2012-mv-deutsch-hinweise-losungen

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „[IFG] Abituraufgaben der Fächer Mathe, Deutsch und Physik 2012 - 2017

Diese Anfrage wurde als Teil der Kampagne „Frag sie Abi!“ gestellt.

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Mecklenburg-Vorpommern Zentralabitur 2012 Deutsch Hinweisefür die Lehrer (nicht für die Hand des Prüflings)
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Abitur 2012 Deutsch (Lehrer)                                                            Seite 2 Hinweise für Lehrer Allgemeine Hinweise Den Schülern ist ein Nachschlagewerk zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zur Verfügung zu stellen. Die Lösungshinweise sind eine Orientierung für den Lehrer. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sind keineswegs vom Abiturienten lückenlos abzuarbeiten. Das Erwartungsbild muss vielmehr in Abhängigkeit von den im Unterricht geschaffenen Voraussetzungen durch den Lehrer präzisiert werden. Gelangt der Abiturient zu anderen, vom jeweiligen Erwartungshorizont abweichenden Ergebnissen, sind diese zu akzeptieren, wenn sie der Aufgabenstellung entsprechen, sachlich richtig und nachvollziehbar begründetsind. Hinweise zur Korrektur und Bewertung Die Bewertung ist entsprechend den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung vorzunehmen. Der Abituraufsatz stellt eine komplexe Leistung dar, die mit einer Punktzahl und der entsprechenden Note bewertet wird. Teilnoten werden nicht ausgewiesen. Es gibt keinen Fehlerindex für den Elementarbereich, demzufolge müssen die Wörter nicht gezählt werden. Die Gliederung ist nicht Gegenstand der Bewertung, sondern Teil der konzeptionellen Vorbereitung auf den Aufsatz.
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Abitur 2012 Deutsch (Lehrer) Seite 3 Block I Hugo von Hofmannsthal:                Poesie und Leben (Textauszug) Heinrich von Kleist:                  Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft - nur für Teil B! Prüfungsteil A Analysieren Sie den Textauszug und bewerten Sie seine Gestaltungs- und Wirkungsweise. Der Schüler ist mit der Aufgabenstellung aufgefordert, die im Text organisierten Gegenstände als Einzelelemente zur Generierung von Bedeutung zu nutzen. Die Struktur des Textes muss herausgearbeitet und auf ihre Funktion und Wirkung hin untersucht und bewertet werden. Dabei sollen Aspekte des Romantischen als Kontext berücksichtigt werden. Der Textauszug thematisiert einen ästhetischen Wandel, von dessen Vorhandensein der Vortragende im Modus des Glaubens überzeugt ist. Eben dieser Bezug ermöglicht es dem Redner, Thesen zum Zustand der Kunst im Allgemeinen und der Dichtung im Besonderen zu platzieren. Die Argumentation geht in zwei Richtungen. Zunächst wird unbestimmt (‚man‘) ein Kreis von Verantwortlichen umrissen, der dann durch Berufs- und Tätigkeitsbezeichnungen (Philologen, Zeitungsschreiber, Scheindichter) scheinbar näher bezeichnet wird. Hofmannsthal macht sie für Prozesse verantwortlich, die sich in seiner Perspektive zur Tendenz (‚Zersetzung des Geistigen in der Kunstin den letzten Jahrzehnten‘) verdichten. Darin bestimmt der Text letztlich den Hauptgrund für eine systematische Störung der Kommunikation im Literaturbetrieb, die vor allem die Diskussion um die deutsche Gegenwartsliteratur (hier: um 1900) betrifft. Die Schüler haben in einer literaturhistorischen Perspektive hier die Möglichkeit, die Ausführungen