2012-mv-deutsch-aufgaben

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „[IFG] Abituraufgaben der Fächer Mathe, Deutsch und Physik 2012 - 2017

Diese Anfrage wurde als Teil der Kampagne „Frag sie Abi!“ gestellt.

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Mecklenburg-Vorpommern Zentralabitur 2012 Deutsch Aufgaben
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Abitur 2012 Deutsch                                                         Seite 2 Hinweise für Schüler Aufgabenauswahl:    Wählen Sie von den vorliegenden vier Aufgabenblöcken einen aus und bearbeiten Sie diesen vollständig. Bearbeitungszeit:   Für den Prüfungsteil A beträgt die Arbeitszeit 240 Minuten. Für beide Prüfungsteile A + B beträgt die Arbeitszeit insgesamt 300 Minuten. Die Bearbeitung von A + B erfolgt in einem geschlossenen Aufsatz. Es stehen Ihnen zusätzlich 30 Minuten für das Einlesen und für die Wahl des Aufgabenblockes zur Verfügung. Hilfsmittel:       Sie dürfen ein Nachschlagewerk zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung verwenden. Schülerinnen und Schüler, deren Muttersprache nicht die deutsche Spracheist, könnenals zusätzliches Hilfsmittel ein zweisprachiges Wörterbuch in gedruckter Form verwenden. Näheresregelt die Schule. Hinweis:           Die den Aufgaben zu Grunde liegenden Texte wurdennicht in jedem Fall der neuen Rechtschreibung angepasst. Sonstiges:          GebenSie auf der Reinschrift den bearbeiteten Aufgabenblock an und nummerieren Sie die Seiten fortlaufend. Für die Bewertunggilt die Reinschrift. Entwürfe können nur dann ergänzend herangezogen werden, wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die Reinschrift etwa drei Viertel des erkennbar angestrebten Gesamtumfangsbeträgt.
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Abitur 2012 Deutsch                                                                 Seite 3 Aufgabenblöcke im Überblick Block I Hugo von Hofmannsthal:                 Poesie und Leben (Textauszug) Heinrich vonKleist:                    Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft — nur für Teil B! A       Analysieren Sie den Textauszug und bewerten Sie seine Gestaltungs- und Wirkungsweise. B       Reflektieren Sie, in welchem Verhältnis der vorliegende Text zum Textauszug von Hugo von Hofmannsthalsteht. Block II Georg Büchner:                        Leonce und Lena (Textauszug) Joseph von Eichendorff:               Aus dem Leben eines Taugenichts (Textauszug) — nur für Teil B! A       Interpretieren Sie die Szene aus „Leonce und Lena“ von Georg Büchner. B       Vergleichen Sie die beiden Textauszüge unter dem Aspekt des Romantischen. Block III Ror Wolf:                             Gar nichts Helmut Krausser:                      Die traurigeMär von Hans-Guntram & Yvonne — nur für Teil B! A       Interpretieren Sie den Text von Ror Wolf. B       Erarbeiten Sie mit Bezug aufbeide Texte Aspekte des Romantischen. Block IV Joseph von Eichendorff:               Abschied Loriot:                               Advent - nur für Teil B! A       Interpretieren Sie das Gedicht von Joseph von Eichendorff. B       Vergleichen Sie die beiden Gedichte.
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Abitur 2012 Deutsch                                                                                  Seite 5 Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in 30 einem Gedicht stehen kann,streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens. Kein äußerliches Gesetz verbannt aus der Kunst alles Vernünfteln, alles Hadern mit dem Leben, jeden unmittelbaren Bezug auf das Leben und jede direkte Nachahmung des Lebens, sondern die einfache Unmöglichkeit: diese schweren Dinge können dort ebensowenig leben als eine Kuh in den Wipfeln der Bäume. 35 »Den Wert der Dichtung« — ich bediene mich der Worte eines mir unbekannten aber wertvollen Verfassers — »den Wert der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit, Gelahrtheit), sondern die Form, das heißt durchaus nichts Äußerliches, sondern jenes tiefErregende Maß und Klang, wodurch zu allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren, den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben. 40 Der Wert einer Dichtung ist auch nicht bestimmt durch einen einzelnen, wenn auch noch so glücklichen Fund in Zeile, Strophe oder größerem Abschnitt. Die Zusammenstellung, das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander, die notwendige Folge des einen aus dem andern kennzeichneterst die hohe Dichtung.