnsasassssnssnnsenssnsessssessnsnnenen 23 © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
5 VYS-Nurfürden-Bienstgebraueh In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! V. Sonstige Erkenntnisse über asyl- und abschiebungsrelevante Vorgänge .....eneenrsersneseenenne 23 l. Echtheit der Dokumente...............uescnsessesesnessnsensannnnnnnnneenonnsnnsnnnnnensennensennnennennenennnenennann 23 2. Zustellungen ..........ueesencsseesessessensnnsonsnennenunsonnensonensensnnnennennsnnenensonsonsonnnesnesnenssenansensennnsenn 24 3. Feststellung der Staatsangehörigkeit..........neseesesseesensensenennsensnennennennennennnnnennnnnnnneenneneneenn 24 4. Ausreisekontrollen und Ausreisewege, besondere zollrechtliche Vorschriften............. 24 © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
6 VS-Nurfürden-Bienstgebraueh In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! Zusammenfassung Seit Mitte Februar 2019 kommt es in Algier und vielen anderen Städten regelmäßig zu Massenprotesten gegen das politische System. Die von der Protestbewegung abgelehnte Wahl Abdelmadjid Tebbounes zum neuen StP am 12.12.2019 führte nicht dazu, dass die Mobilisierung nachließ. Teile der Gesellschaft fordern weiterhin einen kompletten Umbruch und einen Abgang aller Vertreter des bisherigen Systems. Aufgrund der Covid-19-Pandemie entschieden führende Gesichter der Protestbewegung Ende März 2020, die wöchentlichen Kundgebungen fürs Erste auszusetzen. Die angespannte wirtschaftliche und soziale Lage (unsicheres Investitionsklima, abschmelzende Devisenreserven, Ölpreisverfall) erfordert dringende Reformen. Es ist unklar, wie diese Herausforderungen von der neuen Regierung zu Zeiten, in denen die sozio- ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie die grundlegenden wirtschaftlichen Herausforderungen noch potenzieren, angegangen werden können. Die Auswirkungen der politischen Entwicklungen auf Migrationszahlen sind noch unsicher. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass zumindest in der Anfangszeit der Proteste die damit verbundene Hoffnung auf politischen Wandel den Migrationsdruck gerade bei jungen Algeriern vorübergehend gesenkt hat. Unabhängige Zeitungen sind zwar zahlreich vorhanden, einzelne Verhaftungen von Journalisten und Bloggern können jedoch einschüchternde Wirkung haben und zeigen Grenzen der Presse- und Meinungsfreiheit auf. Der Islam ist Staatsreligion. Ca. 99 % der Bevölkerung sind malekitisch-sunnitische Muslime, andere Gruppen genießen eingeschränkte Religionsfreiheit (u. a. Bekehrungsverbot). Das algerische Vereinigungs- und Versammlungsrecht engt den Raum für private bzw. staatskritische Initiativen ein. Mit den wöchentlichen Demonstrationen dienstags und freitags seit Februar 2019 wurde das Demonstrationsverbot in der Hauptstadt Algier zwar durchbrochen, Demonstrationen an anderen Wochentagen wurden jedoch weiterhin von den Sicherheitskräften unterbunden. Die Sicherheitslage im Land ist grundsätzlich stabil, auch dank der starken landesweiten Präsenz von Polizei, Gendarmerie und Armee. Die Armee führt regelmäßig Antiterroroperationen durch, teils gegen sich zum IS bekennende Gruppen. Die Bedeutung der Sicherheitskräfte hat seit dem Terrorangriff auf die Gasförderanlage in In Amenas 2013 weiter zugenommen. Seitdem konnten Anschläge vereitelt werden, deren Ziel in erster Linie die Sicherheitskräfte bleiben. Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und die medizinische Versorgung sind gewährleistet. Versorgungsengpässe treten vereinzelt bei Medikamenten auf. © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
