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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Weisungen zu Aufenthaltstgesetz, Asylgesetz und Familiennachzug

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Ministerium für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung | Postfach 71 25 | 24171 Kiel Landrätin und Landräte der Kreise Bürgermeister und Oberbürgermeister der kreisfreien Städte Ausländer- und Zuwanderungsbehörden                                                                     Verfasserin: Sabrina Mustert Ansprechpartnerin: Nessrin Scheppach Landesamt für Zuwanderung und Flücht-                                                             Nessrin.Scheppach@im.landsh.de Telefon: 0431 988-3295 linge                                                                                                    Telefax: 0431 988 614-3295 03.06.2021 Sehr geehrte Damen und Herren, nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben weltweit etwa ein Drittel aller Frauen (35%) bereits körperliche und/oder sexuelle Gewalt – überwiegend durch den 1 Partner oder Ex-Partner – erlebt. Auch im europäischen Durchschnitt haben 33% der Frauen ab dem Alter von 15 Jahren körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt; 22% waren von sexueller und/oder körperlicher Gewalt durch einen Partner oder Ex-Partner betroffen.                                          2 Die Gewaltausmaße gegenüber Frauen in Deutschland liegen dabei in etwa im europäi- schen Durchschnitt. Nach einer repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, die durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegeben wurde, haben 40% der befragten Frauen – unabhängig vom Täter-Opfer-Kontext – körperliche und/oder sexuelle Gewalt seit dem 16. Lebensjahr erlebt. Darüber hinaus war jede vierte Frau (25%) in Deutschland mindestens einmal von körperli- cher und/oder sexueller Gewalt durch einen aktuellen und/oder früheren Beziehungspartner 3 betroffen. Nach der kriminalstatistischen Auswertung „Partnerschaftsgewalt“ des Bundes- kriminalamtes waren von den im Jahr 2019 insgesamt erfassten 141.792 Opfern vollendeter und versuchter Delikte häuslicher Gewalt rund 81,0% Frauen. Dabei wurden die meisten Opfer bei einer vorsätzlichen einfachen Körperverletzung, gefolgt von Bedrohung, Stalking 1World  Health Organization Fact sheet: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/violence-against-women (Stand 01.04.2020) 2https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/frauenbericht/08_Gewalt_ge- gen_Frauen.pdf?__blob=publicationFile 3 https://www.bmfsfj.de/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in- deutschland-data.pdf (Stand März 2013) Dienstgebäude Düsternbrooker Weg 92, 24105 Kiel | Telefon 0431 988-0 | Telefax 0431 988-2833 | Poststelle@im.landsh.de | www.schleswig-holstein.de/innenministerium | Buslinie 41, 42, 51 | E-Mail-Adressen: Kein Zugang für verschlüsselte Dokumente.
