Lagebericht Algerien 2020

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Aktueller Lagebericht zu Algerien

Die Lageberichte des Auswärtigen Amts sind Grundlage für fast alle Asylverfahren vor deutschen Verwaltungsgerichten. Sie sind nicht öffentlich zugänglich und als Verschlusssache eingestuft. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weist Anwält:innen sogar auf eine mögliche Strafbarkeit hin, sollten sie die Berichte weitergeben. Deswegen sorgen wir jetzt gemeinsam mit Pro Asyl selbst für Transparenz.

Diese Anfrage wurde als Teil der Kampagne „Lageberichte des Auswärtiges Amts“ gestellt.

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AUSWÄRTIGES AMT Berlin, den 11.07.2020
Gz.: 508-516.80/3 DZA

Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der

Demokratischen Volksrepublik Algerien
(Stand: Juni 2020)

Grundsätzliche Anmerkungen

1. Auftrag: Das Auswärtige Amt erstellt Lageberichte in Erfüllung seiner Pflicht zur Rechts- und
Amtshilfe gegenüber Behörden und Gerichten des Bundes und der Länder (Art. 35 Abs. 1 GG, $$
14, 99 Abs. 1 VwGO). Insoweit wird auf die Entscheidung des BVerfG vom 14.05.1996 (BVerfGE
94, 115) zu sicheren Herkunftsstaaten besonders hingewiesen, in der es heißt: "Angesichts der
Tatsache, dass die Verfassung dem Gesetzgeber die Einschätzung von Auslandssachverhalten
aufgibt..., fällt gerade den Auslandsvertretungen eine Verantwortung zu, die sie zu besonderer
Sorgfalt bei der Abfassung ihrer einschlägigen Berichte verpflichtet, da diese sowohl für den
Gesetzgeber wie für die Exekutive eine wesentliche Entscheidungsgrundlage bilden." Das
Auswärtige Amt erstellt daher Lageberichte ausschließlich in eigener Verantwortung.

2. Funktion: Lageberichte sollen vor allem dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und
den Verwaltungsgerichten als Entscheidungshilfe in Asylverfahren, aber auch den Innenbehörden
der Länder bei ihrer Entscheidung über die Abschiebung ausreisepflichtiger Personen dienen. In
ihnen stellt das Auswärtige Amt asyl- und abschiebungsrelevante Tatsachen und Ereignisse dar.
Wertungen und rechtliche Schlussfolgerungen aus der tatsächlichen Lage haben die zuständigen
Behörden und Gerichte selbst vorzunehmen.

3. Ergänzende Auskünfte: Über Lageberichte hinausgehende Anfragen von Behörden und
Gerichten wird das Auswärtige Amt beantworten, soweit die Anfragen einen konkreten
tatsächlichen Sachverhalt zum Gegenstand haben. Die Beantwortung von Fragen, die bereits in
der Fragestellung eine rechtliche Wertung enthalten (z. B. "Besteht für den Kläger das Risiko einer
politischen Verfolgung?"), fällt in die Zuständigkeit der Gerichte bzw. Innenbehörden, nicht aber
des Auswärtigen Amts.

4. Quellen: Die Auslandsvertretungen sind angewiesen, sämtliche vor Ort zur Verfügung
stehenden Erkenntnisse auszuwerten. Dies gilt insbesondere für Erkenntnisse lokaler
Menschenrechtsgruppen und vor Ort vertretener Nichtregierungsorganisationen. Weitere
Erkenntnisquellen sind Oppositionskreise, Rechtsanwälte, Botschaften westlicher Partnerstaaten,
internationale Organisationen wie z. B. UNHCR oder IKRK, Regierungskreise sowie
abgeschobene Personen. Darüber hinaus tauscht das Auswärtige Amt regelmäßig mit Vertretern
von Nichtregierungsorganisationen (NROs) und dem UNHCR Informationen über die Lage in
einzelnen Herkunftsländern aus. Dadurch sowie durch stets mögliche schriftliche Stellungnahmen
erhalten die NROs und der UNHCR die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse zu den in den Lageberichten
dargestellten Sachverhalten einzubringen.

