neuAz36-15-06_Hefter8_20040120-20041217_TeilIII

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Bundeswehr: Lebenskundlicher Unterricht durch die Militärseelsorge und Ausweitung der Militärseelsorge

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Klaus Ebeling

Wie viel Wertedissens verlangt die Innere Führung? *

„Im Blick auf das Individuum“

Der Vortragstitel mag befremdlich klingen; bewegt doch meist die Sorge um Konsens und
Konsensverlust das Nachdenken über Werte und Normen. Auch das neuen Anforderungen
anzumessende Kompetenzprofil der Bundeswehr wie der (welt-)gesellschaftliche Wandel
überhaupt lassen durchweg Fragen nach Bedingungen und Möglichkeiten für die Bewahrung
oder Wiedergewinnung von Norm- und Wertegemeinschaften vorrangig erscheinen.
Trotzdem trifft diese Frage einen Punkt, auf den es meiner Einschätzung nach gerade in De-
batten über das normative Selbstverständnis der Bundeswehr besonders ankommt: nicht mehr
von (tendenziell oder entschieden) differenzfeindlichen Einheits- und Gemeinschaftsvorstel-
lungen sich leiten zu lassen. Für Streitkräfte, deren Funktionseinheiten den Begriff professio-
neller Handlungsfähigkeit durchaus verschieden buchstabieren müssen und deren Soldaten in
einem dynamisch-pluralistischen Gemeinwesen sich zurechtfinden, ihr Leben autonom ge-
stalten sollen, kann die Pflege traditionsfixierter Konsensrhetoriken schwerlich als angemes-
sene Option gelten. Aber auch ein sozial-technisches Einheitsdenken, das über die Integration
hochgradig ausdifferenzierter Funktionsbereiche und ihrer Funktionsträger ausschließlich
nach zweckrationalen Kriterien urteilt, wird spätestens dann selber zum Problem, wenn es
sich gegen seine normative Begrenzung durch die ethische Basisintuition der Menschenwürde
und das Prinzip der Subjektgerechtigkeit von Institutionen sperrt: Jeder Mensch soll sich
selbst und jeden andern "jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel" (Kant) brau-
chen und Institutionen sollen, das folgt daraus, menschliche Anerkennungsverhältnisse stüt-
zen, schützen und fördern, nicht jedoch unterminieren.

Damit ist die Intention der folgenden Überlegung bereits umrissen: Sie fragt nach dem kom-
petenten Umgang mit Norm- und Wertdifferenzen (auch: -konflikten),

e weilsie zum einen gerade im Blick auf den besonders prekären Dienst des Soldaten, ganz
"alteuropäisch", an der Idee der unverrechenbaren Würde des Einzelnen als letzter Refe-
renz bestehen möchte,

e zum anderen darin auch eine entscheidende Erfolgsbedingung für eine Organisation sieht,
die zur Erfüllung insbesondere ihrer neuen Aufgaben im Rahmen des internationalen
Konfliktmanagements mehr denn je auf eigenständig urteilende und handelnde Individu-
en verwiesen ist.

Wie also können profilierte Individuen effektive Handlungsgemeinschaften bilden - unter
Wahrung ihrer Besonderheit und ihrer risikomindernd vielfältigen Problemlösungsressour-
cen? Dies ist die Leitfrage, in deren Horizont sich auch die bisherige Arbeit des SOWI-
Projektes zur Ethik der Inneren Führung! hielt, von dem im zweiten Teil dieser Ausführungen
die Rede sein wird. Sie sollen im Folgenden durch einige Horizont bildende Anmerkungen

* Vortrag, gehalten am 13.06.02 im Rahmen des Führungsseminars „Bundeswehr und Gesellschaft 2002“ an der
Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

! Siehe dazu: Klaus Ebeling/Anja Seiffert/Rainer Senger, Ethische Fundamente der Inneren Führung (SOWI-
Arbeitspapier Nr. 132), Strausberg 2002; Klaus Ebeling, Verliert die Innere Führung ihr ethisches Fundament?
In: Eckardt Opitz (Hg.), 50 Jahre Innere Führung. Von Himmerod (Eifel) nach Pristina (Kosovo), Bremen 2001:
101-115.
1

zur gesellschaftlichen Situation in Sachen Werte und Normen vorbereitet werden.

Gesellschaft
1. Moral- und Ethikdebatten: Krisenzeichen oder Hoffnungsschimmer?

Wo nahezu alle Lebensbereiche von tiefgreifenden Veränderungen erfasst werden, steigt die
Nachfrage nach ethischen Orientierungsleistungen. Diskussionen über "Ethik" (oder "Mo-
ral")? indizieren Krisen und zugleich die Hoffnung, man könne auf diese Weise der vielen
Verunsicherungen Herr werden. Doch ist Vorsicht geboten. Krisen sind in hochgradig kom-
plexen und dynamischen Gesellschaften der Normalzustand, so dass eine Überforderung auch
der Ressource MoraVEthik nicht gerade unwahrscheinlich wird. "Wenn nichts mehr geht, geht
immer noch Ethik" - diese Erwartung darf weniger denn je auf Bestätigung rechnen; nicht
einmal da, wo beim Betrieb und Vertrieb verschiedenster Interessen ohnehin nur auf attrakti-
ves Ethik-Design (nicht auf Ethisch-Sein) gesetzt wird. Selbst zentrale moralische Normen
und Werte selber geraten ebenso wie die ihnen korrespondierenden religiösen und weltan-
schauliche Hintergrundüberzeugungen in den Sog des gesellschaftlichen Wandels - man den-
ke nur an die Entwicklung der Debatte über Biopolitik und Gentechnik.

