2013-mv-deutsch-aufgaben

Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „[IFG] Abituraufgaben der Fächer Mathe, Deutsch und Physik 2012 - 2017

Diese Anfrage wurde als Teil der Kampagne „Frag sie Abi!“ gestellt.

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Mecklenburg-Vorpommern Zentralabitur 2013 Deutsch Aufgaben
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Abitur 2013 Deutsch                                   Seite 2 (Leerseite typografisch bedingt.)
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Abitur 2013 Deutsch Seite 3 Hinweise für Schülerinnen und Schüler Aufgabenauswahl:         Wählen Sie von den vorliegenden vier Aufgaben- blöcken einen aus und bearbeiten Sie diesen voll- ständig. Bearbeitungszeit:        Für den Prüfungsteil A beträgt die Arbeitszeit 240 Minuten. Für beide Prüfungsteile A und B beträgt die Ar- beitszeit insgesamt 300 Minuten. Die Bearbeitung von A und B erfolgt in einem geschlossenen Aufsatz. Es stehen Ihnen zusätzlich 30 Minuten für das Einlesen und für die Wahl des Aufgabenblockes zur Verfügung. Hilfsmittel:             Sie dürfen ein Nachschlagewerk zur deutschen Rechtschreibung verwenden. Schülerinnen und Schüler, deren Muttersprache nicht die deutsche Spracheist, können als zusätzliches Hilfsmittel ein zweisprachiges Wörterbuch in gedruckter Form verwenden. Näheres regelt die Schule. Hinweis:                 Die den Aufgaben zu Grundeliegenden Texte wurdennicht in jedem Fall der neuen Recht- schreibung angepasst. Sonstiges:               Geben Sie auf der Reinschrift den bearbeiteten Aufgabenblock an und nummerierenSiedie Sei- ten fortlaufend. Für die Bewertunggilt die Reinschrift. Entwürfe können nur dann ergänzend herangezo- gen werden, wenn sie zusammenhängend konzi- piert sind und die Reinschrift etwa drei Viertel des erkennbar angestrebten Gesamtumfangsbe- trägt.
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Abitur 2013 Deutsch                                                                     Seite 4 Aufgabenblöcke im Überblick Block I Frank Weinreich:                   Äxte am Stamm der Moderne - Fantasy und Romantik (Textauszug) A       Analysieren Sie den Textauszug und bewerten Sie seine Gestaltungs- und Wirkungs- weise. B       Erörtern Sie mit Verweis auf Ihnen bekannte Texte ausgewählte Thesen des Autors zum Zusammenhang von Fantasy und Romantik. Block II Georg Büchner:                     Lenz (Textauszug) Brigitte Kronauer:                 Berittener Bogenschütze (Textauszug) - nurfür Teil B! A       Interpretieren Sie den Textauszug aus Georg Büchners »Lenz«. Betrachten Sie die Naturdarstellung dabei auch unter dem Aspekt des Romantischen. B        Vergleichen Sie, wie die Protagonisten der beiden Texte sich selbst und die Welt wahrnehmen und ihr Verhältnis zur Welt bestimmen. Block III Novalis:                           Heinrich von Ofterdingen (Textauszug) Adalbert Stifter:                  Bergkristall (Textauszug) - nurfür Teil B! A       Interpretieren Sie den Textauszug unter dem Aspekt des Romantischen. B        Vergleichen Sie beide Textauszüge anhand ausgewählter Aspekte. Block IV Novalis:                           Hymnenan die Nacht — 2. Hymne Else Lasker-Schüler:               Dämmerung - nurfür Teil B! A       Interpretieren Sie das Gedicht von Novalis. Berücksichtigen Sie dabei Aspekte des Romantischen. B        Vergleichen Sie beide Gedichte anhand ausgewählter Aspekte.