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5. Aktualität: Lageberichte berücksichtigen die dem Auswärtigen Amt bekannten Tatsachen und
Ereignisse bis zu dem jeweils angegebenen Datum der Erstellung. Die Aktualisierung der
Lageberichte erfolgt in regelmäßigen Zeitabständen. Dabei geht das Auswärtige Amt auch
Hinweisen auf evtl. in den Lageberichten enthaltene inhaltliche Unrichtigkeiten nach. Bei einer
gravierenden, plötzlich eintretenden Veränderung der Lage erstellt das Auswärtige Amt einen ad
hoc-Bericht. Wenn dies nicht möglich ist, werden die Empfängerinnen und Empfänger darauf
hingewiesen, dass der betreffende Lagebericht nicht mehr der aktuellen Lage entspricht. Bei
Anhaltspunkten für eine Veränderung der Lage, die den Empfängerinnen und Empfängern bekannt
geworden sind, steht das Auswärtige Amt darüber hinaus jederzeit Für — auch telefonische -
Auskünfte zur Verfügung.

6. Einstufung: Lageberichte sind als "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch” eingestuft.
Nur dieses restriktive Weitergabeverfahren stellt sicher, dass die Berichte ohne Rücksichtnahme
auf außenpolitische Interessen formuliert werden können. Die Schutzbedürftigkeit ist auch aus
Gründen des Quellenschutzes und in Einzelfällen sogar im Interesse der persönlichen Sicherheit
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amts geboten.

Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass die Lageberichte nicht an Dritte, die selbst weder
verfahrensbeteiligt noch verfahrensbevollmächtigt in einem anhängigen Verfahren sind,
weitergegeben werden dürfen. Die unbefugte Weitergabe dieser Informationen durch
verfahrensbevollmächtigte Rechtsanwältinnen oder Rechtsanwälte stellt einen Verstoß gegen
berufliches Standesrecht dar ($ 19 der anwaltlichen Berufsordnung) und kann entsprechend
geahndet werden.

Das Auswärtige Amt hat keine Einwände gegen die Einsichtnahme in diesen Lagebericht bei
Verwaltungsgerichten durch Prozessbevollmächtigte, wenn die Bevollmächtigung in einem
laufenden Verfahren nachgewiesen ist. Aus Gründen der Praktikabilität befürwortet das
Auswärtige Amt, dass die Einsichtnahme unabhängig von örtlicher und sachlicher Zuständigkeit
des Verwaltungsgerichts, bei dem der/die Prozessbevollmächtigte im Einzelfall Einsicht nehmen
möchte, möglich ist.

7. Besondere Hinweise zum Lagebericht Algerien: Das Auswärtige Amt verfügt über die deutsche
Botschaft in Algier hinaus über eine Reihe von amtlichen und nichtamtlichen Quellen. Neben dem
staatlichen Nationalen Menschenrechtsrat sind dies vw. a. nichtstaatliche
Menschenrechtsorganisationen. Weitere wichtige Informationsgrundlagen sind staatliche und
unabhängige Presse, (z. B. die Tageszeitungen „El Moudjahid“, „El Watan“, „Liberte“,
„L’Expression“, „Le Soir“, „Le Quotidien d’Oran‘“, „Le Jeune Independant‘“, sowie „El
Khabar“, „Echorouk“ und „Ennahar‘“), Online-Nachrichtenportale (z. B. „TSA“ oder „Algerie
1“) und regelmäßige Kontakte zu Politikern verschiedener Parteien sowie Rechtsanwälten,
Journalisten und anderen Vertretern der Zivilgesellschaft. Außerdem sind Beiträge in den in
Frankreich erscheinenden (Monats- und Wochen-) Zeitungen „Le Monde Diplomatique“, „Jeune
Afrique“ sowie „Liberation“ und „Le Monde“ berücksichtigt worden. Daneben wurden u. a.
Jolgende Dokumente ausgewertet:

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e Amnesty International

.e Dziri
e Human Rights Watch
e Reporters sans frontieres

e US Department of State

e VN-Menschenrechtsrat

e Europäischer Gerichtshof für
Menschenrechte

8. Karte:

Algeria Report 2019

La reforme penitentiaire, n°. 9. Februar 2010
World Report 2020

Press Freedom Report 2019, Press Freedom
Report 2020

Country Reports on Human Rights Practices,
2019: Algeria

International Religious Freedom Report,
2018, Algeria

Examen periodique universel — Rapport
national  presente conformement au
paragraphe 5 de l’annexe älaresolution 16/21
du Conseil des droits de l’'homme, Algerie,
20.02.17 (24 Seiten)

Compilation prepared by the Office ofthe High
Commissioner for Human Rights in
accordance with paragraph 5 of the annex to
Human Rights Council resolution 16/21,
17.02.17 (13 Seiten)

Summary of other stakeholders’ submissions
on Algeria, 20.02.17 (13 Seiten)

A.M. gegen Frankreich (Beschwerde Nr.
12148/18) vom 29.04.2019

Landkarte der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Library Map Collection — University of
Texas at Austin (http://www.lib. utexas.edu/maps/algeria.html)

Das Auswärtige Amt übernimmt keine Gewähr für die Richtigkeit des Inhalts der Karte.

Es ist beabsichtigt, den Bericht jährlich zu aktualisieren.

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Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung .......eouessonsesnsssssssonennsnsnsnsnunsnnssnanssnssssnnsnnnenneenassesnesssnsennenssnensansensensnnssnssersnnsssnssnnrnnn 6

I. Allgemeine politische Lage........uunscossserssnsssnnsserenene Sensssssusnsnsnssssonnsnsnsnsnssunsnnsnssssnnsnssnnssnsnssannunsnen 7

1. Überblick ....assaesessanesssennsennennensnnsnenenennnnannnnnsnnnnnnnnnnnnnnnnennennennnnnnnenenennnnanennenanonnnann 7

2. Perspektiven der (jungen) algerischen Bevölkerung.......uenennennenenenneennnen: 8

3. Das Schicksal der „Verschwundenen“ ............22222000000000000nannnnsennnnnsnennonennnnnnnnnensnsnnnenannnenn 9

4. Justizsystem...ccesnenerseessessnnsnnnennnnnennensoennensnsnnnsnennsnnnnessannunnsnssansenenssessnessässsnssenssssnsssenne 9

5. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen .....eeesserseeseeseennenennennennn 9

I. Asylrelevante Tatsachen ..........cusssonssnnsssnsssnnssnnensensonsnnnnnsonsnnensnensnnnensnn erssnssessnonssssansesnsnsnsnnnsnne 10

1. Staatliche Repressionen............ur.uusssnssnersnnennnnnnnnennannnnnnnnnensnensnnensosenssenssserssssssnessnsnnnnsen 10

1.1. Politische Opposition ..............224204nnernernsnnnensnennonsnennnensannnnnnsenssnnssnnsnesssnsnensansnenssssnnn 11

1.2. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit ............. 11

1.3. Rassisch diskriminierende Gesetzgebung ................eerserseneneennonnensennennensennnnnnnn 13

1.4. Religionsfreiheit...................2..44442002n0nsennennnensneennessnnnnensnnnssnnnonsenssennnensnessensnnssenssssnnn 13

1.5. Strafverfolgungs- oder StrafzumessungspraxiS...ueessesennennennennensnenennonnenensonsennn 14

1.6. Militärdienst ..........ucesssessensessenneesensnnnnnensnnnnnnennnennnennensnnnnnnessnssenssenssesssensennarsnssnssnnn 15