«' Ich füge zwei Bemerkungenhinzu, die sich beinahe von selbst ergeben: 45 Das Rhetorische, wobei das Leben als Materie auftritt, und jene Reflexionen in getragener Sprache haben auf den Namen Gedicht keinen Anspruch. Über das allein Ausschlaggebende, die Wahl der Worte und wie sie gesetzt werden müssen (Rhythmus), wird immer zuletzt beim Künstler der Takt, beim Hörer die Empfänglichkeit zu urteilen haben. 50 Be] Der eigene Ton ist alles; wer den nichthält,Dee     Seh innerenFreiheit, die erst das Werk möglich machen kann. Der Mutigste und der Stärkste ist er,derseine Worte am freiesten zu stellen vermag; denn es ist nichts so schwer, als sie aus ihren festen, falschen Verbindungen zu reißen. Eine neue und kühne Verbindung von Worten ist das wundervollste Geschenk für 33 die Seelen und nichts Geringeres als ein Standbild des Knaben Antinous? oder eine große gewölbte Pforte. Man lasse uns Künstler in Worten sein, wie andere in den weißen und farbigen Steinen, in getriebenem Erz, in den gereinigten Tönen oder im Tanz. Man preise uns für unsere Kunst, die Rhetoren aber für ihre Gesinnung und Wucht, die Weisheitslehrer für ihre Weisheit, die 60 Mystiker für ihre Erleuchtungen. Wenn man aber wiederum Bekenntnisse will, so sind sie in den Denkwürdigkeiten der Staatsmänner und Literaten, in den Geständnissen der Ärzte, der Tänzerinnen und Opiumesser zu finden: für Menschen, die das Stoffliche nicht vom Künstlerischen zu unterscheiden wissen, ist die Kunst überhaupt nicht vorhanden; aber freilich auch für sie gibt es Geschriebenes genug.[...] 65 (e 1896) Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I. 1893-1913. Frankfurt a. M.: Fischer 1979 ! Hofmannsthalzitiert in seiner Rede einen dichtungstheoretischen Aufsatz von Stefan George. * Der Knabe Antinous war ein Günstling und vermutlich Geliebter des römischen Kaisers Hadrian. Nach seinem Tode wurde er zum Gott erklärt und verehrt.
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Abitur 2012 Deutsch                                                                          Seite 8 Block II Georg Büchner:                          Leonce und Lena (Textauszug) Joseph von Eichendorff:                 Aus dem Lebeneines Taugenichts (Textauszug) — nur für Teil B! A        Interpretieren Sie die Szene aus „Leonce und Lena“ von Georg Büchner. B       Vergleichen Sie die beiden Textauszüge unter dem Aspekt des Romantischen. Text zum Prüfungsteil A Georg Bücher (1813-1837) Leonce und Lena (Erster Akt, Erste Szene) Lesehinweis: Prinz Leonce vom winzigen Königreich Popo soll bald König werden. Zu ihm tritt sein treuer Diener Valerio. Erster Akt O wär ich doch ein Narr! Mein Ehrgeiz geht auf eine bunteJacke. (Wie es Euch gefällt) x 4 UF, Erste Szene Ein Garten Leonce halb ruhend aufeiner Bank. Der Hofmeister Leonce: Mein Herr, was wollen Sie von mir? Mich auf meinen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll zu tun, ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen. — SehenSie, erst habe ich auf den Stein hier dreihundertfünfundsechzigmal hintereinander zu spucken. Haben Sie 10        das noch nicht probiert? Tun Sie es, es gewährt eine ganz eigne Unterhaltung. Dann — sehen Sie diese Hand voll Sand? Er nimmt Sand auf, wirft ihn in die Höhe undfängt ihn mit dem Rücken der Hand wieder auf. - Jetzt werf ich sie in die Höhe. Wollen wir wetten? Wieviel Körnchen habich jetzt auf dem Handrücken? Grad oder ungrad? — Wie? Sie wollen nicht wetten? Sind Sie ein Heide? Glauben Sie an Gott? Ich wette gewöhnlich mit 15        mir selbst und kann estagelang so treiben. Wenn Sie einen Menschen aufzutreiben wissen, der Lust hätte, manchmal mit mir zu wetten, so werden Sie mich sehr verbinden. Dann - habe ich nachzudenken, wie es wohl angehn mag, daß ich mir auf den Kopfsehe. Oh, wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das ist eins von meinen Idealen. Mir wäre geholfen. Und dann — und dann noch unendlich viel der Art. — Bin ich ein 20        Müßiggänger? Habeich jetzt keine Beschäftigung? — Ja, esist traurig... Hofmeister: Sehr traurig, Euer Hoheit. Leonce: Daß die Wolken schonseit drei Wochen von Westen nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch. Hofmeister: Eine sehr gegründete Melancholie. VS Berngiön