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-2- und Nötigung und gefährlicher, schwerer Körperverletzung oder einer solchen mit Todes- folge erfasst. Daneben wurden Opfer von sexuellen Übergriffen, sexueller Nötigung und Vergewaltigung sowie Opfer von Freiheitsberaubung registriert. Zudem sind 117 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt mit tödlichem Ausgang geworden. Statistisch gesehen                    4 wurde damit im Jahr 2019 in etwa alle drei Tage eine Frau durch ihren Partner oder Ex- Partner getötet. Um zu einer umfassenden Bekämpfung jeglicher Form von Gewalt gegenüber Frauen bei- zutragen, beschlossen die Staaten des Europarats am 11. Mai 2011 in Istanbul das „Über- einkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ (sog. „Istanbul-Konvention“). Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrecht- licher Menschenrechtsvertrag und gilt in Deutschland seit dem 01. Februar 2018 im Range eines Bundesgesetzes (BGBl II 2017, S. 1026). Die Istanbul-Konvention verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, ein Schutz- und Unter- stützungssystem für die von Gewalt betroffenen Frauen auf- und auszubauen. Ein besonderes Augenmerk muss in diesem Zusammenhang auch dem Schutz von Frauen mit Flucht- oder Migrationshintergrund gelten, da diese zwar einerseits einem erhöhten Ri- siko von häuslicher Gewalt durch den Partner/die Familie und/oder geschlechtsspezifischer 5 Gewalt ausgesetzt sind, andererseits jedoch asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Beschrän- kungen und damit erschwerten Schutzmöglichkeiten unterliegen können. Es bedarf daher einer Prüfung dahingehend, inwieweit die bestehenden asyl- und aufent- haltsrechtlichen Regelungen zum Gewaltschutz in diesen vulnerablen Lebenssituationen greifen und wie danach Ausländerrecht und Gewaltschutz zum Schutz der betroffenen Frauen besser harmonisiert werden können. Mit dem vorliegenden Leitfaden soll dieser Prüfung zum einen hinsichtlich der Frage nach- gekommen werden, unter welchen allgemeinen Voraussetzungen die gesetzlich vorgege- benen oder behördlich angeordneten räumlichen Beschränkungen und/oder Wohnsitzrege- lungen in Gewaltschutzfällen zu Gunsten der betroffenen Frauen aufgehoben werden kön- nen. Zum anderen erörtert der Leitfaden die Frage, unter welchen Voraussetzungen von Gewalt betroffenen Ehefrauen ein eigenständiges, ehegattenunabhängiges Aufenthalts- recht nach § 31 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erteilt werden kann. In Schleswig-Holstein obliegt die praktische Umsetzung dieser Fälle überwiegend den örtli- chen Ausländer- und Zuwanderungsbehörden sowie dem Landesamt für Zuwanderung und 4https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Partnerschaftsgewalt/Partnerschaftsge- walt_2019.html;jsessionid=3B2FE12B9140ABD2932E4109910B4962.live0612?nn=63476 5 https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/frauenbericht/08_Gewalt_ge- gen_Frauen.pdf?__blob=publicationFile
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-3- Flüchtlinge (LaZuF). Die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigen daher ein vertieftes Verständnis und eine entsprechende Sensibilisierung für dieses Thema, um die von Gewalt betroffenen Frauen bestmöglich schützen und unterstützen zu können. Aus die- sem Anlass haben das Ministerium für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleich- stellung des Landes Schleswig-Holstein in Kooperation mit dem Landesverband Frauenbe- ratung Schleswig-Holstein e.V., dem Frauenhaus Schwarzenbek und dem Zuwanderungs- beauftragten des Landes Schleswig-Holstein den vorliegenden Leitfaden erstellt. Der Leitfaden erläutert dabei einleitend den Gewaltbegriff sowie die Gewaltformen und Ge- waltdynamiken (Punkt A.). Schwerpunktmäßig geht der Leitfaden auf den Gewaltbegriff im Asyl- und im Aufenthaltsgesetz ein, wobei zwischen der Berücksichtigung von häuslicher und/oder geschlechtsspezifischer Gewalt bei räumlichen Beschränkungen und/oder Wohn- sitzregelungen und der Berücksichtigung von häuslicher und/oder geschlechtsspezifischer Gewalt im Hinblick auf den Erhalt eines eigenständigen Aufenthaltsrechts der von Gewalt betroffenen Ehefrau nach § 31 Abs. 2 AufenthG differenziert wird (Punkt B.). Abschließend werden die Anforderungen an die Darlegungs- und Nachweispflicht bzgl. des Vorliegens von Gewalt dargestellt (Punkt C.). Norbert Scharbach Leiter der Abteilung IV 2, Integration und Zuwanderung Ministerium für Inneres, ländliche Räume, Integration und Zuwanderung