Unter diesen Bedingungen gewinnt die Verständigung über Sinn und Funktion von Moral und
Ethik große Bedeutung. Dabei kommt es insbesondere im Hinblick auf die öffentlichen
Ethikdiskurse darauf an, Formen konkreter Problembearbeitung aufzuzeigen und zu bewäh-
ren, die Standpunkttreue mit Kompromissfähigkeit zu vermitteln vermögen’. Mit moralisie-
renden Identitätsfeiern wird schon innerhalb homogener Gesinnungsgemeinschaften viel
Schaden angerichtet, außerhalb ihrer treiben sie die Beteiligten unweigerlich zum (vielleicht
gar gewaltträchtigen) Kommunikationsabbruch - und letztlich auch in die Verzweiflung an
der Moral.

Eine mögliche Konsequenz ist die Empfehlung einer solchen "wissenschaftlichen" Wahrneh-
mungs- und Behandlungsart von Problemen, bei der die Versachlichung der Debatten mit der
des Menschen einhergeht. Dies allerdings bedeutete den Bruch mit der "Tiefengrammatik un-
seres politisch-kulturellen Selbstverständnisses"*, für das die Idee der Menschenwürde und
die Logik wechselseitiger Anerkennung freier und einander verpflichteter Subjekte wesentlich
ist. Die allermeisten Zeitgenossen unseres Gemeinwesens sträuben sich gegen einen solchen
Bruch und sind zudem zunehmend bereit, in eine Sozial- und Kommunikationsform von Mo-
ral und Ethik zu investieren, die sich der "subjektiven Logik" menschlicher Pluralität ebenso
stellt wie der "objektiven Logik" der Sachen und Sachverhalte, ohne davor zu kapitulieren.
Dieser Bereitschaft (und der sie leitenden Hoffnung) gilt es zuzuarbeiten. Die folgenden Aus-
führungen mögen in diesem Sinne verstanden werden.

2. Wertewandel: Individualität vs. Sozialität?

2 Während die Alltagskommunikation beide Begriffe oft synonym verwendet, wird in der wissenschaftlichen
Literatur dagegen "Ethik" meist für die erklärende, begründende und kritisch reflektierende Auseinandersetzung
mit gegebenen "Moral"-Vorstellungen reserviert. An diesen Sprachgebrauch schließe ich an, wohl wissend,
dass eine exakte Grenzziehung kaum möglich ist.

? Zur Frage des angemessenen Umgangs mit dem "Konflikt zwischen moralischem Konsens und moralischer
Wahrheit" vgl. Anton Leist, Angewandte Ethik zwischen theoretischem Anspruch und sozialer Funktion, in:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998) 5: 753-779.

* Vgl. Wolfgang Kersting, Theoriekonzeptionen der politischen Philosophie der Gegenwart: Methoden, Proble-
me, Grenzen, in: Michael Greven/Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Politische Theorie - heute. Ansätze und Per-
spektiven, Baden-Baden 1999: 67.
2

Der "Pluralismus der Werte" ist in unserer Gesellschaft sowohl hinsichtlich ihrer internen wie
ihrer externen Verhältnisse zu einem weithin akzeptierten "normativen Faktum" avanciert.
Dem entspricht ein weiter Wertbegriff°, der von subjektiven Präferenzen, nicht von einer
"objektiv vorgegebenen Wertordnung" ausgeht. Gruppen-, gemeinschafts- und gesellschafts-
spezifische Präferenzen, also "Leitbilder" im Sinne gemeinsamer oder wenigstens kompati-
bler Vorstellungen vom "guten Leben", haben demnach Ergebnischarakter, sind den Erfah-
rungen des Zusammenlebens und den Erfordemissen gemeinsamer Handlungsfähigkeit ge-
schuldet. Dass gemeinsames Leben und Handeln darüber hinaus noch der Verständigung über
solche Werte oder: "moralische Normen" bedarf, für die ein strikt allgemeiner Sollgeltungs-
anspruch gerechtfertigt werden kann - dies war und ist noch immer ein gleichfalls weithin ak-
zeptiertes normatives Faktum.

Damit ist der Spannungsbogen umschrieben, in dem sich wohl die meisten Überlegungen
zum so genannten Wertewandel bewegen. Und je nach Standpunkt werden Verlust- oder Auf-
stiegs-, Regressions- oder Emanzipationsprognosen bevorzugt: Pluralisierungs- und Indivi-
dualisierungsprozesse erscheinen so den einen, trotz ihrer Risiken, vor allem als Freiheitsge-
winn, den anderen, trotz ihrer Chancen, vor allem als Erosion von Verantwortung und Ge-
meinsinn. Vorsichtiger und deshalb angemessener dürfte es jedoch sein, sich auf Ambivalenz-
diagnosen zu konzentrieren und am jeweils eigenen Ort, u.a. auch der jeweiligen Berufswelt,
an der Optimierung des Chance-Risiko-Managements mitzuwirken: Die Aufwertung von In-
dividualität und Autonomie konkurriert gewiss mit bestimmten Formen solidarischer bzw. sy-
stemfunktionaler Kooperation und Koordination. Aber sind diese alternativlos? Zu undiffe-
renziert ist ebenso die Vorstellung, die Übernahme gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher
Verpflichtungen und Funktionen müsse - nach Art eines Nullsummenspiels - zwingend mit
einem Weniger an individueller Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bezahlt werden.
Nun ist es im gegebenen Rahmen nicht möglich, im Sinne dieser Empfehlung die Ergebnisse
empirischer Werteforschung breit zu würdigen.® Ich beschränke mich auf zwei diagnostische
Beiträge, deren Aussagen sich in hohem Maße als komplementär verstehen, gleichwohl den-
noch nicht reibungslos zusammenfügen lassen, vor deren Hintergrund aber gerade deshalb die
Intention der anschließende Überlegung zu einer "Ethik der Individualität" leichter zugänglich
werden dürfte.