Hofmannsthals als Kritik am literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Damit erfolgt implizit ein Brückenschlag zur Epoche der Romantik, die das Synonym ‚Neoromantik‘ für die Literatur um 1900 berechtigt erscheinenlässt. Der Bestandsaufnahme setzt der Redner eine Dichtungstheorie entgegen, die vom Konzept der Selbstreferentialität getragen ist. Das Konzept gründet auf einer Sprachauffassung, die dem Sprachsystem weitestgehend Autonomie gegenüber der Realität einräumt: „Die Worte sind alles, die Worte, mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nachinspirierten Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann.“ Von hier aus wird es Hofmannsthal möglich, Dichtung in eine Reihe anderer Künste zu stellen und sie im Hinblick auf Materialität zu gewichten (‚der leichtesten der Künste‘). Es wird ein Literaturbegriff konzipiert, der das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem so fasst, dass pragmatische und poetische Sprachverwendung jeweils unterschiedliche Welten erzeugt: die Lebenswelt und die Welt der Poesie. Für dieses erst in der Moderne seit der Romantik sichtbare Verhältnis findet er gültige Bilder („schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens“; „diese schweren Dinge können dort ebensowenig leben als eine Kuh in den Wipfeln der Bäume“). Hofmannsthals poetologische Überlegungen finden zeitgenössisch Anschluss an das vor allem von Stefan George verfolgte Projekt des Ästhetizismus. Somit ist es alles andere als Zufall, dass der Kern von Georges Überlegungen zum „Wert der Dichtung“ wörtlich zitiert wird. Der Vortragende bekräftigt das ästhetizistische Paradigma, indem er einerseits die Rhetorik aus dem Kreis der Dichtung ausschließt und andererseits den originellen dichterischen Ton im Vergleich zu anderen Dichtungen — sowohl diachron als auch synchron verstanden — zur unhintergehbaren Bedingung jener Dichtung bestimmt, die sich als Wortkunst selbstbewusst in die Reihe anderer Künste — Hofmannsthal nennt Bildhauerei, Musik und Tanz - stellt. Schüler, die eine Abiturklausur auf erhöhtem Anforderungsniveau
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Abitur 2012 Deutsch (Lehrer)                                                            Seite 4 erstellen, können den das Romantische kennzeichnenden Aspekt des Zusammenhangsaller Künste für die Verknüpfung mit dem Kleist-Text nutzen. Die Anforderungensind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung gut erfüllt, wenn e   zentrale Aussagen und bestimmendesprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmale eines Textes differenziert erfasst sind und umfassend bearbeitet werden die Aussagen präzise und umfassend auf die Aufgabe bezogen sind eine Vielfalt selbstständiger Bezüge und eigenständiger Ansätze erkennbar ist fachspezifische Verfahren und Begriffe sicher angewendet werden die Darstellung in gedanklicher Ordnung und sprachlicher Gestaltung überzeugt komplexe Gedankengängeentfaltet und eigenständige Positionen/Urteile dargestellt werden. Die Anforderungensind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung ausreichend erfüllt, wenn e   zentrale Aussagen und bestimmendesprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmale eines Textes in Grundzügen zutreffend erfasst sind die Aussagen insgesamt auf die Aufgabe bezogen sind grundlegende fachspezifische Verfahren und Begriffe angewendet werden die Darstellung verständlich ausgeführt und erkennbar geordnetist