1.7. Handlungen gegen Kinder.........nnnennenenenneesnnennennensennennennnennn 16

1.8. Geschlechtsspezifische Verfolgung ..........nuseeeseenesnenensensnnenennensnnnenennensenennnannnn 16

1.9. Exilpolitische Aktivitäten.......uussessseesenneseenennennesensennnnnnnensnnsnnensennnnensnnnnonsennsnnennen 17

2. Repressionen Dritter... ensassnssssnenenssensesennssssnssonsossnsssnssssnsssnnssnnssennnnnnsnsnnnneas „17

3. Ausweichmöglichkeiten ...............usserssenneneennnnnnnsnennennnnnnsonsansssssnnesnnnsonesonenansenssensanssnnsnen 18

III. Menschenrechtslage..........ccnssssnsssosssnsesenssnesnnnssnensnnsnnnensnonnsnennsnnsnnnannnsennssnnussnnnsennnssnnenssnssnennene 18

l. Schutz der Menschenrechte in der Verfassung ...........unserssersnessnessnenseennensnennnnnnnnnnenennnn 18

2. Folter ...eeeeeeneeesersennenenssnennnonnsenennnnnnennnnansonsnnnnnnnsnnensnsnsnorsnnnnssnsssnonssssnsnsenssnnsnsnsssersnnsnnnenenn 19

3. Todesstrafe .......uuunenesseessenennenensernnnnnnnnnennersnennnennennensnennennsnsssnssansnnssnsessnsnssssnesenssensnnsensntn 19

4. Sonstige menschenrechtswidrige Handlungen...................ourssensenssessenenenssnnnennnensennnnnn 20

5. Lage ausländischer Flüchtlinge ..............uusesseessessnsssensnesnnensensnnensennsensonsnnnsnenssnnsnnsnnennenene 20

IV. Rückkehrfragen ......u..ssossssnssssnnsssonnensorsssnenennussannsssnsnensnernnnnsnsannennansssennnssssnsonsnssnssnnnnnsnnnsennen 21

l. Situation für Rückkehrer ..........unsnesnrennsnnnnnesnnennonnennsnnennennnsnnensnnensnnnsnnnonsannnnnnsnnssansnen 21

1.1. Grundversorgung..........uuesesenerssnensnnenssnnnnnnnnsnnennnennnnansnnnsnnernsennnnnensononssnsnsnensesssssssnen 21

1.2. Medizinische Versorgung .............2240s2404sssnoennnnnenennernnnnennnnnnnennsanennansonssnnennnssennensanen 22

2. Behandlung von Rückkehrern ...........u..2usssesnensnersnnensnennnnnnnnsnnnensnnennensnnnrennsnnnnnsssnsentenen 22

3. Einreisekontrollen ................20.2202204200200n0nennernnennnrnnnennnnnnnennennesnennnesnsessnennsnennenserssnsssssannene 22

4. Abschiebewege........uureunnesssensnnsnnnernnnorznnnnnsnnnssnnensnnnenssnnnnnnnsnnnnsasassssnssnnsenssnsessssessnsnnenen 23

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V. Sonstige Erkenntnisse über asyl- und abschiebungsrelevante Vorgänge .....eneenrsersneseenenne 23
l. Echtheit der Dokumente...............uescnsessesesnessnsensannnnnnnnneenonnsnnsnnnnnensennensennnennennenennnenennann 23
2. Zustellungen ..........ueesencsseesessessensnnsonsnennenunsonnensonensensnnnennennsnnenensonsonsonnnesnesnenssenansensennnsenn 24
3. Feststellung der Staatsangehörigkeit..........neseesesseesensensenennsensnennennennennennnnnennnnnnnneenneneneenn 24
4. Ausreisekontrollen und Ausreisewege, besondere zollrechtliche Vorschriften............. 24

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Zusammenfassung

Seit Mitte Februar 2019 kommt es in Algier und vielen anderen Städten regelmäßig zu
Massenprotesten gegen das politische System. Die von der Protestbewegung abgelehnte
Wahl Abdelmadjid Tebbounes zum neuen StP am 12.12.2019 führte nicht dazu, dass die
Mobilisierung nachließ. Teile der Gesellschaft fordern weiterhin einen kompletten Umbruch
und einen Abgang aller Vertreter des bisherigen Systems.