Aus der Perspektive des Individuums sind Werte Lebensziele, und es ist durchaus erhellend,
sie mit dem Soziologen Gerhard Schmidtchen einmal aus dem Blickwinkel einer "Investiti-
onstheorie des Wertewandels"” zu betrachten (solange daraus kein ökonomistisches Men-
schenbild gezimmert werden soll). Dann nämlich erscheinen sie als Investitionsobjekte und
der Wertewandel folglich als Änderung des Investitionsverhaltens infolge veränderter Er-
tragserwartungen. In offenen Gesellschaften mit hoher Transformationsgeschwindigkeit sind
auch Chancen und Entscheidungsspielräume höchst dynamische Größen, mit denen angemes-
sen umzugehen vom Einzelnen viel- von manchen: zu viel - , vor allem ein hohes Maß an
Lern- und Veränderungsbereitschaft verlangt: "Sicherheiten erwachsen nicht mehr aus statio-
nären Verhältnissen und Zuschreibungen, sondern aus Mobilität, Kreativität und der Risiko-
bereitschaft, in Ungewissheiten hinein zu investieren. ... Um in dieser Gesellschaft. neue Si-
cherheiten und Selbstbehauptungschancen zu gewinnen, wird die eigene Person zum Pro-

> Vgl. zu den folgenden Begriffsbestimmungen Konrad Ott, Moralbegründungen zur Einführung, Hamburg
2001: 38-43.

6 Ich hoffe freilich, dass im Fortgang der Ethik-Studien am SOWI dies noch erfolgen wird.

? Schmidtchen favorisiert diese investitionstheoretische Sicht des sog. Wertewandels, weil sie nach seiner Ein-
schätzung am besten der Tatsache gerecht wird, dass "Orientierungen selbst als dynamische, selbstveränderliche
Variable in das Geschehen eingehen. ... Die Richtung des Wertewandels wird durch alle Subjekte bestimmt, die
Erwartungen formulieren, Individuen und Institutionen. ... Eine Wertekonstellation muß nicht als Datum hinge-
nommen werden, sondern wird als Gegenstand unternehmerischer und politischer Gestaltung betrachtet. Es ist
insofern eine handlungsoptimistische Theorie." (G. Schmidtchen, Wie weit ist der Weg nach Deutschland? Sozi-
alpsychologie der Jugend in der postsozialistischen Welt, Opladen 1997, Kap. 1, Zitat: 39)
3

gramm. ... Die Modernisierung der gesellschaftlichen Organisation, der Berufswelt vor allem,
die Expansion von Wissen und Bildung, die allgemeine Ressourcensteigerung an Gütern und
Dienstleistungen hat zwei Vorgänge ausgelöst, die zwangsläufig die Arbeitsweise der Institu-
tionen beeinflussen werde, auf ihre Veränderung drängen. Das ist erstens der sinkende Nutzen
der Identifikation und zweitens das Souveränitätsstreben der aus der alten Bindungen freige-
setzten Person." (Schmidtchen 1997: 30f.).

Pädagogisch moralisierende Ordnungsrufe vom Hochsitz der Tradition, aber auch aus dem
Unterstand desillusionierter Utopiker kommender Spott über die oft vergeblichen Mühen der
Selbstverwirklichung unterschätzen, wie tief diese ambivalente(!) Entwicklung dem individu-
ellen und gesellschaftlichen Leben eingeschrieben ist. Zugleich überzeichnen sie gern den
egoistischen Zug im Prozess der Individualisierung. Doch selbst die forcierte Verfolgung in-
dividueller Interessen bewegt sich in beträchtlicher Entfernung vom Hobbesschen Naturzu-
stand. Auch daran sei hier noch kurz erinnert.

Besonderes Interesse verdient in unserem Zusammenhang, worauf der Frankfurter Soziologe
Karl Otto Hondtrich in letzter Zeit immer wieder hingewiesen hat:° Der individualisierende
Zug unserer gesellschaftlichen Entwicklung werde in der öffentlichen Diskussion oft in ein
Leitbild transformiert, das den Blick dafür verstelle, wie Individualität, nach wie vor, in ho-
hem Maße kollektiv eingebunden ist. Gleichwohl "skeptisch gegenüber dem aktivistisch-
politischen Impetus der Kommunitaristen, Gemeinschaft müsse sich manifestieren, es müsse
zu ihr, auch wissenschaftlich, aufgerufen werden", lenkt er seinen Blick darauf, "wie Ge-
meinschaft sich selbst erzeugt: In /atenten Prozessen, also von den Beteiligten oft unbeab-
sichtigt und unerkannt. Prozeßhaft, in die Zukunft hinein; „.... wie Gemeinschaft nicht aus
Gemeinschaftswillen entsteht, sondern gerade umgekehrt, aus Individualisierung, die in einem
dialektischen Prozeß in Gemeinschaftsbildung umschlägt." (Hondrich 2001: 44) Im Gegen-
satz zu der These, dass dabei durchgängig die Sozialstruktur von Herkunfts- auf Wahlbindun-
gen umgestellt werde, bestätigen seine Untersuchungen vielmehr die große (re-)produktive
Kraft von "Herkunftsbindungen" im Umfeld brüchiger Wahlbindungen: Individualisierung
regeneriert nicht selten, sie freilich auch verwandelnd, solche Herkunftsbindungen wie Fami-
lien- und Verwandtschaftsbeziehungen, Nachbarschaften oder etwa auch die Verbundenheit
mit dem Herkunftsrahmen der eigenen Sprache und Kultur, des nationalen Bildungs- und So-
zialstaats.?

Man sieht: mit dem "Wertewandel" und der "Individualisierung" verhält es sich so einfach
nicht. Dies ist im Sinn zu halten bei den nachfolgenden Gedanken zur Ethik'”.

8 Karl Otto Hondrich, Der Neue Mensch, Frankfurt/Main 2001; hier insbesondere der zweite Text: Der indivi-
dualisierte Mensch - und seine Bindungen.