die standardsprachlichen Anforderungen im Ganzenerfüllt sind. Prüfungsteil B Reflektieren Sie, in welchem Verhältnis der vorliegende Text zum Textauszug von Hugo von Hofmannsthal steht. Ohne Hinführung äußert Kleist „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“. Die einleitungsfreien „Empfindungen“ finden ihre Entsprechung in der rahmensprengenden Wahrnehmung von Unbegrenztheit (‚Wasserwüste‘) und Unendlichkeit (‚Einsamkeit‘). Der Text formuliert die Unmöglichkeit, anhand des Bildes ästhetische Fragen im Sinne einer rationalen Reflexion zu erörtern. Diese Unmöglichkeit ergibt sich aus einer Parallele in der Wirkung bestimmter Natur- und Kunsterfahrungen. Beide haben das Vermögen, gestellten Ansprüchen Abbruch zu erteilen, indem sie die sinnliche Wahrnehmung überwältigen. Jenseits analytisch-rationaler Kunstbetrachtung konstituiert der Text in der Beschreibung von Empfindungeneine eigene ästhetische Qualität. Dass er einem Werk zeitgenössischer Malerei gilt, inszeniert in der Textsorte ‚Ekphrasis‘ (Umschreibung: anschauliche Bildbeschreibung) jenes Zusammenspiel der Künste, das als typisch romantisch bezeichnet werden kann (siehe oben, Erwartungsbild zu Prüfungsteil A). Im Vergleich kann festgestellt werden, dass die Beschreibung den Zusammenhang der Künste Malerei und Dichtung im umfassend Ästhetischenstiftet, den Hofmannsthal in der Reflexion des Verhältnisses von Dichtung und anderen Künsten begrifflich innerhalb der Ästhetik als Kunsttheorie fixiert. Gerade im Konnex von Malerei und Dichtung korreliert die Kleistsche Beschreibung auffällig mit der ästhetizistischen Kunstauffassung Hofmannsthals, dessen Auffassungen in Kunstdingen unmittelbar an das programmatische, manifestähnliche Vorwort zum Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde anschließen. Dort wird im Medium des Romans das Ineinander von Dichtkunst und Malerei in Szene gesetzt. In doppelter Hinsicht erscheint hier das Romantische: Sowohl die historische Romantik um 1800 als auch der Ästhetizismus um
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Abitur 2012 Deutsch (Lehrer) Seite 5 1900 haben eine europäische Dimension. Und in beiden Richtungen spielt die anschauliche Beschreibung von Kunstwerken eine herausragende Rolle, wobei im konkreten Fall eher der Kleist-Text diesen Aspekt bedient. Die Anforderungen sind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung guterfüllt, wenn e   zentrale Aussagen und bestimmende sprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmale der Texte differenziert erfasst sind und umfassend bearbeitet werden die Aussagen präzise und umfassend auf die Aufgabe bezogen sind eine Vielfalt selbstständiger Bezüge und eigenständiger Ansätze erkennbar ist fachspezifische Verfahren und Begriffe sicher angewendet werden die Darstellung in gedanklicher Ordnung undsprachlicher Gestaltung überzeugt komplexe Gedankengängeentfaltet und eigenständige Positionen/Urteile dargestellt werden. Die Anforderungensind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung ausreichend erfüllt, wenn e   zentrale Aussagen und bestimmendesprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmale der Texte in Grundzügen zutreffend erfasst sind die Aussagen insgesamt auf die Aufgabe bezogen sind grundlegende fachspezifische Verfahren und Begriffe angewendet werden die Darstellung verständlich ausgeführt und erkennbar geordnetist die standardsprachlichen Anforderungen im Ganzen erfüllt sind.