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-4- Leitfaden für die Mitarbeitenden in der schleswig-holsteinischen Zuwanderungsverwaltung zu dem Thema: „Die Berücksichtigung von häuslicher und/oder geschlechts- spezifischer Gewalt gegenüber Frauen mit Flucht- oder Migrati- onshintergrund im Rahmen von räumlichen Beschränkungen und Wohnsitzregelungen sowie der Erteilung eines eigenstän- digen, ehegattenunabhängigen Aufenthaltsrechts“
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-5- Inhaltsverzeichnis A.    Gewaltbegriff, Gewaltformen und Gewaltdynamik .............................................................. 6 B.       Der Gewaltbegriff im Asyl- und Aufenthaltsgesetz .......................................................... 9 I. Die Berücksichtigung von häuslicher und/oder geschlechtsspezifischer Gewalt bei räumlichen Beschränkungen und/oder Wohnsitzregelungen .............................................. 10 1.   Fallgruppe der gestatteten Ausländerinnen................................................................ 11 a) Die Aufhebung der Wohnpflicht in einer Erstaufnahmeeinrichtung gemäß §§ 47 Abs. 1, 49 Abs. 2 AsylG in Gewaltschutzfällen ................................................... 11 b) Die Berücksichtigung von Gewaltschutzfällen bei einer landesinternen oder einer länderübergreifenden Verteilung nach § 50 bzw. § 51 AsylG ........................... 13 c) Die Aufhebung der Wohnpflicht in einer Gemeinschaftsunterkunft nach § 53 AsylG in Gewaltschutzfällen..................................................................................... 15 d) Die Aufhebung einer räumlichen Beschränkung nach §§ 56, 58 Abs. 1 Satz 2 AsylG in Gewaltschutzfällen ............................................................................................. 15 2. Fallgruppe der schutzberechtigten Ausländerinnen und der Ausländerinnen, die einen Aufenthaltstitel besitzen oder sich anderweitig rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten .................................................................................................................................. 17 a) Aufhebung der Wohnsitzregelung des § 12a Abs. 1 – 4 AufenthG in Gewaltschutzfällen ............................................................................................................. 17 b) Aufhebung der räumlichen Beschränkung/ Wohnsitzauflage nach § 12 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 AufenthG in Gewaltschutzfällen ....................................................... 18 3. Fallgruppe der vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländerinnen: Aufhebung der räumlichen Beschränkung/ Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1 bzw. Abs. 1d AufenthG in Gewaltschutzfällen ........................................................................................... 20 II. Die Berücksichtigung von häuslicher und/oder geschlechtsspezifischer Gewalt im Hinblick auf den Erhalt eines eigenständigen Aufenthaltsrechts der von Gewalt betroffenen Ehefrau nach § 31 Abs. 2 AufenthG................................................................... 21 C.       Anforderungen an die Darlegungs- und Nachweispflicht von Gewaltfällen............... 23
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-6- A. Gewaltbegriff, Gewaltformen und Gewaltdynamik In ihrem im Jahr 2002 herausgegebenen „Weltbericht Gewalt und Gesundheit“ beschreibt die WHO Gewalt „als ein äußerst diffuses und komplexes Phänomen, das sich einer exakten wissenschaftlichen Definition entzieht und dessen Definition eher dem Urteil des Einzelnen überlassen bleibt. Die Vorstellung von akzeptablen und nicht akzeptablen Verhaltensweisen und die Grenzen dessen, was als Gefährdung empfunden wird, unterliegen kulturellen Ein- flüssen und sind fließend, da sich Wertvorstellungen und gesellschaftliche Normen ständig wandeln.“ Auch wenn sich Gewalt danach auf die unterschiedlichste Weise definieren lässt, bezeichnet die WHO Gewalt auf allgemeiner Ebene als „absichtliche(n) Gebrauch von an- gedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die ei- gene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder kon- kret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehl- entwicklung oder Deprivation führt.