   

Aufgrund der Covid-19-Pandemie
entschieden führende Gesichter der Protestbewegung Ende März 2020, die wöchentlichen
Kundgebungen fürs Erste auszusetzen.

Die angespannte wirtschaftliche und soziale Lage (unsicheres Investitionsklima,
abschmelzende Devisenreserven, Ölpreisverfall) erfordert dringende Reformen. Es ist unklar,
wie diese Herausforderungen von der neuen Regierung zu Zeiten, in denen die sozio-
ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie die grundlegenden wirtschaftlichen
Herausforderungen noch potenzieren, angegangen werden können.

Die Auswirkungen der politischen Entwicklungen auf Migrationszahlen sind noch unsicher.
Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass zumindest in der Anfangszeit der Proteste die damit
verbundene Hoffnung auf politischen Wandel den Migrationsdruck gerade bei jungen
Algeriern vorübergehend gesenkt hat.

Unabhängige Zeitungen sind zwar zahlreich vorhanden, einzelne Verhaftungen von
Journalisten und Bloggern können jedoch einschüchternde Wirkung haben und zeigen Grenzen
der Presse- und Meinungsfreiheit auf.

Der Islam ist Staatsreligion. Ca. 99 % der Bevölkerung sind malekitisch-sunnitische Muslime,
andere Gruppen genießen eingeschränkte Religionsfreiheit (u. a. Bekehrungsverbot).

Das algerische Vereinigungs- und Versammlungsrecht engt den Raum für private bzw.
staatskritische Initiativen ein. Mit den wöchentlichen Demonstrationen dienstags und freitags
seit Februar 2019 wurde das Demonstrationsverbot in der Hauptstadt Algier zwar
durchbrochen, Demonstrationen an anderen Wochentagen wurden jedoch weiterhin von den
Sicherheitskräften unterbunden.

Die Sicherheitslage im Land ist grundsätzlich stabil, auch dank der starken landesweiten
Präsenz von Polizei, Gendarmerie und Armee. Die Armee führt regelmäßig
Antiterroroperationen durch, teils gegen sich zum IS bekennende Gruppen. Die Bedeutung der
Sicherheitskräfte hat seit dem Terrorangriff auf die Gasförderanlage in In Amenas 2013 weiter
zugenommen. Seitdem konnten Anschläge vereitelt werden, deren Ziel in erster Linie die
Sicherheitskräfte bleiben.

Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und die medizinische Versorgung sind
gewährleistet. Versorgungsengpässe treten vereinzelt bei Medikamenten auf.

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I. Allgemeine politische Lage

1. Überblick

Laut Verfassung von 1996, zuletzt am 07.03.2016 in Teilen geändert, ist Algerien eine
demokratische Volksrepublik. Der direkt vom Volk und seit der Verfassungsreform von 2016
wieder mit Begrenzung auf zwei Amtszeiten von je fünf Jahren gewählte Präsident verfügt über
eine überaus starke Stellung. Aufgabe des vom Präsidenten (nach Konsultation der
Parlamentsmehrheit) ernannten Premierministers ist lediglich die Umsetzung des Programms des
Staatspräsidenten und die Koordinierung der Arbeit der Regierung.