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Abitur 2012 Deutsch (Lehrer)                                                             Seite 6 Block II Georg Büchner:                    Leonce und Lena (Textauszug) Joseph von Eichendorff:           Aus dem Lebeneines Taugenichts (Textauszug) - nur für Teil B! Prüfungsteil A Interpretieren Sie die Szene aus „Leonce und Lena“ von Georg Büchner. Der Schüler ist aufgefordert, die im Auszug aus dem Lustspiel von Georg Büchner organisierten Gegenstände zu erkennen und zur Generierung und zur Reflexion von Bedeutung zu nutzen. Mittel und Strukturen des Textes müssen beschrieben und auf ihre Funktion hin untersucht werden. Dabei sind Aspekte des Romantischen zu berücksichtigen. Der Textauszug bildet den Einstieg in das Geschehen undstellt den melancholischen Leonce und seinen Diener, beide sich dem Müßiggang hingebend, im Kontrast zum devoten Hofmeister vor. Leonce verweigert sich einer vernünftigen Vorbereitung auf seine Zukunft, indem er gegenüber dem Hofmeister nutzlose, lediglich unterhaltende Aktivitäten vorgibt. Seine eigenen banalen Beschäftigungen lässt er gezielt übertrieben wichtig erscheinen, wohingegen gängige Ideale einer ironischen Betrachtung unterzogen werden. Der Prinz zeigt ist sich seiner eigenen Funktionslosigkeit bewusst und komplimentiert den sich anbiedernden Hofmeister spöttisch davon. Die Umgebung und physische Trägheit versetzen den Protagonisten in eine romantisch schwärmerische Stimmung, der er sich genussvoll hingibt. Er parodiert und entlarvt somit die Raffinesse von Repräsentanten der geordneten, geschäftigen und zielstrebigen Welt, welche einen solchen Zustand als Grundübel ansähen. Die akkumulative, teilweise parataktische, durch Wiederholungen und paradoxe Aussagen, Fragen und Wünsche gekennzeichnete Monologgestaltung zeigt einen desillusionierten und an seiner Nutz- und Hilflosigkeit verzweifelnden Prinzen. Im Gegensatz dazu versteht er sich mit dem nun erscheinenden Untergebenen Valerio trotz des für Außenstehende scheinbar unzusammenhängenden Dialoges. Er toleriert dessen distanzloses Verhalten und übernimmt seinen Sprachgestus. In ihm, der Leonces Stimmung teilt, humorvolle Gedankengänge zeigt und ironisch analogisierend mit dem höfischen Gebaren der Regierenden abrechnet, findet er einen Gleichgesinnten. Beider Wortwechsel erzeugt mit Hilfe von Übertreibungen, paradoxen Gedankengängen, von Wortspielen und Metaphern eine sich steigernde theatralische Komik. Mögliche Interpretationsansätze Verhältnis von Mensch und Natur Rolle der Komik, Ironie und Selbstironie Verhältnis von Individuum und Gesellschaft Romantisches und Romantisierung Identitätsverlust, Selbstfindungsversuche Funktion der Sprache Die Anforderungensind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung guterfüllt, wenn
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Abitur 2012 Deutsch (Lehrer)                                                           Seite 7 zentrale Aussagen und bestimmende sprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmaleeines Textes differenziert erfasst sind und umfassend bearbeitet werden die Aussagen präzise und umfassend auf die Aufgabe bezogen sind eine Vielfalt selbstständiger Bezüge und eigenständiger Ansätze erkennbar ist fachspezifische Verfahren und Begriffe sicher angewendet werden die Darstellung in gedanklicher Ordnung undsprachlicher Gestaltung überzeugt komplexe Gedankengängeentfaltet und eigenständige Positionen/Urteile dargestellt werden. Die Anforderungensind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung ausreichend erfüllt, wenn zentrale Aussagen und bestimmendesprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmale eines Textes in Grundzügen zutreffend erfasst sind die Aussagen insgesamt auf die Aufgabe bezogen sind grundlegende fachspezifische Verfahren und Begriffe angewendet werden die Darstellung verständlich ausgeführt und erkennbar geordnetist die standardsprachlichen Anforderungen im Ganzenerfüllt sind. Prüfungsteil B Vergleichen Sie die beiden Textauszüge unter dem Aspekt des Romantischen. Der Schülerist aufgefordert, aus beiden Textauszügen unterschiedlicher Autoren und Textsorten Aspekte des Romantischen herauszuarbeiten und zu reflektieren. Mögliche Vergleichsaspekte Müßiggang Gestaltungsmittel und deren Wirkung Raum undZeit Verhältnis von Individuum und Gesellschaft Verhältnis von Mensch und Natur Romantisches Selbstfindungsversuche Weltsicht der Protagonisten Textsorten und ihre Besonderheiten Die Anforderungen sind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung guterfüllt, wenn zentrale Aussagen und bestimmendesprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmale der Texte differenziert erfasst sind und umfassend bearbeitet werden die Aussagen präzise und umfassend auf die Aufgabe bezogen sind eine Vielfalt selbstständiger Bezüge und eigenständiger Ansätze erkennbar ist fachspezifische Verfahren und Begriffe sicher angewendet werden
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Abitur 2012 Deutsch (Lehrer)                                                           Seite 8 die Darstellung in gedanklicher Ordnung und sprachlicher Gestaltung überzeugt e   komplexe Gedankengängeentfaltet und eigenständige Positionen/Urteile dargestellt werden. Die Anforderungen sind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung ausreichend erfüllt, wenn zentrale Aussagen und bestimmendesprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmale der Texte in Grundzügen zutreffend erfasst sind die Aussagen insgesamt auf die Aufgabe bezogen sind grundlegendefachspezifische Verfahren und Begriffe angewendet werden die Darstellung verständlich ausgeführt und erkennbar geordnetist die standardsprachlichen Anforderungen im Ganzen erfüllt sind.