° Zur Erläuterung führt Hondrich (2001: 44ff.) folgende Beispiele an: a) Arbeitlosigkeit: die individuelle Lö-
sungsstrategie der Schwarzarbeit für Freunde und deren Freunde, Bekannte und deren Bekannte ist ein Weg
"schnurstracks zurück in alte Herkunftsbindungen und Produktionsgemeinschaften" (45); b) Lohnverhandlun-
gen: die Differenzierung von Rahmen- und Zusatzvereinbarungen bedeutet , als "Konsens höherer Ordnung", ei-
ne weitere "Art der Verwandlung, die die Individualisierung mit traditionellen Bindungen vornimmt: Kollektive
Lösungen lösen sich nicht auf, sondern werden auf mehrere Ebenen verteilt - und dabei emeuert, aufgehoben, oft
verstärkt"(48); c) Fortbildung: der Einzelne nutzt "individuell alle Chancen, sich weiterzubilden oder umzu- _
schulen. Diese Chancen werden individuell ergriffen -aber sie werden nicht individuell gemacht. Sie sind das
Ergebnis einer Bildungskultur und eines Bildungs- und Sozialstaates, die ein lange kollektive Herkunftsge-
schichte haben" (48); d) Ehe: die "individuellen Ehen zerbrechen - die Institution bleibt. ... Weil das moderme
Paar die moderne kollektive Vorstellung von der Ehe als einer Institution des liebevollen und harmonischen Zu-
sammenlebens hochhält, trennt es sich lieber, als das Ideal der Institution aufzugeben" (50).

10 ]n der gebotenen Kürze kann die mich leitende Idee von Ethik hier nicht streng argumentativ entwickelt wer-
den. Da sich meine Position in der Nähe der Volker Gerhardts verorten lässt, werde ich mich im folgenden Ab-
schnitt vornehmlich auf ihn beziehen und empfehle zur argumentativen Nachbearbeitung seinen Band: Indivi-
dualität. Das Element der Welt (München 2000). Vgl. auch vom selben Autor: Selbstbestimmung. Das Prinzip
der Individualität, Stuttgart 1999.
4

3. Ethik der Individualität: Anerkennung als Konsens-Dissens-Management

Wissenschaftliche Arbeit, ins Allgemeine vernarrt, neigt zur Flucht vor der Individualität.
Selbst in ethischen Diskursen ist es keineswegs die Ausnahme, dass viel über Gesetze und
Prinzipien, Werte und Güter, auch über die Würde und das Glück des Menschen gesprochen
wird, aber das ihnen Sinn verleihende Individuum unbeachtet bleibt. So ist es auch keines-
wegs trivial, mit Volker Gerhardt Individualität als "elementare(n) Tatbestand unserer Welt"
zu behaupten: "Alles ist individuell, und alles will sich, sofern es wollen kann, in seiner Indi-
vidualität erhalten. Daher ist das Individuelle schon in seinem puren Dasein der Ursprung
menschlichen Handelns, und in seinem unvermeidlichen Anspruch ist es dessen normierendes
Ziel." (Gerhardt 2000: 18) Die elementare Verständigung über das Leben, das jeder zu führen
hat, vollzieht sich in der Spannung zwischen dem, was vorgeben ist, gewollt werden kann und
in der Vermittlung von beidem als gemäße Aufgabe verantwortet werden soll.

Dieses Plädoyer für eine Ethik, die von der selbstbewussten Individualität als basaler Form
menschlicher Lebensgestaltung ihren Ausgang nimmt, impliziert zum einen die Absage an
solche "naturalistischen" Selbstbeschreibungen des Menschen, für welche die individuelle
Freiheitserfahrung bloß als vielleicht nützliche Illusion im Lebensvollzug und dieser nur noch
als Funktion einer eigentlich sinnfremden biosozialen Entwicklungsdynamik erscheinen
kann'!. Zum anderen bedeutet es eine Abgrenzung gegen einen solchen (religiös oder sonst-
wie weltanschaulich begründeten) Weltbegriff, von dem her als "objektivem" Bezugssystem
Verhaltensordnungen und Einfügungsforderungen für die Handlungssphäre abgeleitet wer-
den.'? Sofern in beiden Fällen das bewusste Leben nach Maßgabe eines vorgängigen Allge-
meinen gleichsam von außen "wissenschaftlich" erklärt bzw. "autoritativ" in Anspruch ge-
nommen wird, geschieht das jedoch auf der Basis faktisch weithin nicht (oder nicht mehr)
geteilter Wahrheitszumutungen. Demgegenüber erscheint mir der vorgeschlagene Ansatz,
wegen seiner bescheideneren Voraussetzungen und wegen seiner größeren Verständigungsof-
fenheit (und seiner geringeren Anfälligkeit für besser wissenden Kommunikationsabbruch),
vorzugswürdig.

Individualität weckt - jenach Kontext - stärkere oder schwächere Assoziationen zu ord-
nungswidrigen oder gar asozialen Verhaltensweisen. Die Unterstellung eines "wesentlichen"
Gegensatzes von Individualität und Sozialität oder auch von Autonomie und Solidarität treibt
aber in die Irre. Denn jeder weiß, dass er sein Leben in einer auf vielfältige Weise sozial be-
stimmten Realität zu führen hat:

"Wer der werden will, der er ist, muss hoffen können, dass es ein von ihm erwartetes Zusammenspiel
der Individuen gibt. ... Jeder will auch und gerade im Zusammenhang mit anderen er selber sein.
Folglich liegt [auch! K.E.] die Organisationsbedingung der Politik in der Konstitution des Individu-
ums, das gerade in Gesellschaft nicht auf eigene Zwecke verzichten will. Erst wenn man dieses Zu-
sammenhang erkennt, wird offenkundig, warum Politik in ihren auf eine Menge von Menschen bezo-
genen Zielen nur überzeugen kann, solange sie ihre prinzipielle, d.h. die ihre Konstitution tragende
Bedingung, nämlich die zur selbstbewussten Individualität gesteigerte Verfassung des Einzelnen, mit
allen Mitteln zu sichern sucht." (Gerhardt 2000: 157, 162)

Moral nun beginnt dort, wo ein Individuum im Bemühen, sich bewusst unter seinesgleichen
zu sichern, auf gewaltsame Durchsetzung seiner Intentionen verzichtet und die Begrenzung
seines bedürfnis- und interessegeleiteten Handelns nicht lediglich zweckrational kluger Kal-
kulation, sondern der unbedingten Anerkennung einer unparteilichen Rücksichtspflicht den
Mitmenschen gegenüber geschuldet ist. Es ist solcher Respekt vor.der Würde jedes Individu-
ums, den Menschen unbedingt einander abfordern müssen, um gemeinsam frei - d.h. auch:

!! Zu einer möglichen Verständigungsperspektive über das Verhältnis zwischen subjektiver Freiheitserfahrung
und wissenschaftlich-objektiver Beoachtung vgl. Ebeling (2001): 102ff.