In Folge der Massenproteste seit Februar 2019 und auf Druck der Armee reichte Präsident
Bouteflika am 02.04.2019 seinen Rücktritt ein. Bei den Präsidentschaftswahlen am 12.12.2019
gewann der &hemalige PM Abdelmadjid Tebboune, Favorit der Militärführung um den mittlerweile
verstorbenen Generalstabschef Ahmed Gaid Salah, die Wahl für sich. KE
Der „Hirak“ hatte gegen die
Wahl protestiert und hält an der Forderung nach einem kompletten Systemwechsel fest.
Anfängliche Dialogbemühungen des StP sind seit März 2020 ins Stocken geraten.

 
 

 
 
   
   

Die aktuelle
Herausforderung durch die Covid-19-Pandemie lässt den Graben zwischen Regierung und Teilen
der Bevölkerung vorerst in den Hintergrund treten. Die Covid-19 Gegenmaßnahmen der
Regierung, wie zum Beispiel die landesweite partielle Ausgangssperre, werden von der
Bevölkerung mitgetragen.

Die Bevölkerung legte bei den Protestmärschen großen Wert auf deren friedlichen Charakter,
dies gerade auch vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrungen in den „schwarzen 90er
Jahren“ und der instabilen Lage in den Nachbarländern des „Arabischen Frühlings“.

Die Nationalversammlung („Assemblee Populaire Nationale“, APN) und der Senat („Conseil de
la Nation“) bilden die beiden Kammern des Parlaments. Die 462 Mitglieder der
Nationalversammlung werden alle fünf Jahre in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl gewählt.
Die 144 Mitglieder des Senats werden zu einem Drittel durch den Präsidenten ernannt und zu zwei
Dritteln von Gemeindevertretern gewählt.

Die letzten
Wahlen zur Nationalversammlung fanden am 04.05.2017 statt, wobei es zu keiner wesentlichen
Veränderung der bisherigen Mehrheitsverhältnisse kam.

In deren Mittelpunkt standen über viele Jahre
die staatlichen Wohnungsbauprogramme sowie die starke Subventionierung von Produkten des
Grundbedarfs wie Brot, Milch, Speiseöl, Zucker oder Benzin. Der Anstieg der
Lebenshaltungskosten besorgt schon jetzt viele Algerier.

Internationale Nichtregierungsorganisationen (NROs) wie Human Rights Watch, Amnesty
International, das Menschenrechtsnetzwerk Euromed Rights oder die Menschenrechtsorganisation

des US-Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO haben seit 2005 keine Visa für offizielle Besuche

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erhalten,

Im.
Jahr 2010 wurden sieben Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (VN) eingeladen, von
denen fünf bereits im Land waren (u. a. Beauftragte für Recht auf Bildung, Gesundheit,
Meinungsfreiheit; zuletzt im Frühjahr 2016). Die Einreise der für Folter (Anfrage seit 1997),
Verschwindenlassen (seit 1997), extra-legale Hinrichtungen (seit 1998), Menschenrechte und
Terrorismusbekämpfung (seit 2006) zuständigen Sonderberichterstatter der VN lehnt Algerien
dagegen weiterhin ab. Die Regierung hat gegenüber der damaligen VN-Hochkommissarin Pillay
ihre Einwilligung zu einem Besuch der „Arbeitsgruppe für Fälle von verschwundenen Personen“
bekannt gegeben, zu einer Verwirklichung ist es jedoch bislang nicht gekommen,

    

Darüber hinaus gibt es eine hohe Sensibilität in sicherheitsrelevanten Fragen,
dies sowohl mit Blick auf innere Bedrohungen (Erfahrung aus den 90er Jahren, weiterhin in
Algerien präsente terroristische Zellen, Verhinderung/Einhegung des Einflusses islamistischer
Tendenzen) als auch auf die Situation in der unmittelbaren Nachbarschaft (Tunesien, Libyen,
Mali).