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Abitur 2012 Deutsch (Lehrer)                                                            Seite 9 Block IH Ror Wolf:                      Gar nichts Helmut Krausser:               Die traurige Mär von Hans-Guntram & Yvonne — nur für. Teil B! Prüfungsteil A Interpretieren Sie den Text von Ror Wolf. Der Schüler ist aufgefordert, die im Text von Ror Wolf organisierten Gegenstände zu identifizieren und zur Generierung und Reflexion von Bedeutung zu nutzen. Mittel und Strukturen des Textes müssen beschrieben und auf ihre Funktion und Wirkung hin untersucht werden. Dabei sollen Aspekte des Romantischen als Kontext berücksichtigt werden. Ror Wolfs Text spielt ernsthaft mit dem Romantischen unter stofflichen und poetologischen Aspekten und demonstriert damit die Anschlussfähigkeit romantischer Konzepte an den literarischen Diskurs der Gegenwart. Zugleich evozieren Ton und Verfahren des Textes Erinnerungen an Autoren der klassischen Moderne. Für die Leserin und den Leser kann sichtbar werden, dass Autonomie und Individualität modernster literarischer Kunststücke positive Traditionsbezüge nicht ausschließen. Für die Bewertung der Schülerleistung kann indes die Einsicht in die ästhetisch-historische Position nur das Extra-Plus sein; entscheidend ist das Verständnis der Bewegungsform des Textes. Das erzromantische Reise-Motiv als Flucht vor dem gewöhnlichen Leben unddiefreilich gut getarnte Rhein-Romantik zwischen Boppard und Bacharach bilden den Hintergrund für eine Geschichte von Schönheit und Untergang: Der ferne Gesang, der in Gurgeln und Röcheln übergeht und an dessen Ende der Tod im Wirtshaus zur Goldenen Gerste reiche Ernte hält, zitiert auch den Gesang der Loreley. Als übergreifende textorganisierende Struktur können die Wendungen des Romantisierens, begriffen als Poetisierung, identifiziert werden. Im Kontrast zum ersten Textabschnitt (bis Z. 26), in dem die ja durchaus ambivalente Realität (Schlachthofhallen und Fabriken als Bilder einer todbringenden Industrialisierung_ einerseits, das Funkeln und Leuchten der Flusslandschaft andererseits) schöngemalt und das Grauen nur angedeutet wird („ein kurzes verdunkeltes Gurgeln“, „ein unbedeutendes Plätschern“, „ein kleines verstopftes Röcheln oder nicht einmal das“), formuliert der zweite Textabschnitt (bis Z. 30) mit der kühl-knappen Beschreibung der Unglücksfolgen einen Einspruch, dessen Funktion als Bild offengelegt wird und der seinerseits sofort zurückgezogen wird („Wir streichen jetzt dieses Bild. Wir vergessen es.“), um ab Z. 32 einer erneuten doppelten Romantisierung Platz zu machen. Aus dem Busunglück wird zunächst ein organisch-sanftes Verschlingen (mit erkennbaren erotischen Untertönen) und dann, in einer weiteren Correctio, ein jahrelanges Versinken, in dem die Menschen wie unbeteiligte Zuschauer ihres eigenen Lebens einfach vergehen, folgenlos und fast unbeachtet. Ein Bild für das Leben in der Moderne? (Die Beschreibung des Verschwindens und die Technik des Kleinredens erinnern an den von Wolf hoch verehrten Robert Walser.) Am Endeist, so scheint es, fast „Gar nichts“ geschehen: Während die klassische Romantisierung dem Gewöhnlichen einen bedeutenden Anstrich gibt (Novalis), wird hier das Bedeutende, nämlich das Unglück, durch Ästhetisierung raffiniert der Sensationshaftigkeit und der medial verwertbaren Signifikanz beraubt und in neue Kontexte gestellt, und damit werden auch zugleich die Kernfragen jeder literarisch-ästhetischen Produktion dem Leser vor Augen geführt: Wie ist es um das
