1999-protokoll-nr-406
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Sitzungsprotokolle des Beirats des Bundesministeriums der Finanzen“
1A 7/gerh-Beirat-406 Vertraulich*) Niederschrift 5/99 der 406. Tagung des Wissenschaft lichen Beirats beim Bundesministerium der Fina nzen am 11./12. Juni 1999 in Marburg im uSORAT-Hotel“ A, Teiinehmer —_—_—_—S—See eet
B. Tagesordnung Mitteilungen der Vorsitzenden Feststellung der Tagesordnung HL. Bemerkungen zum Protokoll der letzten Sitzung V. Diskussion Uber aktuelle Probleme Gutachten: ,Freiztigigkeit und Soziale Sicherung in Europa" Freitag, den 11. Juni 1999, Vortrag Vi. Tagesordnung der nachsten Sitzung Vil. Verschiedenes
ll. Verschiedenes Entfailt. il. Bemerkungen zum Protokoll der letzten Sitzung Auf Wunsch des Beirats wird das Schr eiben “ae vom 10. Mai 1999 an ae... Protokoll beigeftigt. Protokoll wird ohne Anderungswiin- sche angenommen. iV. Dis ion ibe elle Probleme Entfailt.
-4- V. Gutachten: ..Freiziigigkeit und Soziale Sicherung in Europa“ (1) Vortrag | Universitat Frankfurt referiert vor dem Hintergrund seiner sechsjahrigen Tatigkeit als liber praktische Erfahrungen bei der Auslegung sozialrechtlicher Fragestellungen. Nach einer kurzen EinfGhrung zu den historischen Ursprungen der Europaischen Union behandelt in dem ersten Teil seines Vortrages grundiegende Fragen des Europarechts, das auf einer Vielzahi von Gebieten zunehmende Bedeutung erfahrt. Dies zeigt sich nicht zuletzt an dem Tatbestand der wachsenden Ausweitung der euro- paischen Gesetzgebung. Schwierigkeiten ergeben sich hierbei z.B. durch die erforderti- che Verzahnung mit dem jeweiligen nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Au@erdem ist das Europarecht nicht volistandig kodifiziert und es findet eine gewisse Rechtsfortbildung durch den Europaischen Gerichtshof statt. In diesem Zusammenhang erfolgt auch der Hinweis auf die derzeit wichtige Phase der europdischen integration, da z.B. mit dem in- krafttreten des Vertrages von Amsterdam eine Ausweitung der Rechte des Europaischen Parliaments verbunden ist. Am Beispiel der EU-Agrarpolitik veranschaulicht zunachst eine seiner An- sicht nach spezifische Form der Sozialpolitik in Europa, bei der die Sicherung von Ein- kommen fur Landwirte im Mittelpunkt steht. Ein groRer Teil der Arbeit des EuGH befaBte sich in der Vergangenheit mit dieser Form der Sozialpolitik. sieht perséniich fur die Zukunft erheblichen Korrekturbedarf fur den Gesetzgeber, da der problematische Ansatz der Einkommenssicherung im Agrarbereich auch in der Agenda 2000 weiterver- folgt wird. Die Konzentration auf wirtschaftliche Vorgange stellt nach Auffassung eine der Schwachstellen der Europdischen Gemeinschaften dar. Die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten innerhalb der EG ist zwar gut vorangekommen; die Thematik der sozialen Sicherung in der EG wurde zu Beginn allerdings lediglich als ein ,Anhangsel" der Freiztigigkeit gesehen. Die groBe Neuerung, die die Europdischen Gemeinschaften im Vergleich zu fraheren europdischen Einigungsvorhaben verkérpern, besteht darin, da& die Gemeinschaft zur Verwirklichung ihrer Ziele sich einzig und allein auf die Macht des Rechts stutzt. Auf-
-§- grund des Vorrangs des Gemeinsc haftsrechts sind alle nationalen Geric hte der Funktion nach gleichzeitig ,europaische Gerichte“. Der Gerichtshof als rech tsprechendes Organ der Gemeinschaft soll verhindern, dat jeder Betroffene das Gemeinschaftsrec ht auf sei- ne Weise auslegt und anwendet. In dem zweiten Teil seines Vortrage s folgen Ausfilhrungen zum koordini erenden So- zialrecht in der EG vor dem Hintergrun d aktueller und wichtiger Entscheidung en des EuGH. In Europa existiert zwar keine Sozia lpolitik im eigentlichen Sinne, die z.B. durch Rechts- angleichung zu einer Harmonisieru ng der Rentenversicherungssyste me fiihrt. Das koor- dinierende Sozialrecht in