In Folge der Verfassungsreform von 2016 hat im Frühjahr 2017 der staatliche „Nationale
Menschenrechtsrat“ seine Arbeit aufgenommen

2. Perspektiven der (jungen) algerischen Bevölkerung

Trotz hoher, aber zuletzt aufgrund des Preisverfalls sinkender Einnahmen im Energiesektor und
weiterhin nicht unerheblicher Aufwendungen im Sozialbereich des algerischen Staates
(einschließlich grundsätzlich kostenfreier Gesundheitsversorgung) wächst aufgrund steigender
Arbeitslosigkeit und sinkender Kaufkraft der Anteil der in Armut lebenden bzw. davon bedrohten
Algerier. Speziell jungen Algeriern fehlen Berufschancen und Lebensperspektiven. Hinzu kommen
oft extrem beengte Wohnverhältnisse. Wenngleich z. B. nach Angaben des
Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) Algerien die Millenniums-Ziele im
Bereich der Einschulung von Kindern erreicht hat, hält die Organisation dennoch fest, dass es dabei
innerstaatliche Ungleichgewichte gibt und das Ziel eher unter quantitativen als qualitativen
Maßstäben erreicht wurde.

Die Arbeitslosenquote lag im Mai 2019 laut Angaben der Statistikbehörde bei 11, 4%. Bei Jungen
Menschen ist jedoch mehr als jeder vierte arbeitslos, in etlichen Landesteilen ist die Quote

noch höher. Dies trägt ebenfalls dazu bei, dass immer weniger junge Menschen
wirtschaftliche Perspektiven im eigenen Land sehen. Der Mindestlohn beläuft sich seit 2012 auf
18.000 DZD (ca. 130 Euro), Renten und Transferleistungen wurden angepasst. Der private Sektor
ist u. a. mangels bislang weithin ausbleibender Diversifizierung der algerischen Volkswirtschaft
strukturell noch nicht in der Lage, in größerem Umfang Arbeitssuchende aufzunehmen, dies

ungeachtet von Ankündigungen bzw. ergriffenen Maßnahmen der Regierung mit dem Ziel,
steuerliche und finanzielle Anreize für Investoren zu schaffen. m

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Sozioökonomische Forderungen sind in den Protesten seit Februar 2019 gegenüber den
Forderungen nach einem politischen Umbruch in den Hintergrund getreten. Das Thema bleibt
jedoch schwierig und wird eine künftige Regierung vor große Herausforderungen stellen, da der
Spielraum für Subventionen, Sozialleistungen und Gehaltserhöhungen sich angesichts
schrumpfender Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas und starken Bevölkerungswachstums
(Nettozuwachs von ca. 900.000 Menschen pro Jahr) stetig verringert und sozioökonomisch
motivierte Proteste nicht mehr wie in der Vergangenheit durch finanzielle Zugeständnisse
entschärft werden können.

3. Das Schicksal der „Verschwundenen“

Zahlreiche Menschen, vor allem junge Männer, „verschwanden“ in den 90er Jahren, nachdem sie
von Sicherheitskräften verhaftet oder von Bürgerwehren oder Terroristen entführt wurden, ohne
dass ihre Fälle bis heute geklärt sind. Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu 20.000
„Verschwundenen“ aus. Die Regierung hat eingeräumt, dass es zu solchen Fällen
kam, und hat Nachforschungen ermöglicht. Für sie ist

   
 
  

 

  

die Bearbeitung des Themas abgeschlossen.
Demonstrationen von Angehörigen der
.„Verschwundenen“ wurden in den letzten Jahren verhindert oder aufgelöst.

4. Justizsystem
Die Trennung von Exekutive und Judikative ist verfassungsrechtlich garantiert, die Exekutive hat
jedoch weitgehende Befugnisse über die Justiz. Der Präsident hat laut Verfassung das Recht, alle
Staatsanwälte und Richter zu ernennen. Diese Ernennungen unterliegen keiner gesetzgeberischen
Kontrolle, sondern werden vom Hohen Justizrat überprüft, der sich aus dem Präsidenten, dem
Justizminister, dem Generalstaatsanwalt des Obersten Gerichtshofs, zehn Richtern und sechs vom
Präsidenten ausgewählten Personen außerhalb des Justizapparats zusammensetzt. Der Präsident ist
Vorsitzender des Hohen Justizrates, der für die Ernennung, Versetzung, Beförderung und Disziplin
der Richter verantwortlich ist.