7 VS-Nurfürden-Dienstgebraueh In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! I. Allgemeine politische Lage 1. Überblick Laut Verfassung von 1996, zuletzt am 07.03.2016 in Teilen geändert, ist Algerien eine demokratische Volksrepublik. Der direkt vom Volk und seit der Verfassungsreform von 2016 wieder mit Begrenzung auf zwei Amtszeiten von je fünf Jahren gewählte Präsident verfügt über eine überaus starke Stellung. Aufgabe des vom Präsidenten (nach Konsultation der Parlamentsmehrheit) ernannten Premierministers ist lediglich die Umsetzung des Programms des Staatspräsidenten und die Koordinierung der Arbeit der Regierung. In Folge der Massenproteste seit Februar 2019 und auf Druck der Armee reichte Präsident Bouteflika am 02.04.2019 seinen Rücktritt ein. Bei den Präsidentschaftswahlen am 12.12.2019 gewann der &hemalige PM Abdelmadjid Tebboune, Favorit der Militärführung um den mittlerweile verstorbenen Generalstabschef Ahmed Gaid Salah, die Wahl für sich. KE Der „Hirak“ hatte gegen die Wahl protestiert und hält an der Forderung nach einem kompletten Systemwechsel fest. Anfängliche Dialogbemühungen des StP sind seit März 2020 ins Stocken geraten. Die aktuelle Herausforderung durch die Covid-19-Pandemie lässt den Graben zwischen Regierung und Teilen der Bevölkerung vorerst in den Hintergrund treten. Die Covid-19 Gegenmaßnahmen der Regierung, wie zum Beispiel die landesweite partielle Ausgangssperre, werden von der Bevölkerung mitgetragen. Die Bevölkerung legte bei den Protestmärschen großen Wert auf deren friedlichen Charakter, dies gerade auch vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrungen in den „schwarzen 90er Jahren“ und der instabilen Lage in den Nachbarländern des „Arabischen Frühlings“. Die Nationalversammlung („Assemblee Populaire Nationale“, APN) und der Senat („Conseil de la Nation“) bilden die beiden Kammern des Parlaments. Die 462 Mitglieder der Nationalversammlung werden alle fünf Jahre in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl gewählt. Die 144 Mitglieder des Senats werden zu einem Drittel durch den Präsidenten ernannt und zu zwei Dritteln von Gemeindevertretern gewählt. Die letzten Wahlen zur Nationalversammlung fanden am 04.05.2017 statt, wobei es zu keiner wesentlichen Veränderung der bisherigen Mehrheitsverhältnisse kam. In deren Mittelpunkt standen über viele Jahre die staatlichen Wohnungsbauprogramme sowie die starke Subventionierung von Produkten des Grundbedarfs wie Brot, Milch, Speiseöl, Zucker oder Benzin. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten besorgt schon jetzt viele Algerier. Internationale Nichtregierungsorganisationen (NROs) wie Human Rights Watch, Amnesty International, das Menschenrechtsnetzwerk Euromed Rights oder die Menschenrechtsorganisation des US-Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO haben seit 2005 keine Visa für offizielle Besuche © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
8 VS-Nurfürden-Dienstgebrauek In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! erhalten, Im. Jahr 2010 wurden sieben Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (VN) eingeladen, von denen fünf bereits im Land waren (u. a. Beauftragte für Recht auf Bildung, Gesundheit, Meinungsfreiheit; zuletzt im Frühjahr 2016). Die Einreise der für Folter (Anfrage seit 1997), Verschwindenlassen (seit 1997), extra-legale Hinrichtungen (seit 1998), Menschenrechte und Terrorismusbekämpfung (seit 2006) zuständigen Sonderberichterstatter der VN lehnt Algerien dagegen weiterhin ab. Die Regierung hat gegenüber der damaligen VN-Hochkommissarin Pillay ihre Einwilligung zu einem Besuch der „Arbeitsgruppe für Fälle von verschwundenen Personen“ bekannt gegeben, zu einer Verwirklichung ist es jedoch bislang nicht gekommen, Darüber hinaus gibt es eine hohe Sensibilität in sicherheitsrelevanten Fragen, dies sowohl mit Blick auf innere Bedrohungen (Erfahrung aus den 90er Jahren, weiterhin in Algerien präsente terroristische Zellen, Verhinderung/Einhegung des Einflusses islamistischer