der EG zielt darauf ab, da® (Wander)Arbeitne hmer soweit wie moglich soziale Errungenschaften auch in Aufnahmelandem erhalten (Adaptionsgedanke) und die erworben en Rechte im Herkunftsland nicht verlo ren gehen (Sicherungsgedanke). ‘weist auf drei EuGH-Urteile hin, die in jungster Zeit zu wichtigen Weic hen- Stellungen im europaischen Soziairech t gefuhrt haben. Hierbei geht es um spezifische Falle des Exports von Kindergeld bzw. Pflegeleistungen sowie um die Kostenerst attung fur im Ausland bezogene Leistungen durch die Krankenversicherung. Dies e Urteile wur- denin der Offentlichkeit u.a. unter dem Stichwort ,Export von Sozialleistunge n" kontro- vers diskutiert und haben dem EuG H - insbesondere von deutscher Seite (BMA, BMG) - den Vorwurf einer unzulassigen Rech tsfortbildung bzw. rechtsschépferischen Tatigkeit eingebracht, = veist darauf hin, da& es sowohl Richterrechtin der EU als auchin den Mitgliedstaaten gibt: Klafft eine Lucke in den Gesetzen, die geschlos sen werden soll, mu& sich ein Gericht auf andere gesetzliche Regeiung en und anerkannte Grundsatze stiltzen. Aus ahnlichen Gese tzen k6nnen Regelungen im Wege der Analo- gie hergeleitet werden. (2) Diskussion Auf die Frage eines Beiratsmitglieds zu dem im Vortrag geschilderten Molen aar-Fall (Qualifizierung von Pflegegeld als Geidieistu ng und Teil der Krankenversicherung) weist . _“‘darauf hin, da® - im Unterschied zum EuGH- Urteil inSachen Kohil/Decker (Kostenuibernahme im Ausiand erbrachter medizinischer Leis tungen)- nicht auf das
-6- Vertragsrecht abgestellt worden ist. Ausgangspunkt flr den EuGH ist die Voriage der nationalen Gerichte. In dem Molenaar-Fall hatte das Sozialgericht Speyer um die Ausle- gung der Verordnung (EWG) 1408/71 gebeten, in der die Unterscheidung von Geld- und Sachleistungen geregelt ist. Entgegen der Sichtweise der Bundesregierung hat der EuGH - unter Hinweis auf ein fruneres Urteil - Pflegegeld nicht als Sachleistung, sondern als Geldieistung im Sinne der Verordnung ber die Soziale Sicherheit der Wanderar- beitnehmer eingestuft. glaubt, da& beide Urteile kiinftig erhebliche Auswir- kungen auf die sozialen Sicherungssysteme - insbesondere das Gesundheitswesen - in Europa haben werden. Ein Beiratsmitglied fragt vor dem Hintergrund des aktuellen Gutachtenthemas nach Einschatzung, auf welchen Feldem kinftig Handlungsbedarf fur den Ge- setzgeber existiert. verweist zunachst auf die seiner Auffassung nach in Deutschland anzu- treffende mangeinde Akzeptanz der vom EuGH getroffenen Entscheidungen. Im Ge- gensatz dazu lasse sich z.B. in GroSbritannien eine wesentlich héhere Akzeptanz fest- stellen. Seiner Auffassung nach sollte der Beirat darauf hinwirken, da@ hier ein Um- denken stattfindet, da der Zusammenhalt der Gemeinschaft letztlich durch das von allen Mitgliedstaaten véikerrechtlich verabschiedete Recht gegeben ist. Das deutsche Recht konne nicht dem europaischen Recht ,aufgezwungen* werden. Ein wesentliches Problemfeld wird nach Auffassung von kunftig die Be- handiung von AngehGrigen aus Drittstaaten darstellen. Das erstreckt sich z.B. auf die Zusammenrechnung von Anrechnungszeiten in der Rentenversicherung. Aktuelle Ent- scheidungen des EuGH liegen an. weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, da& im nationalen und europaischen Kontext eine wachsende Zahl von Ent- scheidungen in ,kleinen Gruppen” getroffen werden. Ein wichtiges Anliegen des Bei- ratsqutachtens k6énnte es sein, die Transparenz fiir Entscheidungsprozesse zu erhd- hen. stellt auch zur Diskussion, ob kUnftig das , Dogma“ des Koordinierungs- gedankens im europaischen Sozialrecht aufrechterhalten werden sollte, oder ob es nicht besser ware, fur bestimmte Zweige der Sozialversicherung ein einheitliches System in Europa zu schaffen (verstarkte Harmonisierung). Eventuell wurden gemeinsame L6- sungen innerhalb der EU Vorteile fur alle bieten.