   

 

5. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen

Die wichtigsten nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen haben nach Inkrafttreten des
neuen Vereinigungsgesetzes Anfang 2012 keine offizielle Zulassung bekommen. Ohne Status
bleibt ihnen die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen in vielen Fällen verwehrt.

Zu den wichtigsten nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen zählen die „Ligue Algerienne
pour la Defense des Droits de l’Homme“ (LADDH, KEN

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EEE. die „Association SOS Disparus“ (Schwerpunkt Schicksal der Verschwundenen) und
der algerische Amnesty-Ableger. Es gibt auch private Vereinigungen mit sozialen und teilweise
menschenrechtsrelevanten Zielsetzungen (z. B. Wassila, SOS femmes en detresse, Ciddef, jeweils
aktiv für die Rechte von Frauen und Kindern, „Rassemblement Action Jeunesse“ mit Fokus auf
der Jugend). Außer Amnesty sind internationale Menschenrechtsorganisationen in Algerien nicht
dauerhaft vertreten.

   

Die vier in Algerien aktiven deutschen politischen Stiftungen (FES, KAS, HSS, FNS) konnten
nach Inkrafttreten des Vereinigungsgesetzes von 2012, das für sie wie für alle NROs gilt, keine
Zulassung erhalten und mussten ihr entsandtes Personal abziehen. Mittlerweile haben jedoch FES
und KAS einen provisorischen Status erhalten. Auf dessen Grundlage konnte die FES im Frühjahr
2017 ihr Büro wieder eröffnen, das von einer entsandten Mitarbeiterin geleitet wird.

II. Asylrelevante Tatsachen

1. Staatliche Repressionen
Systematische staatliche Repressionen, die allein wegen Rasse, Religion, Nationalität oder
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgen, sind in Algerien nicht feststellbar.

       
 

Am 28.Mai 2019 starb der Menschenrechtsaktivist ach einem fast 60-tägigen
Hungerstreik in Untersuchungshaft, nachdem er am 31. März 2019 festgenommen worden war.
Die Behörden von Ghardaia verhafteten egen „Anstiftung zum Rassenhass“ aufgrund
eines Facebook-Posts, in dem er gegen diskriminierende Praktiken der lokalen Justizbehörden
gegenüber den Mozabiten protestierte. Das Justizministerium kündigte eine Untersuchung des
Todes an, veröffentlichte jedoch keine Ergebnisse.

Das Regime reagierte auf die anhaltenden Massenproteste von 2019 mit einer Doppelstrategie u
TE Das

Europäische Parlament verurteilte im Dezember 2019 mit einer von der algerischen Regierung
vehement als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ zurückgewiesenen Resolution die
strafrechtliche Verfolgung; internationale Aufmerksamkeit erregten darüber hinaus auch einige

prominente Einzelfälle. Der Menschenrechts-Bericht des US Department of State 2019 zu Algerien
bezeichnet die Verhaftung der Vorsitzenden der trotzkistischen Arbeiterpartei, ,
und die Verhaftung des betagten Unabhängigkeitskämpfers , als willkürlich.

, die zunächst zusammen mit dem Bruder Bouteflikas Said und zwei ehemaligen
Geheimdienstchefs wegen „Verschwörung gegen den Staat“ und „Untergrabung der Autorität der
Streitkräfte“ zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war, kam nach einem Revisionsverfahren frei.

, der der "Demoralisierung und Verachtung der Streitkräfte" beschuldigt wird,
wurde inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen; ein Urteil steht noch aus. Human Rights
Watch kritisierte die strafrechtliche Verfolgung des Politikers und Hirak-Aktivisten
Das Berufungsverfahren habe, so HRW, gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens verstoßen.

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