!2 Zur Frage, warum "innerhalb der Vorherrschaft dieser Normtypik ... eine Konzeption von den Rechten des
Menschen niemals zustande gekommen ist", vgl. Dieter Henrich, Ethik zum nuklearen Frieden, Frankfurt/Main
1990, Beilage C: Kontexte der Autonomie; Zitat: 287.
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verschieden - leben zu können.'? Das basale Anerkennungskriterium definiert Moralität, zu-
reichend aber nicht "die Moral". Es orientiert lediglich "protomoralisch"!* die fortlaufend
aufgegebene Verständigung über konkrete Praxisnormen und ist also mit einem auch morali-
schen Pluralismus in der Einschätzung konkreter Lebens- und Handlungsweisen sehr wohl
vereinbar.

"Was soll ich, was sollen wir tun?" "Was ist verboten, was erlaubt oder gar geboten?" Kon-
kret stellen sich diese Fragen immer bestimmten Personen in bestimmten Situationen, und die
Antworten darauf sind weder allein aus allgemeinen Prinzipien, Normen und Regeln zu dedu-
zieren noch einfach aus den gegebenen Sachverhalten und Situationen herauszulesen. Der ei-
gentliche Ernstfall, die zentrale Probe moralischer bzw. ethischer Urteils- und Handlungs-
kompetenz besteht sonach in der verbindlichen (Selbst-)Verständigung über die je angemes-
sene Vermittlung von Normen und Sachverhalten.!? Diese Kompetenz kann nicht wie ein tra-
dierter Normen- und Wertekatalog oder einfaches Faktenwissen gelernt und gelehrt werden,
zumal unter den oben umrissenen Bedingungen die sie herausfordernde Regelsituation auch
eher die sein dürfte, dass nämlich weder solche bestandssicheren Kataloge noch zweifelsfrei
einzuschätzende oder gar vollständige Sachinformationen vorliegen (können). Worauf also
kommt es an? Ich möchte - insbesondere im Vorblick auf die Erörterungen zu einer Ethik der
Inneren Führung - drei Aspekte hervorheben:

(1) Es gibt viele Möglichkeiten, an der als "Kerngeschäft" von Moral und Ethik herausge-
stellten Vermittlungsaufgabe zu scheitern. So begründet z.B. Niklas Luhmann seine häufig
artikulierte Warnung vor einer Vermischung kognitiver und moralischer Fragen u.a. damit,
dass Moral die Kommunikation nach dem Schema Achtung/Missbilligung, Inklusi-
on/Exklusion organisiere. Dies werde aber bei der Verständigung gerade über komplexe
Sachverhalte zur Belastung, wenn dann etwa mit Meinungen über Wahrscheinliches oder
Unwahrscheinliches wie mit moralischen Verpflichtungen umgegangen würde. Moralische
Kommunikation diene oft genug der Immunisierung gegen die "Evidenz des Nichtwissens"
und lasse aufgrund der ihr innewohnenden Tendenz zur vereindeutigenden Übertreibung Ver-
ständigung bereits aussichtslos erscheinen, wo es zunächst einmal nötig sei, "Unsicherheiten
zu vermehren und das gemeinsame Wissen des Nichtwissens zu pflegen." 16 In ähnlicher Wei-
se hat Thomas E. Schmidt vor einiger Zeit die "universalistische Moral" als Wiederkehr einer
unabgegoltenen, gescheiterten politischen Utopie mit "hoch entzündliche(m) zeitdiagnosti-
sche(n) Erregungspotential"!” karikiert. Sie ziehe eben nicht in Betracht, was "reflektiertes
Dasein" gerade auszeichne: "daß es die unterschiedlichen Funktionszwänge und Ethiken all

13 Der Idee der Menschenwürde darf also auch keine Definition von "Mensch" unterschoben werden, die Diffe-
renz und Andersheit von Individuen dadurch zum Verschwinden bringt, dass von Besonderheiten entweder zu-
gunsten eines aus Einzelmerkmalen herausgelesenen Allgemeinen abstrahiert oder in selektiver Evaluation be-
stimmte Merkmale als allgemeingültig ausgezeichnet werden. Siehe Annemarie Pieper, Menschenwürde. Ein
abendländisches oder ein universelles Problem? In: Eilert Herms [Hg.], Menschenbild und Menschenwürde,
Gütersloh 2001: 19-30, inbes. 23f., wo dieser Gedanke von ihr auch patriarchatskritisch konkretisiert wird.

14 Zur Unterscheidung von "Moral" und "Protomoral" vgl. Jörg Bergmann/Thomas Luckmann, Moral und
Kommunikation, in: dies. (Hg.), Kommunikative Konstruktion von Moral, Band 1, Opladen 1999: 24-28.

15 Die Aufgabe "angewandter" Ethik wird unterschätzt, sofern sie auf subsumtionslogischen Normtransfer redu-
ziert wird. Ihr ganz und gar nicht nachrangiges Geschäft ist vielmehr eine vermittelnde Bewegung von bestim-
mender Transformation des Generellen ins Besondere und reflektierender Transformation des Besonderen ins
Generelle. Zwei eigene Beispiele für diese Erwägungsart: a) Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Friedense-
thische Kriterien zur Beurteilung des Konflikts (Vortrag von 1993), veröffentlicht in Militärseelsorge - Doku-
mentation, 38.Jg.. Juli 2000: 78-96; b) Auch ein moralisches Problem: Rüstungsexport, in: Johannes Hoffmann
(Hg.), Irrationale Technikadaption als Herausforderung an Ethik, Recht und Kultur, Frankfurt/Main 1997: 142-
159.