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Abitur 2012 Deutsch (Lehrer)                                                           Seite 10 Verhältnis von Worten und Dingen bestellt, wie funktioniert und was bewirkt die literarische Generierung von Bedeutung? Die       Musikalität       der  Sprache    (Alliterationen, Assonanzen,     Rhythmisierungen, Wiederholungen) erzeugt einen Sog und hält den Text im Fluss, und ähnlich wie in vielen Texten von Franz Kafka werden durch Perspektivwechsel und Korrekturen die Bedeutungen aus ihrer Fixierung gelöst, geraten ins Fließen, werden laufend relativiert und neu bestimmt. Auch im kurvenreichen Dahinrollen der Textmäander bleibt am Ende dem, der auf gemütliche Sinnstiftung aus ist, womöglich „Gar nichts“. Die Anforderungen sind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung gut erfüllt, wenn e   zentrale Aussagen und bestimmende sprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmale eines Textes differenziert erfasst sind und umfassend bearbeitet werden die Aussagen präzise und umfassend auf die Aufgabe bezogen sind eine Vielfalt selbstständiger Bezüge und eigenständiger Ansätze erkennbar ist fachspezifische Verfahren und Begriffe sicher angewendet werden die Darstellung in gedanklicher Ordnung und sprachlicher Gestaltung überzeugt komplexe Gedankengänge entfaltet und eigenständige Positionen/Urteile dargestellt werden. Die Anforderungen sind in Bezug auf die Verstehens- und Darstellungsleistung ausreichend erfüllt, wenn e   zentrale Aussagen und bestimmende sprachliche sowie formale, ggf. medienspezifische Merkmale eines Textes in Grundzügen zutreffend erfasst sind die Aussagen insgesamt auf die Aufgabe bezogen sind grundlegende fachspezifische Verfahren und Begriffe angewendet werden die Darstellung verständlich ausgeführt und erkennbar geordnetist. die standardsprachlichen Anforderungen im Ganzenerfüllt sind. Prüfungsteil B Erarbeiten Sie mit Bezug aufbeide Texte Aspekte des Romantischen. Obwohl die Darstellung des Todes eine mögliche Klammer für den Textvergleich bietet, ist ein klassisch nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragender Textvergleich nicht intendiert. Das macht die Aufgabenstellung hinreichend deutlich: Es sollen beide Texte genutzt werden, um Aspekte des Romantischen herauszuarbeiten und zu reflektieren. Während der Text von Ror Wolf spielerisch ästhetische und poetologische Ideen der Romantik, zum Beispiel e   das Reisemotiv, «e  die Flucht vor dem Gewöhnlichen, e die Ästhetisierung des Todes, e   die Techniken der Romantisierung
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