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Abitur 2013 Deutsch                                                                                      Seite 5 Block I Frank Weinreich:                        Äxte am Stamm der Moderne - Fantasy und Romantik (Textauszug) A        Analysieren Sie den Textauszug und bewerten Sie seine Gestaltungs- und Wirkungs- weise. B        Erörtern Sie mit Verweis auf Ihnen bekannte Texte ausgewählte Thesen des Autors zum Zusammenhang von Fantasy und Romantik. Text zu den Prüfungsteilen A und B Frank Weinreich (*1962) Axte am Stamm der Moderne - Fantasy und Romantik (Textauszug) I’m going to make me a good sharp axe, shining steel temperedin the fire, I’I] chop you down like an old deadtree, dirty old town.' (The Pogues’: Dirty Old Town) Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm; so heißt es oft, wenn die Merkmale von Eltern oder Großeltern mit denen ihrer Nachkommenverglichen werden. Und das gilt auch für geistige Nachkommenschaften, etwa für die Fantasyliteratur als »Kind« der Romantik. Neben Themen und Inhalt beiderliterarischer und künstlerischer Strömungen sind es besondersdie eigentli- chen Anliegen von Romantik und Fantasy, die auf die Verwandtschaft hinweisen: beide ver- suchen — zwar auf unterschiedliche Art und Weise, aber mit den gleichen Absichten — mit der Nüchternheit der rationalen Moderne abzurechnen und sich mit Hilfe von gleißendem Stahl 10 daran zu machen, deren Säulen umzuhauen. Nur haben die Autorinnen und Autoren der Fan- tasy gelernt, dass es beim Träumenbleibt.[...] Denn die Romantik war weit mehr als eine Ansammlung kuscheliger Gedichte, die Natur und Liebe feiern! Mit Bezug auf den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, Mitbegründer des deut- schen Idealismus und der wahrscheinlich, bedeutendste Vertreter der an Philosophen sicher 15 nicht armen Romantik, schreibt Safranski”, dass es „um nichts Geringeres als um ein Erwe- ckungserlebnis — durch das Denken« ging. "Und das lässt sich generell von der Romantik als Bewegung sagen: sie wollte aufrütteln und die Augen für das Wesentliche ihrer spirituellen und metaphysischen Anliegen öffnen; sie regte mindestens so sehr zum Denken wie zum Empfinden an. Mit ihren Denkinhalten stellte sie sich gegen den vorherrschenden Fundus der 20 wissenschaftlichen Lehren und stellte im gleichen Denkansatz auch politische und religiöse Überzeugungen in Frage. Die Romantik war zuerst eine Bewegung des Aufbegehrens, eine Bewegung der unbequemen Fragen und Forderungen. Mehr noch als Inspiration war die Romantik Subversion. Das Fragen und Fordern ist in der Fantasy nur stellenweise und meist eher verhalten zu konstatieren[...]. 25 Das Aufbegehren drückt sich auch im Revolutionären in der Romantik aus, wenn sie gegen die nüchterner werdende Welt zu Felde zieht. Die Romantik war nämlich auch eine Antwort auf Kopernikus, Kepler und Galilei, die die Sterne ihres Zaubers beraubt und sie auf mathe- t Übersetzung: »Ich werd’ mir ’ne gute, scharfe Axt machen, gleißender Stahl, im Feuer gehärtet, ich werd’ dich umhauen wie ’nen alten, toten Baum, dreckigealte Stadt«. ? The Pogues:irische Folk-Punk-Band,gegründet 1981 ° Rüdiger Safranski: deutscher Philosoph und Publizist, geboren 1945