16 Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992; hier v.a. der Text über die "Ökologie des
Nichtwissens"; Zitat: 197.

17 Thomas E. Schmidt, Marktwirtschaft und universalistische Moral, in: Merkur 55 (2001) 9/10: 794-804, Zitat:
797.
6

jener gesellschaftlichen Subsysteme, in die es involviert ist, aushält und zu einer lebbaren
Einheit koordiniert." Und er resümiert:

"Nur so, in Gestalt einer 'schwachen', einer nichtuniversalistischen gesellschaftlichen Normativität
sind die Folgen einer konsternierten Fixierung auf die Jetztzeit zu vermeiden, wie sie der enttäuschte
Utopismus nahelegt. Denn die universalistische Moral spricht ein Verdikt über die Dynamik der ge-
sellschaftlichen Bereiche, während nur aus deren Lern- und Anpassungsfähigkeit eine bewußte Aus-
richtung auf die Zukunft zu gewinnen ist." (Schmidt 2001: 802 bzw. 803).

Zweifellos trifft diese Kritik einen im Hinblick auf die Praxistauglichkeit von Moral und
Ethik entscheidenden Punkt, wenngleich ich bestreiten möchte, dass sie jeder Gestalt univer-
salistischer Moral und Ethik gerecht wird."? Auf jeden Fall werden sich Vorbehalte dieser Art
gegenüber "moralischer Kommunikation" nur relativieren oder gar ausräumen lassen, wenn
und insofern es gelingt, sie im Kontext hochgradig ausdifferenzierter, sich ständig verändern-
der Gesellschaften und in der Auseinandersetzung mit pluralen Lebensmodellen in verschie-
densten Lebens- und Weltlagen als eine effektive Gestalt von Konsens-Dissens-Management
zu etablieren.

(2) Damit ist unweigerlich die reflexive Aufweichung des Verhältnisses zu moralischen Nor-
men, auch zu Lebensdeutungen im Ganzen verbunden. Sie indiziert durchaus nicht einen Nie-
dergang der Moral oder Rückzug der Ethik, sondern die "Entgiftung" moralischer Auseinan-
dersetzungen und ethischer Erwägungen (wenn hinsichtlich dieser "Moralisierungsdistanz"
zwischen den jeweils Konfliktbeteiligten keine gravierenden Ungleichzeitigkeiten bestehen).
Problematisch wird diese Entwicklung erst an dem Punkt "wo sie die Verbindlichkeit des Mo-
ralitätskriteriums selbst destruiert, das kategorisch darauf verpflichtet, die Bedingungen für
ein ziviles Miteinander und damit zugleich auch für konsistent und differenzfreundlich dyna-
mische Identitätsansprüche zu erarbeiten bzw. zu bewähren und zu schützen. Menschenge-
recht ist die reflexive moralische Haltung, sofern sie die Spannung zwischen unbedingter Mo-
ralitätsforderung und moralisch-ethischer Normierungs- und Orientierungstoleranz hält und
sie eben nicht fundamentalistisch oder relativistisch auflöst." (Ebeling 2001: 108)"?

(3) Das Interesse an einem moralisch anspruchsvollen Konsens-Dissens-Management kann
verlässlich nur (re-)generiert werden, wenn sowohl im weiten Spektrum der vorhandenen Bil-
dungseinrichtungen als auch mittels noch zu entwickelnder Gelegenheitsstrukturen, die vor-
nehmlich für die nachwachsende Generation attraktive Verständigungsräume erschließen, for-
ciert in die Ausbildung und Erprobung entsprechender Kompetenzen investiert wird.”

Es liegt auf der Hand, dass hierbei nicht zuletzt an die Bundeswehr und deren Verantwortung
für ihre Soldaten gedacht werden muss.

Bundeswehr
4. Nachdenken über Innere Führung: ein Blick auf das Reformkonzept v. Baudissins

Die Militärreformer um Wolf Graf von Baudissin haben in der Gründungsphase der Bundes-
wehr der Idee einer ungefährlich effektiven Streitkraft in der Konzeption der Inneren Führung

18 Zur Möglichkeit eines "pragmatisch gebrochenen Kantianismus" vgl. Otfried Höffe, Universalistische Ethik
und Urteilskraft: ein aristotelischer Blick auf Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44 (1990) 4:
537-563.

"9 Zur Abgrenzung "egalitärer Dialogbereitschaft" von "der im Westen vielfach propagierten objektivierend rela-
tivistischen Haltung gegenüber den eigenen Vorstellungen bei einer gleichzeitig unhinterfragt kritiklosen Ak-
zeptanz fremder Nationen" im Namen einer missverstandenen Toleranz vgl. Gertrud Nunner-Winkler, Men-
schenrechte. Zur Universalisierbarkeit und inhaltlichen Reichweite westlicher Vorstellungen, in: Wissenschaft &
Frieden 13 (1995) 4: 6-11.

2 Vgl. Schmidtchen (1997: 27) spricht angesichts vieler frustrierender Erfahrungen von Jugendlichen, die Mo-
ral als Wettbewerbsnachteil zu erweisen scheinen, von der Notwendigkeit, "Bewährungsgelegenheiten für an-
erkennenswertes Verhalten zu schaffen."
7

eine konkrete Gestalt verschafft. Obwohl damals wie heute nicht unumstritten, prägt sie doch
das normative Selbstverständnis und die Organisationskultur dieser auf eine moral- und de-
mokratieverträglich "innere Ordnung" und auf eine moral- und friedensverträgliche "äußere
Funktionalität" verpflichteten Armee.