“ Die Definition umfasst damit die unterschiedlichsten Handlungen, d.h. sie reicht über das konkrete physische Handeln hinaus und bezieht auch Drohungen und Einschüchterungen sowie die oftmals weniger offensichtlichen Folgen ge- walttätigen Verhaltens, wie z. B. psychische Schäden, Deprivation und Fehlentwicklungen der Betroffenen in die inhaltliche Reichweite des Begriffs ein.                          6 Konkret in Bezug auf Gewalt gegen Frauen legt auch die Istanbul-Konvention in ihrem Arti- kel 3 ein umfassendes Verständnis von Gewalt zugrunde und differenziert gezielt zwischen den verschiedenen Begriffsbestimmungen. Dort heißt es: „Im Sinne dieses Übereinkommens a wird der Begriff „Gewalt gegen Frauen“ als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau verstanden und bezeichnet alle Handlungen ge- schlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirt- schaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließ- lich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Frei- heitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben; b bezeichnet der Begriff „häusliche Gewalt“ alle Handlungen körperlicher, sexueller, psy- chischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte; 6 https://www.who.int/violence_injury_prevention/violence/world_report/en/summary_ge.pdf
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-7- c bezeichnet der Begriff „Geschlecht“ die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltens- weisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Män- ner angemessen ansieht; d bezeichnet der Begriff „geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“ Gewalt, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft; e bezeichnet der Begriff „Opfer“ eine natürliche Person, die Gegenstand des unter den Buchstaben a und b beschriebenen Verhaltens ist; f umfasst der Begriff „Frauen“ auch Mädchen unter achtzehn Jahren.“ Dabei zeigt sich Gewalt gegen Frauen in Form von körperlicher und sexueller Gewalt, aber auch in Form von sexueller Belästigung, psychischer und ökonomischer Gewalt sowie Stal- king, welche häufig durch Partner oder Ex-Partner im Kontext mit häuslicher Gewalt verübt werden. Zudem wird eine Zunahme von Fällen digitaler Gewalt beobachtet. Die Täter - ins- besondere auch Partner oder Ex-Partner - nutzen digitale Medien, um Frauen bzw. die Part- nerin oder Ex-Partnerin herabzusetzen, zu kontrollieren, zu bedrohen, oder zu erpressen. Alle Formen und Muster von Gewalt gehen dabei mit erhöhten gesundheitlichen Belastun- gen für die Frauen einher. Die nachfolgende Graphik zeigt die verschiedenen Formen von Gewalt auf und verdeutlicht die Zusammenhänge in einem gewalttätigen System, in dessen Zentrum immer der Gewinn von Macht und Kontrolle über andere steht. FORMEN DER GEWALT                                                            12 SOZIALE GEWALT                                         DIGITALE GEWALT Ihre Kontakte überwachen oder verbieten, sie von anderen      Diffamierung, Nachstellung , Bedrohung, isolieren, Kontrolle der Telefongespräche…              Überwachung, Identitätsmissbrauch, Sie im sozialen Umfeld herabwürdigen, die Kinder als      Weiterleiten und veröffentlichen von privaten Druckmittel benutzen, sie am Arbeitsplatz terrorisieren…               Fotos und Nachrichten PHYSISCHE GEWALT                                                                PSYCHISCHE GEWALT Stoßen, schlagen, treten, würgen,                                                   Einschüchtern, beleidigen, fesseln, verbrennen, verbrühen, mit                                                   drohen, sie für verrückt Dingen oder Waffen verletzen oder                                                   erklären, sie demütigen und bedrohen…                                  MACHT UND                          erniedrigen ... KONTROLLE SEXUALISIERTE GEWALT                                                               ÖKONOMISCHE GEWALT Vergewaltigung, sie zu sexuellen                                                       Verbot oder Zwang zu Handlungen nötigen, als Sexobjekt                                                 arbeiten, verweigern oder zuteilen behandeln, Zwang zum Ansehen                                                          von Geld, ihre Ausgaben von Pornos ...                                                                    kontrollieren ... Quelle: in Anlehnung an das Modell Domestic Abuse Intervention Projekt (DAIP) 1983