weist im Hinblick auf diein Deutschland gefunhrte kriti sche Diskussion bestmmier EuGH-Urteile (Leistungsexport von Kindergeld etc.) ; darauf hin, da& die Hal- tung der Bundesregierung abg ewogener gewesen ist, als das in bestimmten Medien zum Ausdruck gekommen ist. Grun dsatzlich haben alle nationalen Regierungen die Méglichkeit, vor dem EuGH Stellung nahmen abzugeben. Vor dem Hint ergrund wichtiger anstehender Faille wurde inne rhalb der Ressorts - nach intensiver Prifung und Diskussi- on- eine abgewogene Stellung nahme der Bundesregierung erarbeitet. Allein ein zu dem damaligen Zeitpunkt anstehender sogenannter ,Kriegsrentenfall" hatt e Belastungen fiir den Bundeshaushalt in H6he von 50 Mrd. DM mit sich gebracht . Erforderlich ist eine ge- naue Betrachtung der speziellen Falle. Auf die Frage nach der Arbeitsw eise des EuGH bzw. nach der Verfahrensdauer weist ‘darauf hin, da& der EuGH Wert darauf legt, Vorabentscheidungen schnell zu treffen (im Durchschnitt 1% Jahre). in diesem Zusammenh ang erfolgt der Hinweis auf eine wesentlich langere Verf ahrensdauer beim BVerfG. Es liegt allerdingsin der Han d der mitgliedstaatlichen Instanzen, ob Rechtssachenin Luxemburg vorgelegt werden, Ein Beiratsmitglied stellt zur Diskussi on, ob der im Vortrag geschilderte Export von Kin- dergeld unter Effizienzgesichtspun kten nicht doch ambivalent zu beurt eilen ist, da hier - unter Beachtung des Subsidia ritatsprinzips - eventuell Aufg aben unndtig auf hdéhere Ebenen verlagert werden. hait den oft zu hérenden Grundten or »Europa kostet uns zuviel" fiir falsch. In dem geschilderten Fall handelt es sich zudem um keinen Export von Leistungen, da in der entsprechenden EG-Veror dnung die Zahlung von Familien! leistungen ohne Ricksicht auf den Wohnort der Familie sorg esenien ist. Allein unter 6konomis chen Gesichtspunk- ten wurde nach Ansicht von die Nichtzahlung von Kindergeid zur Folg e ha- ben, da® der Zuzug von Famillienmitgliedem nach Deutschland geférdert werde, was letztendlich mit wesentlich héheren Kosten verbunden sei. Ein Beiratsmitglied fragt - unter Hinw eis auf die Vieizahl von Urteilen, die in den letzten Jahren zu erheblichen Reaktion en gefiihrt haben, - von weichem Selbstverstandnis sich die Richter am EuGH bei der Rechtsprechung ieiten lassen.
-§- weist darauf hin, da® der Gerichtshof sich nicht als eine Einrichtung ver- steht, die Entwicklungen fur die Zukunft erarbeitet.. sieht die angelsachsi- sche Tradition der strikten Rechtsauslegung und die Gegenposition, ,kreativ Recht zu schaffen", als zwei Eckpunkte einer Skala an. Wenn Lucken in einer Rechtsordnung klaffen, die vom Gesetzgeber nicht gewollt sind, dann wird in der Rechtsordnung der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten nach Vorbildern gesucht. Rechtsfortbildung ist t- somit als normal“ anzusehen. AuBerdem wurden rechtstaatliche Grundsatze im wesen lichen aus dem deutschen Recht Gbernommen; z.B. war das vom EuGH angewandte Prinzip der VerhaltnismaBigkeit in GroRbritannien und Frankreich nicht bekannt. Nach Auffassung ist zudem in Deutschland auf Bund-/Landerebene eine en ,Abwehrhaltung* gegeniber dem Europarecht zu beobachten, die in keinem ander Land Europas in vergleichbarer Form auftritt. (3) Diskussion der Kommissionsvorlage ,Freiztigigkeit und soziale Sicherheit in Europa" Der Beirat diskutiert die Abschnitte I.D. bis. Il.F. der Kommissionsvoriage vom 30. Apri. Aufgrund der voriaufigen Darstellung soll die inhaltliche Diskussion des Abschnitts Il. E. zu einem spateren Zeitpunkt erfolgen. Folgende Ergebnisse konnen aus der Diskussion festgehalten werden: be- 1. Der Beirat sieht es als eine wichtige Aufgabe des Gutachtens an, die Frage zu antworten, welche Eigenschaften ein soziales Sicherungssystem haben mu®, um den Koordinierungsbedarf innerhalb der EU zu reduzieren. Hierbei geht es z.B. um die Frage, inwieweit eine Starkung des Wohnsitzland- oder des Beschaftigungslandprin- zips notwendig ist. rungs sy- 2. Der Beirat diskutiert ausfihrlich die Rolle des Wettbewerbs fiir soziale Siche steme. Bereits jetzt hat die Offnung Europas zur Einfuhrung von Wettbewerhb in einer - Vielzahl von Bereichen gefihrt. Die Vorteile des Wettbewerbs fur soziale Sicherungs systeme sollten deshalb in dem Gutachten systematisch aufgezeigt werden. Ein Bei- ratsmitglied vertritt die Auffassung, dal der Wettbewerbsgedanke fur Sozialpolitik nicht von zentraler Bedeutung ist, da primar distributive Elemente im Vordergrund stehen.