Die prioritär friedens- und sicherheitspolitisch bedingte Reform der Bundeswehr "von Grund
auf" nötigt nun allerdings auch zu einer kritischen Reflexion der Inneren Führung, einschließ-
lich ihrer ethisch-normativen Textur. Eine Konsequenz dieser von der Bundeswehrführung
geteilten Einschätzung war der an das SOWI vergebene Auftrag, in einem Studienpapier "die
ethischen Fundamente der Inneren Führung’ zusammengefasst darzulegen".”' Im Zuge der
Auseinandersetzung mit Dokumenten-Bergen zur Inneren Führung ist die Projektgruppe
schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass für die heute nötige Fortschreibung des Kon-
zepts Innere Führung wegweisend wäre, eine Art der Verständigung über sie vor- und auszu-
zeichnen, die konsequent an der von Graf Baudissin und seinen Mitarbeitern verfolgten In-
tention Maß nimmt.

Was erschließt der Blick zurück für den Weg nach vorne? Zunächst: dass die Reformer von
damals nicht nur kein abgeschlossenes Gedankengebäude hinterlassen, sondern solches auch
gar nicht im Sinn hatten. Konzept- (nicht: Rezept-)Charakter gewannen ihre Überlegungen
vor allem anderen durch die Einheit einer methodischen Denkweise, "die es sich zum Ziel ge-
setzt hatte, von den Realitäten des Krieges wie von der Norm einer demokratischen Gesell-
schaft gleicherweise auszugehen."?? Sodann ging es ihnen auch nicht lediglich darum, ein
zeitgemäßes "Führungsinstrument" zu schaffen. Gegen eine "sozialtechnisch" reduzierte
Sichtweise ist vielmehr zur Geltung zu bringen, wie v. Baudissin Innere Führung als ethisch
qualifiziertes Interaktions- und Anerkennungskonzept denkt und aus dieser Perspektive mit
Bezug auf real mögliche Kriegsbilder u.a. bestimmte organisationsstrukturelle Anforderungen
ableitet.” Zudem bietet es als dynamisch-normatives Handlungskonzept eine prinzipielle
Orientierung für eine fortlaufend kritische Verständigung über die jeweils aufgaben- und si-
tuationsgerechte Realisierung der Inneren Führung.

Die inhaltliche Durchführung dieser Rekonstruktionsidee, die im erwähnten SOWI-
Studienpapier versucht wurde (und gewiss auch noch ergänzungsbedürftig ist), Kann hier na-
türlich nicht im einzelnen nachgezeichnet, lediglich über die Markierung der wichtigsten Ka-
tegorien und Themen umrissen werden:

Das normative Handlungskonzept der Reformkonzeption lässt sich über eine dreifache Diffe-
renzierung genauer fassen. Die differenzierenden Funktionen sind die Begriffe "Legitimati-
on", "Integration" und "Identität", deren ethisch-normative Ausrichtung und Dimensionierung
über drei Handlungspostulate erfolgt**.

- Legitimation: "Soldat für den Frieden" (Friedensethische Dimension)
- Integration: "Staatsbürger in Uniform" (Gesellschaftsethische Dimension)
- Identität: "Autonome Persönlichkeit

im soldatischen Dienst" (Berufsethische Dimension i.e.S.)

Diese normativ-pragmatische Definition des Konzepts Innere Führung ist im Bezug auf

die jeweils gegebenen Handlungsbedingungen zu spezifizieren”. Welche Aufgabe damit ge-
genwärtig gestellt ist, möchte ich anhand der folgenden "Themenliste" darstellen. Sie fasst die
sich verändernden Rahmenbedingungen für Legitimation, Integration und Identitätsbildung
unter den Kategorien "Kriegs-/K.onfliktbild" (Situationen), "Militärische Kooperation" (AK-

2! Projektauftrag des Führungsstab des der Streitkräfte (Fü S I4) vom 17. Juli 2001.

22 Martin Kutz, Historische Wurzeln und historische Funktion des Konzeptes Innere Führung, in: Kurt Ki-
ster/Paul Klein (Hg.), Staatsbürger in Uniform - Wunschbild oder gelebte Realität? Baden-Baden 1989: 11.

23 Damit soll keineswegs die Legitimität auch "sozialtechnisch" interessierter wissenschaftlicher Untersuchun-
gen bestritten werden. Nicht deren empirisch-distanzierte Zugangsart ist per se problematisch, wohl aber ihre
nicht auch mit prinzipiellanderen Perspektiven vermittelte praktische Umsetzung.

24 Siehe Ebeling/Seiffert/Senger (2002), Abschnitt 3.4.

3 Vgl. Ebeling/Seiffert/Senger (2002), Kap. 5.
8

teure), "Gesellschaft/Kultur" (Prozesse) in Zuspitzung auf friedens-, gesellschafts- und beruf-
sethisch besonders problematische Risikotrends (ohne damit deren faktische Dominanz zu

unterstellen!):

Identität

Kriegs-/Konfliktbild

Militärische Koope-
ration

Gesellschaft/Kultur

Relativierung des
Gewaltverbots?
"Humanitäre Interventi-

on"

Stärke vor Recht?
"Allianzen im Dienste ex-

klusiver Interessenpo-
litik"

Kampf der Kulturen?
"Menschenrechtlicher
Universalismus zwischen
kulturrelativistischer Indif-
ferenz und fundamentali-
stischer Reaktion"

Delegation
(welt-)Jbürgerlicher
Verantwortung?
"Streitkräfte als margina-
lisierte Sicherheitsunter-
nehmen"
Herrschaft technokra-
tischer Imperative?
"Multinationale Effekti-
vität vor Demokratie- und
Sozialverträglichkeit"

Pluralismus als Wer-
terelativismus?
"Entkoppelung von Ver-
fassungspatriotismus und
Corporate-Identity-
Management der Streit-
kräfte"

Ent- oder Übermorali-
sierung des soldati-

schen Dienstes?
"Soldat sein: wie ein Poli-
zist, wie ein Söldner oder

Sonderethos für Ge-
waltspezialisten?
"Rekurs auf transnationale
soldatische Traditionen
und Tugenden"
Erosionder Lebens-
deutungs-kompetenz?