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-8- Auch die nachfolgende Grafik verdeutlicht, dass insbesondere häusliche Gewalt – im Ge- gensatz zu Streit, Konflikt oder Auseinandersetzung – in der Regel auf Kontrolle und Macht- ausübung in der Partnerschaft basiert. Diese Form von Paargewalt ist zudem in der Regel mit frauenfeindlichen Einstellungen der Täter verknüpft. 3.8. Unterschied Streit-Gewalt Streit                    Gewalt                                                     Beziehung                   Beziehung einseitig gleichberechtigt           eine Person hat  Kompromissbereit-            mehr Macht und übt schaft                      Kontrolle aus Die Gewalt, die gezielt der Ausübung von Macht und Kontrolle dient, weist bestimmte Dy- namiken und Phasen auf - insbesondere in einer von Gewalt geprägten Beziehung. So tre- ten die unterschiedlichen Formen von Gewalt überwiegend in Kombination und mit unter- schiedlichen Schweregraden auf. Gerade bei Gewalt in Paarbeziehungen verdichten sich die Gewaltformen oftmals zu Mustern, die von einmaligen leichteren körperlichen Übergrif- fen (Ohrfeigen, wütendes Wegschubsen) über erhöhte psychische Gewalt und mäßiger kör- perlicher Gewalt (Tritte, Schläge mit Fäusten) bis hin zu schwerer Misshandlung (Würgen, Waffengewalt, schwere sexuelle Gewalt) reichen. Des Weiteren folgen Phasen der akuten Gewalt und Gefährdung der Betroffenen auf Pha- sen der Versöhnung und des Aufeinanderzugehens von Tätern und Betroffenen. Im Laufe der Zeit steigert sich die Intensität der Gewaltdynamik. Die Gewalt wird stärker und öfter ausgeübt. Viele Frauen möchten ihre Beziehung retten und hoffen, dass der gewalttätige Partner sich ändert. Sie haben Angst vor einer Eskalation im Falle einer Trennung. In der Phase der Trennung besteht für die von betroffenen Frauen und deren Kinder eine erhöhte Gefahr verletzt oder sogar getötet zu werden.
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-9- Der Gewaltkreislauf nach Eleo- nore Walker (1984) beschreibt ein wiederkehrendes Muster in Phasen. Die von häuslicher und/oder geschlechtsspezifischer Gewalt betroffenen Frauen geraten dadurch häufig in eine prekäre Lage. Die Unterstützung dieser Frauen stellt eine große Her- ausforderung dar und erfordert eine hohe Professionalität und Sensibilität von den Fach- kräften. B. Der Gewaltbegriff im Asyl- und Aufenthaltsgesetz Im Asyl- und im Aufenthaltsgesetz wird in mehreren Normen Gewalt - insbesondere auch in Form von häuslicher sowie geschlechtsspezifischer Gewalt - direkt oder indirekt und mit unterschiedlichen rechtlichen Folgen thematisiert. Der vorliegende Leitfaden betrachtet zum einen relevante Vorschriften im Asyl- und im Auf- enthaltsgesetz, die gesetzlich vorgegebene und/oder behördlich angeordnete räumliche Be- schränkungen und/oder Wohnsitzregelungen vorsehen und erläutert, unter welchen Vo- raussetzungen von diesen Bestimmungen bzw. Beschränkungen in Gewaltschutzfällen ab- gesehen werden kann. Zum anderen geht der Leitfaden auf das Recht auf ein eigenständi- ges, ehegattenunabhängiges Aufenthaltsrecht der von häuslicher Gewalt betroffenen Ehe- frau nach § 31 Abs. 2 AufenthG ein. In den insoweit einschlägigen Normen lässt sich (häusliche/geschlechtsspezifische) Gewalt unter eine Vielzahl verschiedener Rechtsbegriffe fassen. Zu diesen Begriffen gehören ins- besondere „Gründe der öffentlichen Gesundheitsvorsorge,“ „andere zwingende Gründe“ (vgl. § 49 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG)), „Belange des Ausländers“ (vgl. § 53 Abs. 1 AsylG), „die Belange schutzwürdiger Personen“ (vgl. § 7 Abs. 3 Ausländer- und Auf- nahmeverordnung (AuslAufnVO), „sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht“ (vgl. § 51 AsylG; § 61 Abs. 1d AufenthG), „zwingende Gründe“ (vgl. § 57 Abs. 1 AsylG; § 58 Abs. 1 AsylG); „unbillige Härte“ (§ 58 Abs. 1 AsylG); „Härte“ (vgl. § 12a AufenthG) sowie „besondere Härte“ (§ 31 Abs. 2 AufenthG).