-9- 3. Der Beirat erértert die im Zusammenhang mit reinen Versicherung smarkten entste- henden Probleme der mangeinden Versicherbar keit von Risiken, der adversen Selek- tion und des Moral hazard. im Mittefpunkt der Uberle gungen steht u.a. die theoreti- sche Begrtindung von Selbstbeteiligungs modellen als Antwort auf das Moral hazard Problem. In diesem Zusammenhang wird von einem Beirats mitglied darauf hingewie- sen, daB bei Gesundheitsleistungen ein zentra les Problem darin zu sehen ist, da@ die Zielfunktionen bzw. Praferenzen von Nutzern, Zahlern und Entsch eidern des Ge- sundheitssystems (Patienten, Krankenkasse n und Arzten) auseinanderfallen. Die hieraus resultierenden Probleme sollten auch im Gutach ten berlicksichtigt werden. 4. Bei der Frage, was freier Wettbewerb - z.B. im Rahme n von Versicherungen- leisten kann, weist ein Beiratsmitglied darauf hin, da& die zeitliche Kumulation von Risiken ais eine wesentliche Ursache fiir die Existenz von Versic herungsméarkten zu sehen ist. Es existiert ein Spannungsverhaltnis zwischen dem, was private Versicherungen 2u leisten vermégen - 2.B. im Hinblick auf die Diskus sion um private Arbeitslosenversi- cherungen, - und dem, was staatlicherseits angebo ten werden mu. S. Ein Beiratsmitglied schlagt vor, im Gutachten nur eine bestimmte Form des sozialen Risikos (z.B. Alter und Invaliditat) und die damit zusam menhangenden Probleme zu diskutieren. Die Mehrheit des Beirats ist der Auffas sung, da dies vor dem Hinter- grund der europaischen Dimension der Frages tellung zu einer nicht wunschenswerten thematischen Verengung des Gutachtens fiihren wurde. 6. Bei den Uberlegungen, inwieweit sich die Effizienz von Wanderungen theoretisch darstellen la{&t, wird das im Abschnitt Il. F. darges tellte Konzept der Produktions- und Konsumeffizienz bei Mobilitét der privaten Haushalte sowie die allokationspolitischen SchluRfoigerungen im Hinblick auf inre Relevanz fiir das Untersuchungsthema disku- tiert.
-10- Vi. Tagesordnung der nachsten Sitzung / Verschiedenes e Die nachste Beiratssitzung findet am 9./10. Juli 1999 in Hamburg im ,Landhaus Flottbek* statt. Voraussichtliche Tagesordnung ist: |. Mitteilungen der Vorsitzenden ll. Feststellung der Tagesordnung lil. Bemerkungen zum Protokoll der letzten Sitzung IV. Diskussion Gber aktuelle Probleme V. Gutachten: ,Freiztigigkeit und Soziale Sicherung in Europa* e Gliederung von vom 1. Mai 1999 * Kommissionsvorlage vom 10. April 1999, Kapitel Ill e Freitag. den 9. Juli 1999, ab 9.00 Uhr Vortrag von Europaische Kommission, Brussel: ,Europarechiiche Vorgaben far die Ausgestaltung des deutschen Sozialrechts* VI. Tagesordnung der nachsten Sitzung Vil. Verschiedenes Berlin/Géttingen, den 1. Juli 1999 gez.. gez.