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Abitur 2013 Deutsch                                                                                    Seite 6 matisch berechenbare Bahnen geschickt hatten. Sie war eine Antwort auf Newton, der mit dem Prisma das Licht in seine Farben aufgespalten und den Regenbogen damit entwobenhat- 30 te, wie der englische Dichter John Keats ihm vorwirft. Sie war eine Antwort auf Francis Ba- con, der das Goldene Zeitalter der Herrschaft der Wissenschaften heraufbeschworen hatte und damit jegliches »geheimnisvolle Ansehen« auszumerzentrachtete. Auch die Fantasy begehrt noch auf, aber sie weiß, dass sie nur mehr kleine Strohfeuer der Phantastik zu entzünden ver- mag undallenfalls Fluchten auf Zeit zu erlauben imstandeist. Dies aber wirksam! 33 Inwieweit begehrt die Fantasy auf? Wovertritt sie das Revolutionäre? Nun, in so gut wie je- der Faser ihrer Geschichten, auch wenn ihr das fordernde Fragen der Romantik eher fremdist. In den Erzählinhalten aber folgt sie romantischem Gedankengut sehr genau. Von der Roman- tik hoffte Novalis, dass sie es schaffen würde, die »Herrschaft der Zahlen und Figuren«(also des rationalen Denkens und der Wissenschaft) zu brechen, so dass »vor einem geheimen 40 Wort, das ganze verkehrte Wesen« (Novalis) fortfliegen werde. Ob Romantik oder Fantasy, es ist das gleiche spirituelle Befreiungsmotiv (im Unterschied zu dem nachromantisch dann akut werdendenpolitischen Befreiungsmotiv bei Heine, Marx und anderen). Auchdie wissenschaftliche Erkenntnis, deren Primat eines der wichtigsten Kennzeichen der Moderneist, ist Ziel der Auflehnung von Fantasy. Dass beispielsweise der Zauberer Sarıman 45 in Der Herr der Ringe sich im Momentseines Verrates als der »Vielfarbige« erweist, ist kein Zufall, sondern knüpft an den schon erwähnten Dichter Keats und dessen Kritik an Isaac Newton an: Saruman steht hier für Newtons Entdeckung der Lichtbrechung und damit für die wissenschaftliche Erkenntnis, die für einen großen Teil des Unglücks in der Welt verantwort- lich gemacht wurde, ganz in der Tradition Novalis’ und dessen Diktum von der Unzuläng- 50 lichkeit derer, die die Welt nur in »Zahlen und Figuren« zu erkennen vermögen.[...] Ein ähnliches Aufbegehren, diesmal gegen etablierte Machtstrukturen und eine entmenschli- chende Bürokratie und für die persönliche Freiheit und eine umfassende Selbstbestimmung findet sich bei Joanne K. Rowlings Welterfolg Harry Potter. Dies nicht unbedingt in der Per- son des bösen Hauptgegenspielers Voldemort, der geeigneter wohl psychologisch in seiner 55 Oppositionsrolle zu Harry interpretiert werden kann, aber in Figuren wie Lucius Malfoy und Dolores Umbridge, die stellvertretend für die Unterdrückung persönlicher Freiheiten stehen. Den Romantikern waren Probleme wie Umweltzerstörung und der Überwachungsstaat unbe- kannt, aber die Einschränkung von Freiheiten kannten sie zu Genüge. Die Mittel, die sie da- gegen literarisch ins Feld führten, sind die gleichen wie die, die die Fantasy gegen heutige 60 Übelbereitstellt: Mut, Opferbereitschaft, Glauben an ein Gut und die eigene Kraft, etwas be- wirken zu können. Gerade in letzterem zeigt sich eine unserer Realität allzu oft entgegenge- setzte Hoffnung, ist der Wirkungsgrad der meisten Personen doch arg beschränkt. Genau die- se Hoffnung aberist sehr »romantisch«. [...] Dass das so ist, dass die Fantasy nur mehr spielerisch, mit einem Augenzwinkern und ohne 65 echten Glauben an Veränderung, ihre Welten entstehen lässt, hat aber keinesfalls etwas mit einem innerhalb ihrer selbst liegenden Unterschied gegenüber der Romantik zu tun. Nein — Fantasy und Romantik sind Früchte des gleichen Baumes. Der Unterschied liegt an der Welt und ihrer Geschichte, die sich seit dem frühen Neunzehnten Jahrhundert so stark entwickelt hat (ob zum Besseren oder Schlechteren sei dahingestellt), wie es die Denkerinnen und Den- 70 ker der Romantik niemals ahnen konnten. Wir wissen heute so viel mehr als vor zweihundert Jahren — schließlich liegen Darwin, Freud, Einstein und Dawkins’ dazwischen - und haben so viel mehr erlebt - es passierten Industriali- sierung, Weltkriege, totalitäre Herrschaftssysteme, Globalisierung und Säkularisierung -, dass * Richard Dawkins: englischer Evolutionsbiologe, der mit populärwissenschaftlichen Publikationen (»Der Got- teswahn«, 2006) als einer der Begründer des neuen Atheismus: gilt.