Tendenzen) als auch auf die Situation in der unmittelbaren Nachbarschaft (Tunesien, Libyen, Mali). In Folge der Verfassungsreform von 2016 hat im Frühjahr 2017 der staatliche „Nationale Menschenrechtsrat“ seine Arbeit aufgenommen 2. Perspektiven der (jungen) algerischen Bevölkerung Trotz hoher, aber zuletzt aufgrund des Preisverfalls sinkender Einnahmen im Energiesektor und weiterhin nicht unerheblicher Aufwendungen im Sozialbereich des algerischen Staates (einschließlich grundsätzlich kostenfreier Gesundheitsversorgung) wächst aufgrund steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Kaufkraft der Anteil der in Armut lebenden bzw. davon bedrohten Algerier. Speziell jungen Algeriern fehlen Berufschancen und Lebensperspektiven. Hinzu kommen oft extrem beengte Wohnverhältnisse. Wenngleich z. B. nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) Algerien die Millenniums-Ziele im Bereich der Einschulung von Kindern erreicht hat, hält die Organisation dennoch fest, dass es dabei innerstaatliche Ungleichgewichte gibt und das Ziel eher unter quantitativen als qualitativen Maßstäben erreicht wurde. Die Arbeitslosenquote lag im Mai 2019 laut Angaben der Statistikbehörde bei 11, 4%. Bei Jungen Menschen ist jedoch mehr als jeder vierte arbeitslos, in etlichen Landesteilen ist die Quote noch höher. Dies trägt ebenfalls dazu bei, dass immer weniger junge Menschen wirtschaftliche Perspektiven im eigenen Land sehen. Der Mindestlohn beläuft sich seit 2012 auf 18.000 DZD (ca. 130 Euro), Renten und Transferleistungen wurden angepasst. Der private Sektor ist u. a. mangels bislang weithin ausbleibender Diversifizierung der algerischen Volkswirtschaft strukturell noch nicht in der Lage, in größerem Umfang Arbeitssuchende aufzunehmen, dies ungeachtet von Ankündigungen bzw. ergriffenen Maßnahmen der Regierung mit dem Ziel, steuerliche und finanzielle Anreize für Investoren zu schaffen. m © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
9 VS-Nurfür-den-Dienstgebraueh In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! Sozioökonomische Forderungen sind in den Protesten seit Februar 2019 gegenüber den Forderungen nach einem politischen Umbruch in den Hintergrund getreten. Das Thema bleibt jedoch schwierig und wird eine künftige Regierung vor große Herausforderungen stellen, da der Spielraum für Subventionen, Sozialleistungen und Gehaltserhöhungen sich angesichts schrumpfender Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas und starken Bevölkerungswachstums (Nettozuwachs von ca. 900.000 Menschen pro Jahr) stetig verringert und sozioökonomisch motivierte Proteste nicht mehr wie in der Vergangenheit durch finanzielle Zugeständnisse entschärft werden können. 3. Das Schicksal der „Verschwundenen“ Zahlreiche Menschen, vor allem junge Männer, „verschwanden“ in den 90er Jahren, nachdem sie von Sicherheitskräften verhaftet oder von Bürgerwehren oder Terroristen entführt wurden, ohne dass ihre Fälle bis heute geklärt sind. Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu 20.000 „Verschwundenen“ aus. Die Regierung hat eingeräumt, dass es zu solchen Fällen kam, und hat Nachforschungen ermöglicht. Für sie ist die Bearbeitung des Themas abgeschlossen. Demonstrationen von Angehörigen der .„Verschwundenen“ wurden in den letzten Jahren verhindert oder aufgelöst. 4. Justizsystem Die Trennung von Exekutive und Judikative ist verfassungsrechtlich garantiert, die Exekutive hat jedoch weitgehende Befugnisse über die Justiz. Der Präsident hat laut Verfassung das Recht, alle Staatsanwälte und Richter zu ernennen. Diese Ernennungen unterliegen keiner gesetzgeberischen Kontrolle, sondern werden vom Hohen Justizrat überprüft, der sich aus dem Präsidenten, dem Justizminister, dem Generalstaatsanwalt des Obersten Gerichtshofs, zehn Richtern und sechs vom Präsidenten ausgewählten Personen außerhalb des Justizapparats zusammensetzt. Der Präsident ist Vorsitzender des Hohen Justizrates, der für die Ernennung, Versetzung, Beförderung und Disziplin der Richter verantwortlich ist. 5. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen Die wichtigsten nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen haben nach Inkrafttreten des neuen Vereinigungsgesetzes Anfang 2012 keine offizielle Zulassung bekommen. Ohne Status bleibt ihnen die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen in vielen Fällen verwehrt. Zu den wichtigsten nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen zählen die „Ligue Algerienne pour la Defense des Droits de l’Homme“ (LADDH, KEN © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten
10 VS-Nur-für-den-Dienstgebrauek In dieser Fassung nicht als VS eingestuft! EEE. die „Association SOS Disparus“ (Schwerpunkt Schicksal der Verschwundenen) und der algerische Amnesty-Ableger. Es gibt auch private Vereinigungen mit sozialen und teilweise menschenrechtsrelevanten Zielsetzungen (z. B. Wassila, SOS femmes en detresse, Ciddef, jeweils aktiv für die Rechte von Frauen und Kindern, „Rassemblement Action Jeunesse“ mit Fokus auf der Jugend). Außer Amnesty sind internationale Menschenrechtsorganisationen in Algerien nicht dauerhaft vertreten. Die vier in Algerien aktiven deutschen politischen Stiftungen (FES, KAS, HSS, FNS) konnten nach Inkrafttreten des Vereinigungsgesetzes von 2012, das für sie wie für alle NROs gilt, keine Zulassung erhalten und mussten ihr entsandtes Personal abziehen. Mittlerweile haben jedoch FES und KAS einen provisorischen Status erhalten. Auf dessen Grundlage konnte die FES im Frühjahr 2017 ihr Büro wieder eröffnen, das von einer entsandten Mitarbeiterin geleitet wird. II. Asylrelevante Tatsachen 1. Staatliche Repressionen Systematische staatliche Repressionen, die allein wegen Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgen, sind in Algerien nicht feststellbar. Am 28.Mai 2019 starb der Menschenrechtsaktivist ach einem fast 60-tägigen Hungerstreik in Untersuchungshaft, nachdem er am 31. März 2019 festgenommen worden war. Die Behörden von Ghardaia verhafteten egen „Anstiftung zum Rassenhass“ aufgrund eines Facebook-Posts, in dem er gegen diskriminierende Praktiken der lokalen Justizbehörden gegenüber den Mozabiten protestierte. Das Justizministerium kündigte eine Untersuchung des Todes an, veröffentlichte jedoch keine Ergebnisse. Das Regime reagierte auf die anhaltenden Massenproteste von 2019 mit einer Doppelstrategie u TE Das Europäische Parlament verurteilte im Dezember 2019 mit einer von der algerischen Regierung vehement als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ zurückgewiesenen Resolution die strafrechtliche Verfolgung; internationale Aufmerksamkeit erregten darüber hinaus auch einige prominente Einzelfälle. Der Menschenrechts-Bericht des US Department of State 2019 zu Algerien bezeichnet die Verhaftung der Vorsitzenden der trotzkistischen Arbeiterpartei, , und die Verhaftung des betagten Unabhängigkeitskämpfers , als willkürlich. , die zunächst zusammen mit dem Bruder Bouteflikas Said und zwei ehemaligen Geheimdienstchefs wegen „Verschwörung gegen den Staat“ und „Untergrabung der Autorität der Streitkräfte“ zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war, kam nach einem Revisionsverfahren frei. , der der "Demoralisierung und Verachtung der Streitkräfte" beschuldigt wird, wurde inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen; ein Urteil steht noch aus. Human Rights Watch kritisierte die strafrechtliche Verfolgung des Politikers und Hirak-Aktivisten Das Berufungsverfahren habe, so HRW, gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens verstoßen. © Auswärtiges Amt 2020 - Nicht zur Veröffentlichung bestimmt - Nachdruck verboten