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Abitur 2012 Deutsch                                                                               Seite 9 25 Leonce: Mensch, warum widersprechen Sie mir nicht? Sie haben dringende Geschäfte, nicht wahr? Esist mir leid, daß ich Sie so lange aufgehalten habe. Der Hofmeister entfernt sich mit einer tiefen Verbeugung. Mein Herr, ich gratuliere Ihnen zu der schönen Parenthese, die Ihre Beine machen, wenn Sie sich verbeugen. Leonceallein, streckt sich aufder Bank aus: Die Bienensitzen so träg an den Blumen, und der 30       Sonnenscheinliegt so faul auf dem Boden. Es grassiert ein entsetzlicher Müßiggang. — Müßiggangist aller Laster Anfang. — Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und — und das ist der Humor davon - alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und 3a      meinen Gott weiß was dazu. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grundenichtsals raffinierte Müßiggänger. - Warum muß ich es gerade wissen? Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppeeinen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben, daß sie sehr rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde? — Der Mann, 40       der eben von mir ging, ich beneidete ihn, ich hätte ihn aus Neid prügeln mögen. Oh, wer einmal jemand anders sein könnte! Nur ’neMinutelang. Valerio, etwas betrunken,tritt auf. Wie der Mensch läuft! Wenn ich nur etwas unter der Sonne wüßte, was mich noch könnte laufen machen. 45 Valeriostellt sich dicht vor den Prinzen, legt den Finger an die Nase und sieht ihn starr an: Ja! Leonceebenso: Richtig! Valerio: Haben Sie mich begriffen? Leonce: Vollkommen. Valerio: Nun, so wollen wir von etwas anderm reden.Er legt sich ins Gras. Ich werde mich 50       indessen in das Gras legen und meine Nase oben zwischen den Halmen herausblühen lassen und romantische Empfindungen beziehen, wenn die Bienen und Schmetterlinge sich darauf wiegen wie auf einer Rose. Leonce: AberBester, schnaufen Sie nicht so stark, oder die Bienen und Schmetterlinge müssen verhungern über den ungeheuren Prisen, die Sie aus den Blumen ziehen. 55 Valerio: Ach Herr, was ich ein Gefühl für die Natur habe! Das Gras steht so schön, daß man ein Ochs’ sein möchte, um es fressen zu können, und dann wieder ein Mensch, um den Ochsen zu essen, der solches Gras gefressen. Leonce: Unglücklicher, Sie scheinen auch an Idealen zu laborieren. Valerio: Es ist ein Jammer! Man kann keinen Kirchturm herunterspringen, ohne den Hals zu 60       brechen. Man kann keine vier Pfund Kirschen mit den Steinen essen, öhne Leibweh zu kriegen. Seht, Herr, ich könnte mich in eine Ecke setzen und singen vom Abend bis zum Morgen: „Hei, da sitzt e Fleig an der Wand! Fleig an der Wand! Fleig an der Wand!“ und so fort bis zum Ende meines Lebens. Leonce: Halt’s Maul mit deinem Lied, man könnte darüber ein Narr werden. 65 Valerio: So wäre man doch etwas. Ein Narr! Ein Narr! Wer will mir seine Narrheit gegen meine Vernunft verhandeln? — Ha, ich bin ein Alexander der Große! Wie mir die Sonne eine goldne Krone in die Haare scheint, wie meine Uniform blitzt! Herr Generalissimus Heupferd, lassen Sie die Truppen anrücken! Herr Finanzminister Kreuzspinne, ich brauche Geld! Liebe HofdameLibelle, was macht meine teure Gemahlin Bohnenstange?
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Abitur 2012 Deutsch                                                                       Seite 10 70       Ach bester Herr Leibmedicus Kantharide, ich bin um einen Erbprinzen verlegen. Und zu diesen köstlichen Phantasien bekommt man gute Suppe, gutes Fleisch, gutes Brot, ein gutes Bett und das Haar umsonst geschoren — im Narrenhaus nämlich —, während ich mit meiner gesunden Vernunft mich höchstens noch zur Beförderung der Reife auf einen Kirschbaum verdingen könnte, um — nun? - um? 78 Leonce: Um die Kirschen durch die Löcher in deinen Hosen schamrot zu machen! Aber, Edelster, dein Handwerk, deine Profession, dein Gewerbe, dein Stand, deine Kunst? Valerio mit Würde: Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen, ich habeeine ungemeine Fertigkeit im Nichtstun; ich besitze eine ungeheure Ausdauerin der Faulheit. Keine Schwiele schändet meine Hände, der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner 80      Stirne getrunken, ich bin noch Jungfrau in der Arbeit; und wenn es mir nicht der Mühe zu viel wäre, würde ich mir die Mühe nehmen, Ihnen diese Verdienste weitläufiger auseinanderzusetzen. Leonce mit komischem Enthusiasmus: Komm an meine Brust! Bist du einer von den Göttlichen, welche mühelos mit reiner Stirne durch den Schweiß und Staub über die Heerstraße des 85      Lebens wandeln, und mit glänzenden Sohlen und blühenden Leibern gleich seligen Göttern in den Olympus treten? Komm! Komm! Valerio singt im Abgehen: Hei, da sitzt e Fleig an der Wand! Fleig an der Wand! Fleig an der Wand! Beide Arm in Arm ab. (e 1836) Georg Büchner: Leonce und Lena. Büchners Werke. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1984
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