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Abitur 2013 Deutsch Seite 7 der Glaube an die Verheißungen des Feenreiches nicht mehr aufrecht erhalten werden ka nn. 75 Aber die Wut über das, was schiefgegangen ist, brennt noch genauso wie die Wut, die die Pogues angesichts der Dirty Old Town - die Heimat, eine weitere Verliererin der Moderne — empfinden. Diese Wut ist immer noch da. Und symbolisch kann Fantasy die Wut befriedige n: »shining steel tempered in the fire« gegen die Auswüchse der Moderne — zumindest zum Träumen. (e2008) Frank Weinreich: Äxte am Stamm der Moderne - Fantasy und Romantik. In: http://www.phan tastik- couch.de/aexte-am-stamm-der-moderne-fantasy-und-romantik.html, letzter Zugriff: 17.01.2013, 14:08 Uhr
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Abitur 2013 Deutsch                                                                       Seite 8 Block II Georg Büchner:                        Lenz (Textauszug) Brigitte Kronauer:                    Berittener Bogenschütze (Textauszug) - nurfür Teil B! A       Interpretieren Sie den Textauszug aus Georg Büchners »Lenz«. Betrachten Sie die Naturdarstellung dabei auch unter dem Aspekt des Romantischen. B        Vergleichen Sie, wie die Protagonisten der beiden Texte sich selbst und die Welt wahrnehmen und ihr Verhältnis zur Welt bestimmen. Text zum Prüfungsteil A Georg Büchner (1813 — 1837) Lenz (Textauszug) Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rie- selte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder 10 halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen set- zen mögen,er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klim- men, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse Alles mit ein Paar Schritten aus- messen können. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den 15 Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallen- de Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Son- nenschein dazwischen durchging und kam undsein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Thäler schnitt; oder wenn der 20  Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß, und dann der Wind ver- hallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Roth hinaufklomm,und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen undalle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten undblitzten, riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts 28  gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehethat; oder er stand still und legte das Haupt in’s Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom,der seine klare Fluth unter ihm 30  zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhober sich nüchtern,fest, ruhig als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen, er wußte von nichts mehr. Gegen Abend kam er auf die Höhe des Gebirgs, auf das Schneefeld, von wo man wieder hinabstieg in die Ebene nach Westen, er setzte sich oben nieder. Es war gegen Abend ruhiger geworden; das Gewölk lag
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Abitur 2013 Deutsch                                                                                            Seite 9 fest und unbeweglich am Himmel, so weit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von denen sich 35 breite Flächen hinabzogen, undalles so still, grau, dämmernd; es wurde ihm entsetzlich ein- sam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu athmen, das Biegen seines Fußes tönte wie ein Donner unter ihm, er mußte sich nieder setzen; es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riß sich auf und flog den Abhang hinunter. Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in Eins. Es 40 war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Men- schen nicht ertragen können,als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm. Bl (e1835/36) Georg Büchner: Lenz.In: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Band 5. Hg. von Burghard Dedner und Hubert Gersch. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2001.
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Abitur 2013 Deutsch                                                                     Seite 12 befragte sie ihn um einige Merkwürdigkeiten, die ihr vorzüglich in die Augenfielen, worunter besonders einige alte, sonderbare Bilder waren, die neben ihrem Sitze auf dem Herde standen, und er war bereitwillig, sie auf eine anmutige Art damit bekannt zu machen. Der Sohn kam 35 bald mit einem Kruge voll frischer Milch zurück und reichte ihr denselben mit ungekünstel- tem und ehrfurchtsvollem Wesen. Nach einigen anziehenden Gesprächen mit den beiden dankte sie auf die lieblichste Weise für die freundliche Bewirtung, bat errötend den Alten um die Erlaubnis, wiederkommenund seine lehrreichen Gespräche über die vielen wunderbaren Sachen genießen zu dürfen, und ritt zurück, ohne ihren Stand verraten zu haben, da sie be- 40 merkte, daß Vater und Sohn sie nicht kannten. Ohnerachtet die Hauptstadt so nahelag, hatten beide, in ihre Forschungenvertieft, das Gewühl der Menschen zu vermeiden gesucht, und es war dem Jüngling nie eine Lust angekommen, den Festen des Hofes beizuwohnen; besonders da er seinen Vater höchstens auf eine Stunde zu verlassen pflegte, um zuweilen im Walde nach Schmetterlingen, Käfern und Pflanzen umherzugehn und die Eingebungen desstillen 45 Naturgeistes durch den Einfluß seiner mannigfaltigen äußeren Lieblichkeiten zu vernehmen. Dem Alten, der Prinzessin und dem Jüngling war die einfache Begebenheit des Tages gleich wichtig. Der Alte hatte leicht den neuen tiefen Eindruck bemerkt, den die Unbekannte auf seinen Sohn machte. Er kannte diesen genug, um zu wissen, daß jeder tiefe Eindruck bei ihm ein lebenslänglicher sein würde. Seine Jugend und die Natur seines Herzens mußten die erste 50 Empfindung dieser Art zur unüberwindlichen Neigung machen. Der Alte hatte langeeine sol- che Begebenheit herannahen sehen. Die hohe Liebenswürdigkeit der Erscheinung flößte ihm unwillkürlich eine innige Teilnahme ein, und sein zuversichtliches Gemüt entfernte alle Be- sorgnisse über die Entwicklung dieses sonderbaren Zufalls. Die Prinzessin hatte sich nie in einem ähnlichen Zustande befunden, wie der war, in welchem sie langsam nach Hauseritt. 2] (e1802) Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin und Weimar (Aufbau-Verlag) 1983.
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