"Individuelle Selbstver-
wirklichung ohne opferbe-
reite Solidarität"

 

Über die Auseinandersetzung mit solchen dringlichen Fragen zur Friedens- und Sicherheits-
politik, zum zivil-militärischen Verhältnis und zum soldatischen Selbstverständnis ist das
normative Selbstverständnis der Bundeswehr auf die gesellschaftlichen Verhältnisse wie auf
die gegebenen und erwartbaren Problemlagen im Geflecht internationaler Beziehungen abzu-
stimmen. Die ethische Profilierung bzw. die Sicherung und Fortentwicklung des ethischen
Profils des Konzepts Innere Führung ergibt sich in diesem Prozess nicht einfachhin; sie muss
stets eigens bedacht und erarbeitet werden. Die im SOWI-Projekt zur "Ethik der Inneren Füh-

rung" hierfür entwickelte Orientierungshilfe möchte ich nun knapp skizzieren“.

3. Ethische Reflexion der Inneren Führung - ein Prozessmodell

26

Die Kommunikations- und Sozialform von Moral und Ethik hat sich, wie oben dargetan, ver-
ändert. So wird man den moralisch ambivalenten Zeitläuften nur beikommen können, indem
man sich kontinuierlich um die Regenerierung des moralisch-ethischen Grundkonsenses unse-
rer Kultur und unseres Gemeinwesens bemüht, in dessen Horizont sich die Verständigungs-
prozesse über konkrete Norm- und Wertfragen halten sollen - ohne Wenn und Aber, auch in
Bezug auf die Streitkräfte und ihre Soldaten. Dieser an jeweils akuten Problemen kritisch zu

bewährende Konsens ist wesentlich menschenrechtlich bestimmt. Sonach sind es die normati-
ven Leitideen Freiheit bzw. Autonomie (Dimension der liberalen Freiheitsrechte), Demokratie
bzw. Partizipation (Dimension der politischen Teilhaberechte), Gerechtigkeit bzw. Solidarität
(Dimension der sozialen Teilhaberechte), Frieden bzw. Zivilisierung (Dimension der kollekti-

26 Siehe Ebeling/Seiffert/Senger (2002), Kap. 6.
9

ven Anspruchsrechte), die im Ausgang von der Basisintuition der Menschenwürde den Hori-

zont ethischer Verständigung verbindlich inhaltlich vorstrukturieren können.”

Eine Möglichkeit, diese Vorstruktur vorsichtig zu qualifizieren, besteht nun darin, die mit den

Leitideen verknüpften politisch-ethischen Aufgabenstellungen zunächst in Prozessmuster zu

übersetzen, die - zwischen nötiger Bestimmtheit und möglicher Offenheit balancierend - eine

breit zustimmungsfähige Ausgangssituation für die Diskussion und zugleich das Spannungs-

feld für die Suche nach Problemlösungen abzustecken vermögen. Die Tauglichkeit der hier

vorgeschlagenen Prozessmusterdefinitionen”® erweist sich darin, ob bzw. wie gut sie als "Ge-

nerator" ethischer Fragen funktionieren und die einzelnen Erörterungen auf ihre ethische

Grundspannung hin auszurichten vermögen.

-  Prozessmuster Freiheit: Weniger externe Kontrolle (Anpassung/Zwang) - mehr Selbstbe-
stimmung und Selbstentfaltung

-  Prozessmuster Demokratie: Weniger unkontrollierte Herrschaft - mehr Mitbestimmung
und zivilgesellschaftliche Organisation

-  Prozessmuster Gerechtigkeit: Weniger egoistische Nutzenmaximierung - mehr Chancen-
gleichheit und fairer Interessenausgleich

-  Prozessmuster Frieden: Weniger gewalttätiger Konfliktaustrag - mehr Gerechtigkeit und
wohlgeordnete Freiheit

Mit der prozesslogischen Interpretation der Menschenwürde (die deren Idee nicht zu erfüllen

behauptet) als das alle menschlichen Individuen einander verpflichtende Anerkennungsver-

hältnis ist zugleich eine Brücke zu einer zweiten formalen normativen Vororientierung zu

schlagen. Ethisch qualifizierte Kommunikation und Interaktion ist verwiesen auf die Aner-

kennung des Anspruchs, Tun und Lassen vor dem und den Anderen zu rechtfertigen, also das

wechselseitige Einfordern von Gründen. Aber Begründung ist nicht gleich Begründung. Vor

dem Hintergrund des bisher Gesagten ist vielmehr unter den im Folgenden unterschiedenen

ethischen Begründungsweisen”? die horizontale auszuzeichnen.

27 Allerdings besteht zum einen ein konfliktträchtiges "Realitätsgefälle" zwischen prinzipieller Anerkennung und
faktischer Durchsetzung, zum anderen zwischen konkreten (und z.T. rechtlich fixierten) Deutungen dieser Leiti-
deen und dem durch sie erschlossenen Horizont ein nicht minder folgenreiches "Möglichkeitsgefälle". Das eine
definiert politisch, das andere theoretisch die Grundspannung einer Pragmatik, die weder die ethische Normie-
rung des Lebens noch die ethische Situierung normativer Gedanken einsinnig als induktive oder deduktive und
zudem abschließbare Bewegung auffasst.

28 Sie sind insofern "asymmetrisch" zu denken, als hinter den "Weniger"-Aussagen strikte Schädigungsverbote
stehen, die "Mehr"-Aussagen hingegen aufein Spektrum von komplementären Gestaltungs- und- Hilfsgeboten
abheben, deren Bedeutung und Rang weit schwerer zu bestimmen ist. Vgl. dazu Thomas Hoppe, Weltinnenpo-
litik durch Weltethos? In: Herder-Korrespondenz 51(1997)8: 410-414.

29 Die mit Rücksicht auf die gebotene Beschränkung der Darlegung hier nur stichwortartig charakterisierten Ty-
pen entwickelt plausibel Ernst Tugendhat: Moral in evolutionstheoretischer Sicht, in: ders., Aufsätze 1992-2000,
Frankfurt/Main 2001: 199-224; insbes. 213-221. Vgl. Ebeling/Seiffert/Senger (2002): 58-60.
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