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- 10 - Andere Normen im Aufenthaltsrecht, die Gewalt oder Androhung von Gewalt thematisieren und auch für und in Paarbeziehungen ausländerrechtlich relevant sein können, wie z. B. § 25 Abs. 4a AufenthG (Opfer von Zwangsprostitution, Zwangsarbeit, Ausbeutung und Aus- beutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung), § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG (Nöti- gung zur Eingehung einer Ehe) oder § 37 Abs. 2a AufenthG (Recht auf Wiederkehr bei Nötigung zur Eingehung einer Ehe und Abhalten von der Rückkehr nach Deutschland), sind nicht Gegenstand dieses Leitfadens. I. Die Berücksichtigung von häuslicher und/oder geschlechtsspezifischer Ge- walt bei räumlichen Beschränkungen und/oder Wohnsitzregelungen Wenn von Gewalt betroffene Ausländerinnen in einer Schutzeinrichtung wie z.B. einem Frauenhaus oder auch ohne die Inanspruchnahme einer Schutzeinrichtung entfernt von ge- walttätigen Familienangehörigen oder anderen Personen untergebracht werden möchten bzw. müssen, dann besteht oftmals die Herausforderung, dass diese Ausländerinnen - ab- hängig von ihrem Status als gestattet, schutzberechtigt oder vollziehbar ausreisepflichtig - einer gesetzlich normierten oder behördlich angeordneten räumlichen Beschränkung und/o- der Wohnsitzregelungen unterliegen. Die von Gewalt betroffenen Frauen können dabei in der Regel nicht in einem Frauenhaus in dem Kreis/der kreisfreien Stadt untergebracht werden, in dem/der die Gewalterfahrung erfolgt ist und weiterhin eine Bedrohungslage besteht. Aus Schutzgründen ist es in den meisten Fällen daher sinnvoll, dass die bedrohten Frauen in einem anderen Kreis, einer anderen kreisfreien Stadt oder - soweit erforderlich - auch in einem anderen Bundesland untergebracht werden. Um diesen Ausländerinnen schnellen und effektiven Schutz gewäh- ren zu können, ist von den zuständigen Ausländer- bzw. Zuwanderungsbehörden stets pri- oritär zu prüfen, ob und wie die Frauen von dem Ort, an dem die Gewalterfahrung erfolgt ist und an dem gegebenenfalls weiterhin eine Bedrohungslage besteht, fort- und an einen an- deren, sicheren Ort gebracht werden können. Im Rahmen der Zuweisung auf die Kreise und kreisfreien Städte oder auf die amtsfreien Gemeinden und Ämter soll zudem den beantragten oder artikulierten Wünschen der be- troffenen Frau entsprochen werden. In diesem Zusammenhang sind auch Stellungnahmen von Fachberatungsstellen oder den Betreuungsdiensten in den Landesunterkünften, die grundsätzlich im Einvernehmen mit den betreffenden Frauen erstellt und in denen Wünsche für die Verteilung ausgesprochen werden, zu berücksichtigen. Zusätzlich sollte geprüft wer- den, ob an dem entsprechenden Ort Frauenberatungsstellen und spezielle Schutzeinrich- tungen wie ein Frauenhaus vorhanden sind.
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